DDR von A-Z, Band 1975

Infiltration (1975)

 

 

Siehe auch die Jahre 1953 1954 1956 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1979 1985


 

Geschichte. Die kommunistischen Parteien nutzten seit dem VII. Weltkongreß der Komintern 1935 in Moskau jede Gelegenheit, um nichtkommunistische Einrichtungen für ihre Bündnispolitik zur Verbreiterung ihrer Basis zu gewinnen.

 

Der DDR kam es — besonders unter den Bedingungen der Hallstein-Doktrin — in erster Linie darauf an, mit den Mitteln der I. ihre außenpolitische Isolierung zu durchbrechen, möglichst viele nichtkommunistische Gruppen zu Aktionen für die diplomatische Anerkennung der DDR zu gewinnen und ihr gesellschaftliches Modell zu propagieren. SED, KPD und deren Massenorganisationen (FDJ; FDGB; DFD u.a.m.) bedienten sich zu diesem Zweck unterschiedlicher Methoden; sie reichten von einer mannigfaltigen Komiteebewegung (Freundschaftsgesellschaften und Friedenskomitees) über die Bildung von Arbeitsgemeinschaften für verschiedene berufliche oder Soziale Gruppen (z. B. Arbeitsgemeinschaften ehemaliger Offiziere), Studiengesellschaften bzw. Vereinigungen für Intellektuelle (z. B. Komitee zum Studium der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer Veränderung in Westdeutschland oder Vereinigung demokratischer Juristen), der Durchführung von periodischen Konferenzen und Aktionen (z. B. Aktion gegen Remilitarisierung, Deutsche Arbeiterkonferenzen) bis zur Gründung sog. Sammlungsbewegungen (z. B. ADF, DFU), in denen die Kommunisten nach ihrem Volksfrontverständnis dominierten und erhebliche materielle Hilfe leisteten.

 

Die SED-Führung bestreitet heute nicht mehr, daß ihr erklärtes politisches Ziel nach 1945 darin bestand, „ihre Bemühungen auf die Bildung eines demokratischen deutschen Staates, der alle vier Besatzungszonen und nicht nur die sowjetische Besatzungszone umfaßte“, zu richten. Dieser Staat, der „alle vier Besatzungszonen umfaßte“, sollte auf derselben gesellschaftspolitischen Grundlage entstehen, die von der sowjetischen Besatzungsmacht in der damaligen SBZ geschaffen worden war.

 

Die SED-Führung bediente sich zu diesem Zweck eines umfangreichen Apparates, der unter Führung der Westabteilung beim ZK der SED die gesamte kommunistische I. in der Bundesrepublik Deutschland leitete und kontrollierte. (Diese Abteilung hat im Laufe der Jahre mehrmals ihren Namen geändert: Westkommission, Westabteilung, Abteilung für gesamtdeutsche Arbeit, Arbeitsbüro, Abteilung 62 u. a. m.; zeitweilig war noch zwischen dem Politbüro der SED und der Westabteilung eine Kommission für nationale Arbeit oder Westkommission geschaltet, die als Westsekretariat unter Leitung von Walter Ulbricht, Hermann Matern und Albert Norden die Arbeit der Westabteilung anleitete.) Die Westabteilung beim ZK der SED verwirklichte diese Anleitung vor allem durch den Einsatz zahlreicher Instrukteure, die in der Bundesrepublik in allen Fragen der I. gegenüber der KPD Weisungs- und Kontrollfunktionen ausübten.

 

Die Einrichtung des Freiheitssenders 904 — Standort bei Magdeburg/DDR — diente der I.-Propaganda und der Anleitung der KPD-Kader in der Bundesrepublik. Der Soldatensender 935 war auf die I. der Bundeswehr spezialisiert.

 

Infiltrationszentrale KPD. Den westdeutschen Kommunisten fiel sowohl in ihrer legalen (1946–1956) wie in ihrer illegalen Periode (1956–1968) die Aufgabe der Koordinierung, Anleitung und Kontrolle der gesamten I. in der Bundesrepublik zu. Die Westabteilung der SED leitete ihrerseits die KPD an, sicherte ihre Finanzen und hielt auch von sich aus direkt Kontakte zu einzelnen I.-Trägern.

 

Im Mittelpunkt der I.-Bemühungen der KPD stand der Versuch, durch aktive Arbeit in den Gewerkschaften sowie durch Aktionsangebote an den Arbeiternehmerflügel der SPD die „Aktionseinheit der Arbeiterklasse“ zu schaffen, die nach der Strategiedoktrin der KPD die Voraussetzung zu gesellschaftspolitischen Veränderungen in der Bundesrepublik sein sollte. Durch halbjährlich durchgeführte Arbeiterkonferenzen in der DDR, die Herausgabe von zahlreichen Betriebszeitungen für Großbetriebe in der Bundesrepublik, Begegnungen von Gewerkschaftern aus beiden Teilen Deutschlands und vor allem durch aktive Mitarbeit in gewerkschaftlichen Organisationen und Betriebsräten sollte dieses Ziel erreicht werden. Aber auch die Jugendverbände, insbesondere der Arbeiterjugend und kooperationsbereite Gruppen des Bürgertums waren Ziele der I.

 

Das veränderte Konzept. Mit Abschluß der Verträge mit Moskau und Warschau, des Viermächte-Abkommens und des Grundlagenvertrages, der damit in Zusam[S. 415]menhang stehenden ideologischen Abgrenzungspolitik der SED gegenüber Einflüssen aus der Bundesrepublik, mit der Verkündung der These von zwei deutschen Nationen sowie der internationalen Anerkennung der DDR und ihrer Aufnahme in die UNO, mußte die SED ihr I.-Konzept verändern:

 

a) Die Gründung einer legalen kommunistischen Partei, der DKP, ihrer Jugendorganisation, der SDAJ, und ihres Studentenverbandes, des MS Spartakus, ermöglichte die politische und ideologische Auseinandersetzung in aller Öffentlichkeit. Der Freiheitssender 904 und der Soldatensender 935 wurden stillgelegt; die Abhängigkeit der DKP von der SED blieb in finanzieller Hinsicht zwar bestehen, das Instrukteurwesen wurde jedoch durch offizielle Konsultationen zwischen beiden Parteispitzen zum Teil ersetzt. Die westdeutschen Kommunisten können heute im Gegensatz zu früher eigene Entscheidungen, jedenfalls in der Tagespolitik, treffen.

 

b) Die Komiteebewegungen, Vereinigungen und die periodischen Konferenzen, vor allem auf gewerkschaftlichem Sektor, konnten zugunsten einer Verstärkung der Öffentlichkeitsarbeit der DKP aufgelöst bzw. umfunktioniert werden (das betraf u. a. die DFU, ADF, die halbjährlich durchgeführten deutschen Arbeiterkonferenzen, die deutschen Gespräche, die Komitees zum Studium der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer Veränderung in der Bundesrepublik, die Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Offiziere u. a.). Die auf internationaler Ebene arbeitenden Freundschaftsgesellschaften, Friedenskomitees usw. blieben zwar zum Teil bestehen, änderten aber ihren Charakter: Die in ihnen tätigen Kräfte brauchten sich nicht mehr für die internationale Anerkennung der DDR einzusetzen; jetzt bestand ihre Aufgabe darin, — meist im Rahmen offizieller Institutionen — das DDR-System als Beispiel für eine „gerechte Gesellschaft“ zu propagieren und die Krisenerscheinungen im Westen als systemtypisch darzustellen.

 

c) Die internationale Aufwertung des WGB, die Aufnahme des kommunistisch gelenkten italienischen Gewerkschaftsbundes CGIL in den Europäischen Gewerkschaftsverband, dem bisher nur Mitgliedsorganisationen des IBFG sowie der Christlichen Gewerkschaften angehörten, und die erweiterte Teilnahme von Gewerkschaftlern aus Finnland, Schweden, Norwegen und Dänemark an der 17. Arbeiterkonferenz anläßlich der Ostseewoche 1974 in Rostock, sowie die innerdeutschen Gewerkschaftskontakte seit 1970 haben die Beziehungen zwischen DGB und FDGB aus dem Bereich der I. herausgelöst, ohne allerdings die Bestrebungen der DKP auf stärkere Einwirkung auf die Gewerkschaften an der Basis zu verringern.

 

d) Zahlreiche Tarnzeitungen (Blinkfüer, Hamburg; Tatsachen, Ruhrgebiet; offen und frei, Baden-Württemberg; Die andere Zeitung, Frankfurt/Main u. a.) wurden zugunsten der aufwendigen UZ, die ab 1. 10. 1973 als Tageszeitung erscheint, eingestellt. Der Druck von KPD-Materialien in der DDR wurde aufgegeben und statt dessen zahlreiche Verlage in der Bundesrepublik Deutschland gegründet, die zwar von der DDR finanzielle Zuschüsse (durch Anzeigen) erhalten, sich aber auch um Rentabilität bemühen müssen (Röderberg Verlag, Frankfurt/Main, Verlag Marxistische Blätter GmbH., Frankfurt/Main, Dr. Wenzel Verlag, Düsseldorf u. a.).

 

Die neuen Formen der Infiltration. Gegenwärtig kann davon ausgegangen werden, daß der Tatbestand der I. nur noch auf folgende Tätigkeitsbereiche anzuwenden ist:

 

a) Die Anleitung, Kontrolle und Finanzierung der DKP durch die Westabteilung beim ZK der SED als Garantie für die Sicherung des Einflusses der SED auf die DKP in der Bundesrepublik.

 

b) Durchführung von Einzelberatungen und -besprechungen in der DDR anstelle der bis dahin üblichen Großveranstaltungen: In der Gegenwart laden SED, FDGB und FDJ und andere Massenorganisationen Sozialdemokraten, mit den Kommunisten sympathisierende Gewerkschaftler und Angehörige sozialistisch orientierter nichtkommunistischer Jugend- und Studentengruppen zu Gesprächen in die DDR ein. Die Teilnehmer aus dem Bundesgebiet werden dabei nicht nur politisch und methodisch indoktriniert, sondern auch angehalten, Stimmungsberichte aus Gewerkschaften und Jugendorganisationen zur Verfügung zu stellen. Die FDJ schließt z. B. offiziell Freundschaftsverträge mit Jugendorganisationen in der Bundesrepublik.

 

c) Die Unterstützung der DKP und ihrer Hilfsorganisationen durch die SED vollzieht sich u. a. im Rahmen des Patenschaftssystems der SED, wonach jeweils SED-Bezirke DKP-Bezirke betreuen. Die DKP ist dafür verantwortlich, nach sorgfältig zwischen den Parteileitungen abgestimmten Programmen zahlreiche Delegationen in die DDR zu entsenden: Neben reinen Parteigruppen reisen Studentendelegationen mit DKP-Sympathisanten und Betriebsarbeiterdelegationen in die DDR. Ferner findet eine sog. Urlauberschulung in der DDR statt. 1973 empfingen einige SED-Bezirksleitungen in der Regel jede Woche eine von der DKP zusammengestellte Delegation.

 

d) Zahlreiche aus der DDR in die Bundesrepublik einreisende Funktionäre nennen als Auftraggeber Kultur- und Bildungseinrichtungen der DDR. Viele geben auch an, im Auftrage der Urania zu reisen. Insgesamt traten z. B. 1973 rd. 1000 Funktionäre aus der DDR auf rund 800 Veranstaltungen in der Bundesrepublik auf.

 

e) Viele von ihnen führten nebenher, andere ausschließlich interne Gespräche mit Personen, die in der Bundesrepublik für die SED interessante Kontakte haben.

 

f) Die Aktivität der Nachrichtendienste der DDR scheint sich in dem Maße zu steigern, in dem die traditionelle I. unter den Bedingungen der Abgrenzungspolitik und nach Erfüllung des außenpolitischen Hauptzieles der DDR, der Erlangung der internationalen Anerkennung, abnimmt. So soll 1973 die Zahl der erkannten Spionageaufträge um 12 v. H. angestiegen sein, wobei die überwiegende Mehrheit der Personen (75 v. H.) im kommunistischen Bereich angesprochen wurden.

 

g) Auch die Anwerbung und Tätigkeit der sog. Einflußfunktionäre geht weiter. Hier handelt es sich um den Versuch, Personen des öffentlichen Lebens für die Pro[S. 416]pagierung des DDR-Systems und ihrer „Friedenspolitik“ zu gewinnen. Die Aufgabenstellung dieser Einflußpersonen oder -gruppen hat sich jedoch ebenfalls verändert: Sie brauchen nicht mehr für die inzwischen erfolgte völkerrechtliche Anerkennung einzutreten. Gegenwärtig besteht ihre Aufgabe vielmehr darin, die DDR als Alternative zur Bundesrepublik zu propagieren, über die „imperialistische Bundesrepublik“ aufzuklären und marxistisches Grundwissen zu vermitteln.

 

Die klassische I. wurde unter den neuen Bedingungen reduziert und in ihrem Charakter geändert. Ihr Ziel jedoch, neben der offiziellen Auseinandersetzung nicht-kommunistische Hilfskräfte zur Durchsetzung der Politik der SED/KPD zu gewinnen, besteht weiter.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. Köln 1975: S. 414–416


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.