
Europapolitik der SED (1975)
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Von einer „sozialistischen E.“ wird in der DDR erst seit 1973 gesprochen. Dies deutet darauf hin, daß die SED seit der internationalen Anerkennung der DDR als Folge der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages mit der Bundesrepublik Deutschland offenbar ihre „europäische Rolle“ neu zu definieren beabsichtigt. Bis zu diesem Zeitpunkt umfaßte ihre E. in erster Linie zwei außenpolitische Aktionsfelder, die funktional in engem Zusammenhang standen:
1. Das Konzept der UdSSR für ein „kollektives Sicherheitssystem“ in Europa (erstmalig 1954 formuliert) und ihre Vorschläge für die Einberufung einer europäischen Sicherheitskonferenz wurden von der SED-Führung vorbehaltlos unterstützt.
Auf den Konferenzen vor allem in
Bukarest (4.–6. 7. 1966, Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses [PBA] der Mitgliederstaaten des Warschauer Vertrages)
Karlovy Vary (24.–26. 4. 1967, Konferenz der Kommunistischen und Arbeiterparteien Europas zu Fragen der europäischen Sicherheit)
Budapest (17. 3. 1969, Tagung des PBA des Warschauer Vertrages)
Prag (30.–31. 10. 1969, Konferenz der Außenminister der Warschauer Vertragsstaaten)
Budapest (21.–22. 6. 1970, ebenfalls Außenministerkonferenz)
haben die Vertreter der DDR wiederholt deutlich gemacht, daß es der SED vor allem darum ging, im Rahmen der Propaganda für eine europäische Sicherheitskonferenz, die Bundesrepublik Deutschland als „Hauptstörenfried“ einer Entspannung in Europa darzustellen. Damit erklärt sich die damalige Haltung der DDR in Fragen eines Sicherheitssystems in Europa vor allem mit deren Funktion im Rahmen der Deutschlandpolitik der SED.
2. Die Bundesrepublik Deutschland war der einzige Staat, der ausdrücklich den politischen und territorialen Status quo in Europa politisch in Frage stellte und damit von der SED als unmittelbare Gefahr für ihr Herrschaftssystem angesehen wurde. „Entlarvung der Aggressivität des westdeutschen Imperialismus“ bedeutete damit einerseits Ablehnung und Kampfansage gegenüber den deutschlandpolitischen Vorstellungen der Bundesrepublik. Andererseits ließ sich damit ständig auf die Notwendigkeit eines kollektiven Sicherheitssystems angesichts eines als potentieller Angreifer bezeichneten NATO-Staates, der Bundesrepublik Deutschland, hinweisen.
Aus diesem strategischen Kontext bezogen alle in den 50er und 60er Jahren an die Bundesrepublik Deutschland gerichteten Forderungen der SED ihre Berechtigung:
völkerrechtliche Anerkennung der DDR;
völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und der innerdeutschen Grenze;
Anerkennung der Ungültigkeit des Münchner Abkommens („ex tunc“);
Verzicht der Bundesrepublik Deutschland auf Zugang zu Atomwaffen;
Auflösung aller ausländischen Militärstützpunkte in beiden deutschen Staaten;
Reduzierung der „Rüstungsetats“ beider deutscher Staaten;
Anerkennung von Berlin (West) als „besondere politische Einheit“ etc.
Mit dem Abschluß der Gewaltverzichtsverträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR sowie der VR Polen, der Unterzeichnung des Viermächte-Abkommens über Berlin 1971, der Aufnahme beider deutscher Staaten in die UN 1973, dem Beginn der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE 1973) und den Wiener Verhandlungen über einen ausgewogenen gegenseitigen Truppenabbau in Europa 1973 (unter Beteiligung beider deutscher Staaten) wurden die bis dahin geäußerten Begründungen für die E. der SED verändert. Die Bundesrepublik ließ sich nun nicht mehr zum „Hauptaggressor“ in Europa abstempeln, da sie die DDR als gleichberechtigten Staat anerkannt hatte. Damit war eine defensive Phase der E. der SED abgeschlossen. Die Konturen einer neuen, eher offensiven E. der DDR erscheinen noch wenig deutlich; einige Widersprüche sind in der Anlaufphase nicht zu übersehen:
Trotz einer verstärkten „sozialistischen Integration“ in [S. 267]den von der UdSSR geführten Block sucht die SED ein neues Verhältnis zu den westeuropäischen Industriestaaten und damit auch einen neuen Standort gegenüber den westeuropäischen Einigungsbestrebungen im Rahmen der EWG.
Die politische Realität der EWG — in der Propaganda als untauglicher Versuch des „Monopolkapitals“ zur Überwindung seiner inneren Widersprüche bezeichnet — wird seit 1973 auch von der DDR nicht mehr geleugnet. Sie kritisiert zwar das darin zum Ausdruck kommende Anwachsen des politisch-wirtschaftlich-militärischen Potentials Westeuropas, begrüßt aber andererseits diese Entwicklung insofern, als es tendenziell auf einen Rückzug der USA aus Europa hindeuten könnte.
Will die SED vor allem wirtschaftlich und technologisch den Anschluß an das Niveau hochindustrialisierter Staaten halten bzw. gewinnen, wird sie ihren Widerstand gegen vertrauenschaffende Maßnahmen und die Errichtung neuer Strukturen einer die Blöcke übergreifenden europäischen Zusammenarbeit aufgeben müssen. Dies erfordert möglichst „normale“ staatliche Beziehungen zu den europäischen Ländern. Jedoch sind hier Störungen unvermeidlich, wenn die SED in ihrer Außenpolitik den im Prinzip der Friedlichen Koexistenz ebenfalls enthaltenen andauernden ideologischen Klassenkampf nicht modifiziert, bzw. wenn sie ihre aus dem Prinzip des proletarischen ➝Internationalismus erwachsenen Verpflichtungen zur brüderlichen Hilfe gegenüber den kommunistischen Parteien Westeuropas über propagandistische Unterstützung hinaus erfüllen würde.
Ferner können sich zwischen den europapolitischen Interessen der Hegemonialmacht UdSSR, die die Interessen der gesamten sozialistischen Staatengemeinschaft definiert, und denen der regionalen Mittelmacht DDR, die letztlich aus wirtschaftlichen Gründen an einer europäischen Zusammenarbeit stärker interessiert sein muß, Konflikte ergeben, die die E. der SED zu Kompromissen zwingen dürfte. Außenpolitik; Deutschlandpolitik der SED.
Fundstelle: DDR Handbuch. Köln 1975: S. 266–267
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