DDR von A-Z, Band 1975

Familie (1975)

 

 

Siehe auch:

 

I. Offizielles Leitbild

 

 

Das 1965 verabschiedete Familiengesetzbuch (FGB) soll laut Präambel allen Bürgern helfen, „ihr Familienleben bewußt zu gestalten“ (Familienrecht). Rechtliche Regelungen und Postulate zielen auf einen F.-Typ, für den individuelle und gesellschaftliche Interessen zusammenfallen sollen. Als Voraussetzungen sind die „sozialistische Entwicklung“ in der DDR und die daraus resultierende „gleichberechtigte Stellung der Frau auf allen Gebieten des Lebens“ vorgegeben. Darauf aufbauend entwickelt das FGB ein Leitbild, das in Definition und Wertung sowohl der Ehe als auch der elterlichen Erziehung über alle früheren offiziellen Aussagen zu dieser Thematik hinausgeht und die dem Recht zugewiesene Disziplinierungsfunktion deutlich macht. In einer „auf gegenseitiger Liebe, Achtung und Treue, auf Verständnis und Vertrauen und uneigennütziger Hilfe füreinander“ beruhenden Gemeinschaft sollen die Ehegatten ihre Beziehungen zueinander so gestalten, „daß beide das Recht auf Entfaltung ihrer Fähigkeiten zum eigenen und gesellschaftlichen Nutzen voll wahrnehmen können“. Die Möglichkeit einer funktionalen Aufgabenteilung — im Sinne der Beschränkung eines Partners auf häusliche Pflichten — wird zwar vom Gesetz nicht ausgeschlossen, gilt aber als unerwünschte Übergangserscheinung. Prinzipiell geht man davon aus, daß beide Ehepartner berufstätig und darüber hinaus gesellschaftlich bzw. politisch aktiv sind. Ihre Kinder sollen sie „in vertrauensvollem Zusammenwirken mit staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen zu gesunden und lebensfrohen, tüchtigen und allseitig [S. 270]gebildeten Menschen, zu Erbauern des Sozialismus“ erziehen (Elternhaus und Schule). Die F. wird als „Grundkollektiv“ verstanden, dessen organische Verbindung mit anderen Kollektiven (im Haus, in der Schule, am Arbeitsplatz, im öffentlichen Leben) einen „Gleichklang von gesellschaftlichen Erfordernissen und grundlegenden persönlichen Interessen“ schafft.

 

II. Entwicklung bis 1966

 

 

Ausgesprochen familienfeindliche Tendenzen hat es in der DDR niemals gegeben. Dagegen könnte man — vor allem bis zum Ende der 50er Jahre — von einer gewissen „Vernachlässigung“ der F. sprechen. Da sie im Gegensatz zu anderen Institutionen einer Kontrolle durch die SED kaum zugänglich war, galt sie als retardierendes, zumindest aber unsicheres Moment im Prozeß der „sozialistischen Bewußtseinsbildung“. Die Ausrichtung auf ein neues F.-Modell vollzog sich in diesen Jahren eher indirekt, hauptsächlich durch Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland. Dort stand gerade dieser Zeitraum im Zeichen der „Mutterideologie“. Herrschende Lehre und Rechtspraxis der DDR waren damals in erster Linie von der rigorosen Ablehnung des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) bestimmt. So stand bald fest, was man nicht wollte (z. B. Funktionsteilung in der Ehe, Unterhaltsanspruch nach einer Scheidung), während die Entwicklung eines sozialistischen F.-Verständnisses zumeist über wenig präzise Ansätze nicht hinauskam. Zwar wurde bereits 1954 ein erster Entwurf für ein Familiengesetzbuch vorgelegt; er trat jedoch nie in Kraft. Die damalige Justizministerin Hilde Benjamin begründete sein Scheitern mit der noch nicht voll verwirklichten Sozialisierung der Wirtschaft und dadurch bedingten Hemmnissen bei der Durchsetzung des Gleichberechtigungsprinzips.

 

In der marxistisch-leninistischen Gesellschaftstheorie gilt die Erwerbsarbeit der Frau als wesentliche Grundlage für ihre Gleichberechtigung und „eine höhere Form der Familie und des Verhältnisses beider Geschlechter“. Von daher schien es geboten, die Integration der weiblichen Bevölkerung in den Arbeitsprozeß zunächst zu einem vorläufigen Abschluß zu bringen und erst dann ein neues F.-Leitbild zu entwerfen. Folgerichtig trat vor dem FGB eine Fülle von Gesetzen und Verordnungen in Kraft, die auf die berufliche Gleichstellung der Frauen abzielten. Sie waren von ideologischen „Aufklärungsaktionen“ begleitet. Neben dem Recht der Frau auf volle Entfaltung ihrer Fähigkeiten und Talente wurde zunehmend auch die positive Auswirkung ihrer Berufsarbeit auf die innerfamiliären Beziehungen einerseits sowie auf das Verhältnis zwischen F. und Gesellschaft andererseits propagiert. Walter Ulbricht betonte vor dem V. Parteitag der SED 1958, daß sich die Umerziehung der Menschen zur bewußten Beachtung und Anerkennung sozialistischer Verhaltensweisen am klarsten und eindeutigsten im Arbeitskollektiv vollziehe und somit die Arbeitsmoral auch die wichtigste Quelle der F.-Moral sei (Kollektiv).

 

1963 verkündete die SED auf ihrem VI. Parteitag den „Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse“ und beschloß auf dieser Grundlage den Ausbau und die Vervollkommnung der juristischen Normen für das „gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen“. Die mit der Ausarbeitung eines FGB beauftragte Kommission war sich der Schwierigkeiten bewußt, die in dem Mangel an fundierten familiensoziologischen Erkenntnissen gründeten. Die wenigen vorliegenden Daten gaben Grund zu der Annahme, daß für ein Großteil aller F. noch immer das tradierte „patriarchalische“ Leitbild maßgebend war. Diese Haltung versuchte man in einer großangelegten Propagandaaktion zu korrigieren. Der im April 1965 vorgelegte neue Entwurf eines FGB war in den folgenden Monaten Gegenstand einer Fülle von erläuternden Darstellungen und Kommentaren in den Massenmedien sowie Anlaß für über 30.000 Veranstaltungen, deren Teilnehmer fast 24.000 Stellungnahmen zu dem Gesetz abgaben. Nichtsdestoweniger hielt man gewisse Zugeständnisse an überlieferte Verhaltensmuster für angezeigt. Im ersten FGB-Kommentar des Justizministeriums (1966) wurde die Beschränkung auf Hausarbeit und Kindererziehung „als Form der Beteiligung am Familienaufwand“ ausdrücklich „gesellschaftlich“ anerkannt. Die dem zugrunde liegende Norm des FGB ist zwar weiterhin geltendes Recht, doch wäre eine so offizielle Billigung der „Hausfrauenehe“ heute in der DDR unvorstellbar. Vermutlich zielte sie auf eine breite Identifizierungsbereitschaft ab, um auf dieser Basis eine allgemeine Bewußtseinsänderung in Richtung des Modells einzuleiten. Diese Taktik wurde allerdings schon bald wieder aufgegeben. An ihre Stelle trat die totale Anpassung der „sozialistischen Familienmoral“ an gesellschaftspolitische Leitlinien. Die Propaganda konzentrierte sich zunehmend auf bestimmte Schwerpunkte. Dabei wurden und werden die in erster Linie gesellschaftsbezogenen Forderungen an den einzelnen weitaus kategorischer eingeklagt als diejenigen Regelungen des FGB, die primär den innerfamiliären Raum betreffen. Mit anderen Worten: Ob Mann und Frau zu Hause Gleichberechtigung praktizieren, ist so lange von untergeordneter Bedeutung, wie beide nach außen hin „funktionieren“. Während der Appell zur häuslichen Arbeitsteilung mehr und mehr zur verbalen Pflichtübung wurde, sehen sich die Frauen in der DDR immer drängender formulierten Ansprüchen gegenüber, ohne daß die Grenzen der individuellen Belastbarkeit die erforderliche Beachtung finden. Das rührt z. T. auch daher, daß ein wesentlicher ursprünglicher Bestandteil des sozialistischen Emanzi[S. 271]pationsmodells bisher weder in der DDR noch in einem anderen Land des Ostblocks gegeben ist. Die Klassiker des Marxismus-Leninismus waren davon ausgegangen, daß die Einbeziehung der Frauen in den Produktionsprozeß parallel zu ihrer weitgehenden Entlastung von häuslichen Pflichten verlaufen würde. Die Hausarbeit sollte industrialisiert, die Kindererziehung „vergemeinschaftet“ werden. Die damit intendierte Auflösung der Klein-F. ist jedoch weder vollzogen noch gegenwärtig beabsichtigt. Statt dessen gilt der Grundsatz, es müsse den Frauen ermöglicht bzw. erleichtert werden, familiale, berufliche und gesellschaftliche Pflichten miteinander in Einklang zu bringen. Doch selbst bei optimaler öffentlicher Hilfe — durch vermehrte Einrichtung von Kinderkrippen, Kindergärten und Schulhorten (Einheitliches sozialistisches Bildungssystem) und Dienstleistungsbetrieben — werden durch diesen Anspruch unter den gegebenen Umständen viele Frauen ständig überfordert. Die behauptete Übereinstimmung von Gleichberechtigung und -Verpflichtung trifft nur bei Ledigen oder allenfalls noch bei kinderlosen Ehepaaren zu. Erwerbstätige Mütter dagegen sind im Normalfall erheblich stärker belastet als Familienväter, weil sie — einer Erhebung von 1970 zufolge — ca. 80 v. H. aller häuslichen Arbeiten allein verrichten.

 

III. „Widersprüche“ zwischen familienpolitischer Zielsetzung und individuellem Verhalten

 

 

Neue Publikationen zur F.-Entwicklung in der DDR heben übereinstimmend drei „Widersprüche“ zwischen „gesamtgesellschaftlichem Interesse“ und realem Verhalten hervor, die es zu überwinden gelte:

 

1. Die hohe Zahl von Ehescheidungen;

 

2. die weitverbreitete Teilzeitarbeit verheirateter Frauen;

 

3. die niedrige Geburtenrate (Bevölkerung).

 

Die kontinuierlich steigenden Scheidungsziffern ließen die „Eheerhaltung“ zu einer vieldiskutierten Forderung werden, der sowohl die Ehe- und F.-Beratungsstellen als auch die Gerichte unterliegen. Sollen die einen verhindern, daß es überhaupt zur Klage kommt, so haben die anderen die gesamte Prozeßführung auf das „Ziel einer hohen erzieherischen Einflußnahme“ auszurichten (Familienrecht). Wenn eine Rücknahme der Klage nicht erreicht werden kann und die Abweisung oder Aussetzung des Verfahrens ebenfalls nicht geboten erscheint, sind die Richter gehalten, zumindest die Urteilsbegründung eindeutig an der „sozialistischen Familienmoral“ auszurichten.

 

Für die beiden letztgenannten Widersprüche lassen sich in doppelter Hinsicht gemeinsame Bezugspunkte finden:

 

1. Sowohl die Teilzeitbeschäftigung als auch der Verzicht auf mehrere Kinder kann Ausdruck dafür sein, daß familiale. und berufliche Anforderungen anders nicht zu vereinbaren sind.

 

2. Beide Erscheinungen stehen mit dem Mangel an Arbeitskräften in einem direkten Zusammenhang. Einmal stellen bei einer weiblichen Beschäftigungsquote von 84,5 v. H. (1974) die verkürzt tätigen Frauen 1974: ca. 35 v. H.) faktisch die letzte nennenswerte Reserve am Arbeitsmarkt. Zum anderen wird eine fortdauernde Disproportion in der Altersstruktur und dementsprechend in der Relation zwischen erwerbs- und nichterwerbsfähiger Bevölkerung durch die sinkende Geburtenrate bereits vorprogrammiert.

 

Die starke Zunahme der Teilzeitarbeit wie der rapide Rückgang der Geburten traten erst nach der Verabschiedung des FGB ein. Die dort formulierte Zielvorstellung wurde der neuen Entwicklung zufolge inzwischen konkretisiert; dies geht z. B. aus dem 1972 erschienenen Lehrbuch des Familienrechts hervor: „Worauf es ankommt, ist, daß die Frau den wachsenden Erwartungen und Anforderungen beider Lebensbereiche gemäß ihr Leben gestalten kann, daß sie nicht in dem einen Bereich (z. B. durch Ausweichen auf Teilbeschäftigung oder die Ablehnung verantwortungsvollerer Funktionen, durch den Verzicht auf mehrere Kinder oder auch auf die Ehe) gravierende Zugeständnisse zugunsten des anderen Bereichs für notwendig oder unabänderlich erachtet.“

 

Dieses — im Vergleich zum FGB — erweiterte und anspruchsvollere Leitbild zielt auf eine optimale Harmonisierung von ökonomischer und materneller Funktion der Frau ab. Obwohl das Ausmaß der wechselseitigen Abhängigkeit beider Faktoren bisher nur unzulänglich erforscht ist, lassen die vorliegenden Daten immerhin auf enge Beziehungen schließen. Dem wird nicht nur ideologisch Rechnung getragen, sondern auch mit dem gezielten Einsatz sozialpolitischer Maßnahmen wie Erhöhung der Geburten- und Kinderbeihilfen, Verlängerung des Wochenurlaubs (Mutterschutz), Arbeitszeitverkürzung und Urlaubsverlängerung für Mütter mehrerer Kinder, zinslose Kredite an junge Ehepaare, besondere Unterstützung kinderreicher Familien sowie alleinstehender Elternteile (Frauen). Zusammenfassend ist festzuhalten, daß sich die F.-Politik der SED sowohl theoretisch als auch praktisch in erster Linie an die Frauen wendet. Die mangelhafte häusliche Arbeitsteilung wird zwar nicht gutgeheißen, aber doch mit einer gewissen Resignation ins Kalkül gezogen. Der fehlenden Bereitschaft vieler Männer, ihre familiale Rolle zu überdenken, ist darüber hinaus nie mit ähnlicher Konsequenz begegnet worden, wie auf die Frauen ideologischer Druck ausgeübt wurde.

 

IV. Leitbild und Wirklichkeit

 

 

Das FGB trägt Haushaltsführung und Kindererzie[S. 272]hung ausdrücklich beiden Ehegatten auf. Im offiziellen Kommentar heißt es dazu, der Mann genüge seiner Pflicht nicht schon dadurch, daß er lediglich „mithelfe“. Er habe vielmehr den der „konkreten Familiensituation“ angemessenen Anteil zu übernehmen. Daß dieser Anspruch bisher auch nicht annähernd erfüllt wurde, machen — neben anderen — die folgenden Untersuchungsergebnisse deutlich. 1965 und 1970 hat das Leipziger Institut für Marktforschung jeweils ermittelt, wieviel Zeit die Versorgung eines Vier-Personen-Haushalts erfordert und wie sie sich auf die einzelnen F.-Mitglieder verteilt: Das familiale Engagement der Ehemänner hat mithin innerhalb von fünf Jahren nur um 1,4 v. H. zugenommen. Eine positivere Entwicklung zeichnet sich auch für die absehbare Zukunft kaum ab. 1975 veröffentlichten Befragungen des Zentralinstituts für Jugendforschung ist vielmehr zu entnehmen, daß die Jugendlichen ihr F.-Leitbild weitgehend an der im Elternhaus praktizierten Aufgabenteilung ausrichten.

 


 

Fundstelle: DDR Handbuch. Köln 1975: S. 269–272


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.