DDR von A-Z, Band 1975

Kybernetik (1975)

 

 

Siehe auch die Jahre 1963 1965 1966 1969 1979 1985


 

[S. 495]K. ist die Wissenschaft von den „möglichen Verhaltensweisen möglicher Strukturen“, d. h. von dynamischen, sich selbst organisierenden und sich selbst erhaltenden Systemen. Unter „System“ wird jedes in sich geschlossene Ganze verstanden, das miteinander in Wechselbeziehung stehende Teile umfaßt. Die kybernetischen Systeme sind dazu bestimmt, daß sie mit Hilfe von Rückkoppelungen immer wieder einen Gleichgewichtszustand anstreben. „Dynamisch“ heißt im vorliegenden Zusammenhang stets „in Funktion befindlich“. Mit Hilfe kybernetischer Modelle wird versucht, bestimmte wesentliche Eigenschaften der Wirklichkeit abzubilden und Gesetzmäßigkeiten der beobachteten Tatbestände festzustellen. Die K. hat eine eigene, von verschiedenen Wissenschaften beeinflußte Sprache geschaffen. Hauptbegriffe sind u. a.: „System“, „Subsystem“, „Umwelt“, „kybernetische Maschine“, „Regelkreis“, „Regler“, „Regelstrecke“, „Rückkopplung“ („feedback“), „Gleichgewicht“, „Fließgleichgewicht“, „Stabilität“, „Ultrastabilität“, „Information“, „Kommunikation“.

 

Allgemein werden drei Teilgebiete der K. unterschieden: das systemtheoretische (Informationstheorie), das spieltheoretische und das algorithmentheoretische.

 

Die kybernetische Regelungstheorie bezieht sich auf die Regelmäßigkeiten der automatischen Regelung bzw. Steuerung von Systemen. Dabei bedeutet „Regelung“ stets die Erzielung von Veränderungen eines Systems (Handeln, Sich-Verhalten, Lenkung von Maschinen und Automaten). Mit Hilfe der Regelung soll jedoch auch die Aufrechterhaltung des stabilen Gleichgewichts eines dynamischen Systems durch den „Regelkreis“ gewährleistet werden. Der Regelkreis ist gegenüber Einflüssen aus der Umwelt relativ stabil.

 

Regelkreise werden häufig nach dem Modell von Homöostaten konzipiert, d. h. von Regelmechanismen, in denen irgendeine Variable in den vorausbestimmbaren Grenzen gehalten wird. Der Regelungsaspekt gewinnt dabei für die Leitungswissenschaft der DDR und in diesem Zusammenhang auch unter dem organisationstheoretischen Aspekt besondere Bedeutung — gehören doch für die Wirtschafts- und Gesellschaftsplanung wichtige Begriffe, wie „Befehl“ und „Kontrolle“, in den Bereich der Regelungstheorie.

 

Die kybernetisch-mathematische Spieltheorie, auch Theorie der Spiele genannt, versucht, optimale Verhaltensweisen von Systemen oder der jeweiligen „Umwelt“ eines Systems herauszufinden. Als „Spieler“ können dabei z. B. Subsysteme fungieren. Die Spieltheorie ist prinzipiell auf alle Situationen anwendbar, die denen von Gesellschaftsspielen ähneln.

 

Die Algorithmustheorie schließlich befaßt sich — u. a. durch Erforschung der Steuerungsalgorithmen — mit dem Bau von Maschinen (Rechenmaschinen), die die Ausschaltung von Störungen ermöglichen. Algorithmen können als Verfahren, die Handlungen in ihrem Ablauf steuern, oder auch als System von Umformungsregeln, mit denen ein bestimmtes Verhalten sich beschreiben und steuern läßt, bezeichnet werden.

 

Die K. bedient sich verschiedener Methoden. Hier sind vor allem die „black-box-Methode“ sowie die „trial-and-error-Methode“ zu nennen. Die „black-box-Methode“ (deutsch: Methode des „schwarzen Kastens“) wird z. B. verwendet, wenn ein System zu analysieren ist, bei dem lediglich die Eingangs-(input) und Ausgangs-(output)größen bekannt sind.

 

Die Ausdehnung einer interdisziplinären Betrachtungsweise (Regelkreisgedanke, Rückkopplungsprozesse) auf volkswirtschaftliches Geschehen gelang 1933 R. Frisch. H. Schmidt entwarf auf bio-anthropologischer Grundlage das Programm einer allgemeinen Regelkreislehre. N. Wiener blieb es dagegen vorbehalten, mit seiner 1948 erschienenen Veröffentlichung („Cybernetics or control and communication in the animal or the machine“) Begriff und Gedankenwelt der K. zu verbreiten. Weiterentwicklungen erfolgten u. a. durch J. v. Neumann, L. v. Bertalanffy, W. R. Ashby, C. E. Shannon und R. V. L. Hartley.

 

Bereits gegen Ende der 50er Jahre begann man sich in der DDR auf Institutsebene mit Fragen der K. und deren Nutzung auseinanderzusetzen. Diese Arbeiten bildeten u. a. die Grundlage für Forschungs- und Entwicklungsarbeiten auf dem Gebiet der elektronischen Rechentechnik und führten schließlich zum Bau des Digitalrechners ZRA 1 (Zeiss-Rechenautomat) des VEB Carl Zeiss Jena im Jahre 1960 (Elektronische ➝Datenverarbeitung).

 

Der völlige theoretische Durchbruch der K. als ein neues Forschungsgebiet muß seit 1961, mit der Gründung einer Kommission für K. bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin als gesichert angesehen werden. 1962 wurde eine Arbeitsgruppe „K. und Pädagogik“ beim Ministerium für Volksbildung geschaffen. 1963 wurde die Kommission bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften zur „Sektion K.“ beim Präsidenten der Deutschen Akademie der Wissenschaften umgebildet. Im gleichen Jahre wurde die Forschungsgruppe „K. und Schule“ beim Institut für Berufsbildung eingerichtet.

 

Eine offizielle Förderung erfuhr die K. jedoch erst im Zuge umfangreicher Reformvorschläge für Wirtschaftsplanung und -Verwaltung anläßlich des VI. Parteitages der SED im Januar 1963. Ebenso wurde im Programmentwurf der SED nicht nur die K. in bedeutsamen Zusammenhängen erwähnt, sondern es wurde an vielen Stellen auf Probleme eingegangen, die mit der K. und ihrer Anwendung zusammenhingen. 1965 wurde eine Forschungsgemeinschaft „Anwendung mathematischer Methoden in der Territorialplanung“ am ökonomischen Institut bei der Staatlichen Plankommission, die die Anwendung kybernetischer Methoden übernahm, ins Leben gerufen. In der Folgezeit hat die Partei- und Wirtschaftsführung die möglichst vielseitige Anwendung der K. propagiert. Die K. fand daher nicht nur im technischen, sondern auch im wirtschaftlichen Bereich größere Beachtung. So wurde als Beispiel für die Ausnutzung der Erkenntnisse der K. die auf dem VII. Parteitag der SED 1967 herausgearbeitete Prognose für das entwickelte gesellschaftliche System des Sozialismus, in dem verschiedene gesellschaftliche Teilsysteme in ihren [S. 496]Wechselbeziehungen erfaßt waren, herausgestellt. Kybernetische Methoden wurden ebenfalls in einigen Betrieben und Kombinaten berücksichtigt und gewannen im Zusammenhang mit der elektronischen Datenverarbeitung an Bedeutung. Die K. entwickelte sich so für andere Wissenschaftsdisziplinen zu einem unentbehrlichen Instrumentarium. Ihre enge Verbindung zur marxistisch-leninistischen Organisationswissenschaft (Organisationswissenschaft) wurde ebenso herausgestellt wie ihre Bedeutung im Rahmen der sozialistischen Betriebswirtschaftslehre.

 

Die in der Folgezeit zu beobachtende teilweise Überbewertung der ökonomischen K. forderte jedoch auch zur offenen Kritik heraus. Im Zuge der auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 festgelegten neuen politökonomischen Grundrichtung wurden neue ordnungspolitische Prioritäten gesetzt. Die Bedeutung der K. nahm sichtbar ab.

 

Die K. wird gegenwärtig auf die verschiedensten Wissenschaftsgebiete angewandt. Ihre Anwendung in der Ökonomie vollzieht sich auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften. Sie soll es ermöglichen, den gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß als Ganzes und das Zusammenspiel seiner Teile für die wissenschaftliche Leitung überschaubarer zu gestalten sowie in Verbindung mit der Operationsforschung und der elektronischen Datenverarbeitung (EDV) die mathematische Berechnung optimaler Varianten für die Planung effektiver zu machen. Die K. ist demzufolge Instrument der Leitung. Ziel ihrer Anwendung in der Ökonomie ist die Nutzung kybernetischer Methoden bei der Erforschung und Entwicklung ökonomischer Prozesse und der kybernetischen Technik (insbesondere der EDV zur Informationsverarbeitung) für die Rationalisierung der Leitung und Planung. Hervorgehoben wird, daß bei der Anwendung der K. in der Ökonomie ein Abstrahieren vom materiellen, sozialen und klassenmäßigen Inhalt der zu untersuchenden Prozesse ausgeschlossen werden soll. Sowohl das Primat der Politik als auch die bestimmende Rolle des ökonomischen Inhalts schließen eine Überbewertung der K. aus.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. Köln 1975: S. 495–496


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.