DDR von A-Z, Band 1975

Kriminalität (1975)

 

 

Siehe auch die Jahre 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1979 1985

 

I. Kriminalstatistik

 

 

Nach marxistisch-leninistischer Auffassung geht die K. nicht aus der Natur des Menschen, sondern aus den gesellschaftlichen Verhältnissen hervor. Die K. ist somit keine unausweichliche Gesetzmäßigkeit der menschlichen Existenz, sondern der gesellschaftlichen Entwicklung unterworfen; in der kommunistischen Gesellschaft werde sie überwunden sein. Eine günstige, d. h. rückläufige Entwicklung der K. könnte somit zugleich Beweis für den gesellschaftlichen Fortschritt sein. In Veröffentlichungen der DDR wird der Anschein eines kontinuierlichen Rückgangs [S. 482]der K. in der DDR seit 1946 erweckt. Aus der im Statistischen Jahrbuch der DDR veröffentlichten K.-Statistik ist eine solche kontinuierliche Entwicklung nicht festzustellen.

 

 

Mit dem Jahr 1970 enden — zumindest vorläufig — auch die bisher nur sparsamen Angaben über die K. in der DDR. Bis 1971 enthielt das Statistische Jahrbuch die K.-Statistik jeweils bis zum vorangegangenen Jahr. Nachdem das Statistische Jahrbuch 1972 mit der Begründung, die Erkenntnisse des Jahres 1971 hätten bei Redaktionsschluß noch nicht vorgelegen, nur die bereits 1971 veröffentlichten Zahlen wiederholt hatte, enthält das Statistische Jahrbuch seit 1973 überhaupt keine K.-Statistik mehr. Ohne Begründung fehlt im Abschnitt „Rechtspflege“ jede Information über die K. und die Tätigkeit der Strafjustiz. Die darauf gestützte Vermutung über einen weiteren Anstieg der K. ist inzwischen durch ein Interview des Generalstaatsanwalts Streit in der NBJ 18/75 bestätigt worden. Aus den Angaben Streits, mit denen er wiederum den kontinuierlichen Rückgang der K. beweisen wollte, ist eine Zunahme auf durchschnittlich mehr als 141.000 Straftaten für 1971–1973 ersichtlich.

 

II. Regionale Unterschiede

 

 

Die — jetzt geheimgehaltenen — Informationen über den Stand der K. gaben schon in der Vergangenheit zu Zweifeln Anlaß. Auch gibt es einige Anzeichen dafür, daß die veröffentlichten Statistiken manipuliert worden sind.

 

1. Die K.-Ziffern der Bezirke zeigen erhebliche Unterschiede und z. T. mit der allgemeinen Entwicklung der K. im Widerspruch stehende Schwankungen auf (vgl. nebenstehende Tabelle).

 

Im Gegensatz zur Zunahme der K. in der gesamten DDR weist diese Statistik für Ost-Berlin für 1969 einen erheblichen Rückgang und für 1970 einen weit über dem DDR-Durchschnitt liegenden Anstieg auf. Die Ziffern für den Bezirk Frankfurt/Oder übertreffen im Jahr 1969 die K.-Ziffern von Ost-Berlin und weisen damit für diesen Bezirk 1969 die höchste K. in der DDR auf. 1970 liegt Ost-Berlin erneut an der Spitze. Bei Gera und Rostock fällt der der allgemeinen Tendenz widersprechende Rückgang der K.-Ziffern für 1970 auf, nachdem 1969 die K. im Bezirk Rostock höher gewesen war als in Ost-Berlin. Bemerkenswert ist schließlich der Vergleich der K.-Ziffern der Bezirke Karl-Marx-Stadt und Neubrandenburg. Während diese in dem Industrie-Bezirk Karl-Marx-Stadt fast unverändert gering blieben und damit weit unter dem DDR-Durchschnitt lagen, hat die ohnehin höhere K. in dem eher ländlichen Bezirk Neubrandenburg überdurchschnittlich zugenommen und 1970 einen mit fast 40 v. H. höheren Stand als im Bezirk Karl-Marx-Stadt erreicht.

 

2. Auffällig sind weiterhin die starken Schwankungen bei einzelnen Deliktgruppen. So soll die Zahl der Straftaten gegen das persönliche Eigentum von 68.869 im Jahr 1957 zunächst bis 1960 um etwa 37 v. H. auf 43.436 zurückgegangen, dann bis 1963 um mehr als 45 v. H. auf 63.163 gestiegen sein und seitdem erneut um mehr als 50 v. H. auf 30.747 im Jahr 1967 abgenommen haben. Der angegebene starke Rückgang in dieser zahlenmäßig größten Deliktsgruppe seit 1963 ist besonders hervorzuheben, weil zu jener Zeit die Behandlung geringfügiger Delikte, insbesondere kleinerer Vergehen gegen das persönliche Eigentum, den Gesellschaftlichen Gerichten übertragen worden ist.

 

3. Mit dem Inkrafttreten des neuen StGB am 1. 7. 1968 werden Bagatelldiebstähle sowie einige andere Verstöße gegen Strafbestimmungen, wie Hausfriedensbruch, Beleidigung und Verleumdung, nicht mehr als Straftaten, sondern als Verfehlungen (Strafrecht) gewertet und damit nicht mehr von der K.-Statistik erfaßt. Der durch die K.-Statistik ausgewiesene Rückgang der Zahl dieser Straftaten beruht somit seit 1968 zum großen Teil nicht auf einer tatsächlichen Abnahme dieser Delikte, sondern nur auf einer anderen Wertung derartiger Gesetzesverletzungen.

 

 

4. Bei den Straftaten gegen die Verkehrssicherheit [S. 483]fällt auf, daß der mit der zunehmenden Verkehrsdichte allmählich steigenden Zahl der Verkehrsunfälle eine verhältnismäßig geringe Zahl an Verkehrsdelikten gegenübersteht. 1970 gab es in der DDR 52.207 Straßenverkehrsunfälle mit Personenschaden oder Sachschaden von über 300 Mark, bei denen 2.139 Personen getötet und 46.237 verletzt sowie 66.241 Fahrzeuge beschädigt wurden. Demgegenüber weist die K.-Statistik nur 2.611 Straftaten nach § 196 StGB (Herbeiführung eines schweren Verkehrsunfalls) auf.

 

III. Ursachen

 

 

Als Ursache der noch vorhandenen K. werden vor allem schädliche Einflüsse aus dem Westen, insbesondere durch Fernsehen und Rundfunk, Besuche und Briefe aus der Bundesrepublik Deutschland sowie Überreste noch vorhandener, aus dem Kapitalismus überkommener Bewußtseinselemente, so z. B. Reste „spießbürgerlicher Lebensgewohnheiten und bürgerlicher Eigentumsideologie und Egoismus“, die vor allem als Ursache der auf kleinbürgerliches Besitzstreben gerichteten Eigentumsdelikte gelten, angesehen.

 

Zu diesen früher stets als alleinige Ursachen für die in der DDR noch vorhandene K. genannten Gründen wird seit einiger Zeit noch eine „Reihe innerer Erscheinungsformen“ in der sozialistischen Gesellschaft angeführt, die „auf Widersprüchen und Konflikten beruhen, die mit der komplizierten Entwicklung und Herausbildung der sozialistischen Gesellschaft Zusammenhängen“. Der Prozeß des Abbaues dieser Konflikte vollziehe sich nicht im Selbstlauf. Man habe es gegenwärtig mit einer „ungleichmäßigen und widerspruchsvollen Entwicklung“ zu tun.

 

IV. Jugendkriminalität

 

 

Die Jugend-K. ist relativ hoch. Informationen aus der DDR darüber sind allerdings besonders spärlich. Die Straftatenbelastung bei verschiedenen Altersgruppen läßt folgende Durchschnittswerte der Jahre bis 1969 erkennen:

 

 

Die K.-Ziffer erreicht also bereits bei den 16–18jährigen ihr Maximum und fällt bei den Erwachsenen schnell ab. Demgegenüber verläuft in der Bundesrepublik Deutschland die Kurve der Verurteilten-Ziffer erheblich flacher.

 

Der verhältnismäßig hohe Anteil der Jugend an der Gesamt-K. hat, wie Veröffentlichungen aus der DDR erkennen lassen, weiterhin eine steigende Tendenz. Für diese Entwicklung werden folgende Ursachen genannt:

 

1. Einflüsse der ideologischen Diversion aus dem Westen (s. o.).

 

2. Mängel in den Beziehungen der Erwachsenen zu den Jugendlichen, die den Prozeß der Entwicklung des gesellschaftlichen Bewußtseins junger Menschen hemmen.

 

3. Vorhandensein spontaner Elemente unter der Jugend, die durch Kontakte der verschiedenen Altersgruppen „immer weitervererbt werden“ und zum Entstehen eines fehlerhaften Weltbildes und spontan-anarchistischen Ausbrüchen aus den Regeln gesellschaftlichen Zusammenlebens führen.

 

4. Mangelhafte Entwicklung eines freien sozialistischen Jugendlebens mit der Folge spontaner Gruppenbildung und der Gefahr der Entwicklung gesellschaftswidriger Tendenzen (Rowdytum).

 

5. Gestörte Bildung und Erziehung sowie mangelhafte Einstellung zur Arbeit. Ca. 50 v. H. der jugendlichen Straftäter haben die Schule ohne abgeschlossene Ausbildung verlassen.

 

6. Alkoholmißbrauch. 85 v. H. der Straftaten Jugendlicher entfallen seit Jahren fast gleichbleibend auf Straftaten gegen das sozialistische und persönliche Eigentum, die Verkehrssicherheit, die staatliche und öffentliche Ordnung sowie auf vorsätzliche Körperverletzungsdelikte. 1970 haben 52,5 v. H. aller jugendlichen Straftäter Eigentumsdelikte begangen. Obwohl ein echter Vergleich der K. in beiden Teilen Deutschlands wegen der unterschiedlichen Rechtsordnungen und wegen der geschilderten Bedenken gegen die Zuverlässigkeit der K.-Statistik der DDR nur teilweise möglich ist, kann dennoch davon ausgegangen werden, daß die K. in der DDR geringer ist als in der Bundesrepublik. Es besteht allerdings kaum Anlaß, dies auf ein verändertes „sozialistisches Bewußtsein“ der Bevölkerung der DDR zurückzuführen. Eher bieten sich folgende Gründe an:

 

1. Kontrolle des Bürgers durch staatliche und gesellschaftliche Organe und durch Nachbarn und Arbeitskollegen. Dazu gehört auch die Pflicht zur gesellschaftlich nützlichen Arbeit (Asoziales Verhalten). Das verhindert weitgehend den im Westen bekannten Typ des „reisenden Verbrechers“ und „Berufsverbrechers“.

 

2. Verstärkte Bemühungen um Wiedereingliederung des Straffälligen (Strafvollzug).

 

3. Geringere Diebstahls- und Betrugs-K. infolge geringeren Warenangebotes und des Fehlens einer zum übersteigerten Konsum anreizenden Werbung.

 

4. Ausweisung nicht erziehbarer Asozialer und Krimineller in die Bundesrepublik Deutschland.[S. 484]

 

V. Schwerpunkte

 

 

Schwerpunkte der K. sind Diebstahl, Verkehrsdelikte, Rowdytum und Körperverletzung sowie Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten. Mit insgesamt 45.398 Straftaten bildet 1970 trotz des Wegfalls der Bagatelldiebstähle Diebstahl sozialistischen und persönlichen Eigentums die weitaus größte Deliktsgruppe. Bemerkenswert dabei ist, daß 1970 zum ersten Mal die Zahl der gegen sozialistisches Eigentum gerichteten Diebstahlsdelikte mit 23.240 größer ist als die Zahl der Diebstähle persönlichen und privaten Eigentums (22.158). 1957 war die Zahl der gegen das persönliche Eigentum gerichteten Straftaten mit 68.869 noch etwa doppelt so hoch wie die der Straftaten gegen das sozialistische Eigentum.

 

Verkehrsdelikte zeigen in der K.-Statistik erst seit 1970 eine steigende Tendenz mit 16.127 Straftaten gegen die Verkehrssicherheit, darunter zwar nur 2.611 Straftaten nach § 196 StGB (Herbeiführung eines schweren Verkehrsunfalls, s. o.), aber mit 8.955 Straftaten der Verkehrsgefährdung durch Trunkenheit und 3.981 Fällen der unbefugten Benutzung von Fahrzeugen.

 

Bei Rowdytum (§ 215 StGB) und Körperverletzung ist der Anteil der Jugendlichen und der unter Alkoholeinfluß stehenden Straftäter besonders hoch. Die Statistik nennt für 1970 9.855 vorsätzliche Körperverletzungen. Die Zahl der als „Rowdytum“ bezeichneten Straftaten wird nicht angegeben, jedoch ausdrücklich in den Veröffentlichungen als ein Schwerpunkt der K. genannt.

 

Das gleiche gilt für das Delikt „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten“ (§ 249 StGB), dessen Bedeutung in den letzten Jahren ständig zugenommen hat, wie Veröffentlichungen erkennen lassen.

 

Über die Zahl der politischen Straftaten (Politische ➝Häftlinge) gab die K.-Statistik zu keiner Zeit Auskunft.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. Köln 1975: S. 481–484


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.