
Literatur und Literaturpolitik (1975)
I. Die gesellschaftliche Funktion der Schönen Literatur
Nach Marx und Engels sollte im Kommunismus zwar der gesamte ökonomische Produktions- und Distributionsprozeß gesellschaftlich geregelt werden, dem einzelnen aber überlassen bleiben, „heute dies, morgen jenes zu tun“ („Deutsche Ideologie“). Die Künste wurden „nicht zur allgemeinen Produktion“ gezählt. Marx schlug sie zur „freien geistigen Produktion“ („Theorien über den Mehrwert“), für die in der Gesellschaft die „Freiheit der Sphäre“ erforderlich sei („Debatten über die Pressefreiheit“). Er nannte die Künste „ontologische Wesensbejahungen“ („Ökonomisch-Philosophische Manuskripte“). Eine Indienstnahme der Künste für bestimmte gesellschaftliche Interessen war für Marx und Engels undenkbar, weil sie die L. nicht den Klassen, sondern den Nationen zuordneten („Kommunistisches Manifest“). Eine solche Funktionszuweisung strebten sie auch in der Praxis nicht an. Ihr Umgang mit zeitgenössischen Belletristen zeigt: Im Fall Heine — Dichter müsse man ihre eigenen Wege gehen lassen; im Fall Freiligrath — Parteinahme solle allenfalls in großem historischen Sinn erfolgen; im Fall Lassalle — der Dramatiker habe Individuen, nicht Sprachrohren des Zeitgeistes zu schaffen, im Fall Harkness — lieber typische Charaktere unter typischen Umständen bilden, als sich von sozialen und politischen Anschauungen treiben zu lassen.
Wie Marx und Engels bei der Kunstproduktion strenge Maßstäbe anlegten (Engels an Lassalle), so forderten sie beim Kunstgenuß höchste Anstrengung („Ökonomisch-Philosophische Manuskripte“). Daß geistige Produktion als Teil des Überbaus der Basis folge (Vorwort „Zur Kritik der politischen Ökonomie“), ist in der gegenwärtigen marxistischen Diskussion umstritten, weil Marx und Engels die Vermittlungen selbst nicht nachgewiesen haben; außerdem ist es zweifelhaft, ob die Metapher für sie selbst heuristisch war. Unbestreitbar ist, daß sie für Marx und Engels ein Erklärungsversuch vielschichtiger Erscheinungen ex post war und kein administrativer Leitsatz, daß L., ist sie als Überbauelement auf eine Basis reduzierbar, auch bereits bei ihrer Entstehung den Prozessen der ökonomischen Basis folgen müsse. Würde L. so entstehen, könnte sie nur „Massenvorurteile der Zeit“ ausdrücken, die Engels (zu Schlüter) der Revolutionspoesie anlastete. Dichter [S. 526]sollten sehen — wie Balzac: über die Zeit hinaus, ohne Rücksicht auf politisches Engagement (Engels an Harkness).
Nach dem Tod von Marx und Engels galt es im marxistischen Spektrum zwei wesentliche Probleme zwischen Kunst und Gesellschaft nach einer sozialistischen Revolution zu lösen: die Massen an die L. (wie an andere Künste) heranzuführen und Künstler und Schriftsteller materiell abzusichern. Das erste war eine pädagogische, das zweite eine distributive Frage. So wurden diese Probleme noch in der Sowjetunion zwischen 1917 und 1927 gesehen, obgleich der Begriff der gesellschaftlich zu regelnden Produktion weiter gefaßt wurde, als Marx und Engels es auch unter der Diktatur des Proletariats recht gewesen wäre. Lenin fügte den pädagogischen und distributiven Aspekten noch einen etatistischen Aspekt bei, indem er (zu Zetkin) sagte, der Sowjetstaat müsse, im Gegensatz zum Zarismus, die Künstler auch schützen. Die Sowjet-L. konnte sich in dieser Periode in verschiedene ästhetisch und politisch-inhaltliche Richtungen entfalten.
Die gesellschaftliche Funktionsbestimmung der L. wurde erst bedeutsam, als, seit 1927 in der Periode der Herausbildung einer totalitären Diktatur, die gesamte Produktion gesellschaftlich geregelt werden sollte. Stalin nannte dies den großen „Umschwung“; dieser Begriff meinte von 1932 an, die führende Rolle der Partei, wie in allen anderen Bereichen, so auch in der L. uneingeschränkt durchzusetzen. 1934 gingen ihre verschiedenen literarischen Richtungen in einem einheitlichen Schriftstellerverband auf, der als Transmissionsriemen zwischen der Parteiführung und den Schriftstellern diente. Die Schriftsteller wurden angewiesen, für die politische Erziehung der Massen und für den Aufbau des Sozialismus zu wirken. Sie sollten Partei ergreifen, nicht, wie bei Marx, nur in großem historischem Sinn, sondern bei der Erfüllung einzelner konkreter Planziele und der Durchsetzung von Arbeitsdisziplin in einzelnen Betrieben. Die L. hatte jeder von der Partei als wesentlich erklärten Bewegung der Basis zu folgen. Schriftsteller, die sich widersetzten, wurden nicht mehr gedruckt, mehrere verschwanden in Arbeitslagern, wo sie umkamen oder als Spione erschossen wurden. Schriftsteller, die die gesellschaftlichen Aufträge ausführten, wurden großzügig gefördert.
Dieser Einbau der Literatur in die gesamtgesellschaftliche Planung versagte im Krieg. Die Schaffensbedingungen wurden gelockert, und es erschienen wieder Werke, die als schädlich gegolten hatten. 1946 wurde trotzdem der disqualifizierte Zustand wieder hergestellt. Er ist in dieser Form auf die DDR (wie auf jedes sozialistische Land im sowjetischen Einflußbereich) übertragen worden. Die Rekonstruktion verfiel seit 1950, als Stalin mit seiner Abhandlung über die Sprachwissenschaft eine neue Basis-Überbau-Diskussion eröffnete. Später befestigten nationale Emanzipationstendenzen den wiedergewonnenen Spielraum.
Die Literaturen gewannen wieder neue Vielfalt. Sie wurden aber offiziell aus ihrer gesellschaftlichen Funktion nicht entlassen. Es wurde ihnen jedoch das Recht zugestanden, daneben auch neue ästhetische Bedürfnisse zu befriedigen.
II. Der sozialistische Realismus als Konzept der führenden Rolle der Partei in der Literatur
Der sozialistische Realismus ist administrativen Ursprungs. Er ist im Frühjahr 1932 von I. Growskij, dem stellv. Chefredakteur der „Iwestija“, als Begriff eingeführt, im Sommer 1932 von Stalin als Methode definiert und 1934 auf dem Gründungskongreß des Sowjetischen Schriftstellerverbandes von dem Leningrader Parteisekretär A. Shdanow kodifiziert worden. Seine Lehre bestand aus 5 Hauptaspekten. Der sozialistische Realismus:
1. trennt die Wahrheit von der objektiven Wirklichkeit und bindet sie zwecks politisch-pädagogischer Einwirkung an deren — jeweils von der Partei bestimmte — revolutionäre Veränderung;
2. reduziert die Sujetbreite vorwiegend auf die Arbeitswelt, um soziale, psychologische, erotische und mythologische Beziehungselemente auszuschalten, die das gewünschte Bild von der Wirklichkeit abweichend einfärben könnten;
3. verfügt über eine revolutionäre Romantik mit einem positiven Helden, um das kalkulierte Werk zu emotionalisieren;
4. separiert die sozialistische L. von der bürgerlichen „Verfallsliteratur“;
5. läßt durch kritische Aneignung des klassischen Erbes von der Welt-L. nur ein Kompendium des Realismus gelten, in dem nur Werke zugelassen werden, die zugleich auch im Sinne der Partei als fortschrittlich gelten.
Diese zuletzt genannten beiden Abgrenzungen dienten dazu, politisch unerwünschte literarische Einflüsse abzuschirmen, deren geschichtsphilosophische Etikette „Dekadenz“, „Reaktion“ und „Kosmopolitismus“, deren literaturwissenschaftliche „Naturalismus“ und „Formalismus“ lauten.
So entstand eine L., die sich realistischen Kategorien entzog. Seit 1950 wurde ihr in der Sowjetunion auch offiziell Schematismus, Schwarz-Weiß-Malerei, Schönfärberei, Konfliktlosigkeit vorgeworfen. Stalins Nachfolger, G. Malenkow, brachte auf dem XIX. Parteitag der KPdSU 1952 die Engelssche Rede vom Typischen wieder zu Ansehen. Er forderte die Schriftsteller zur Kritik auf und versprach ihnen den Schutz des Sowjetstaates. Der Begriff des sozialistischen Realismus fand bei ihm keine Erwähnung mehr. Die gesellschaftliche Funktion der L. sollte nun eher in Gesellschaftskritik bestehen. Die Periode des „Tauwetters“ setzte ein.
Unter Chruschtschow, der eine Erneuerung der [S. 527]Führungsrolle der Partei in Staat und Gesellschaft und damit auch im literarischen Bereich durchzusetzen suchte, wurde verbal wieder auf den sozialistischen Realismus zurückgegriffen. Seine Wiederbelebung mißlang diesmal, weil zu viele Konzessionen gemacht werden mußten, um die L.-Doktrin der Partei zu retten. Die Annäherung an die Wirklichkeit, die Reproduktion des Privaten, und die weniger gefilterten Inspirationen aus der modernen und klassischen Welt-L. ließen in der Sowjet-L. wieder verschiedene Richtungen entstehen. Das Auf und Ab der Kulturpolitik Chruschtschows — von der Fortsetzung des Tauwetters durch Ermunterung zur Kritik bis zu seinem Ende — hatte seine Ursache in den Einbußen der Partei im Bereich der L. Auch Breshnews Rückgriffe auf konsequente Administration konnten Parteiraison nicht mehr erzwingen. Sie bewirkten im Gegenteil, daß sowjetische Schriftsteller begannen, vom Kommunismus abzufallen.
Das Schicksal des sozialistischen Realismus in der DDR verlief, mit Verzögerungen, ähnlich. Der Funktionswandel der L., den Malenkow inaugurierte, wurde integriert. B. Brecht versuchte seit 1954, mit der Adjektivkombination „sozialistisch-realistisch“ der realistischen Komponente den Vorzug zu geben, indem er als Kriterium für sozialistischen Realismus die Frage vorschlug, ob ein Werk sozialistisch und realistisch sei („10 Thesen über sozialistischen Realismus“).
Schließlich war die Doktrin des sozialistischen Realismus nur noch mit Eklektizismus zu retten („Zur Theorie des sozialistischen Realismus“, hrsg. vom Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Berlin 1974). Es wurde alles subsumiert, wenn es nur „sozialistisch“ ist. Bei zu krassen Gegensätzen zwischen Sozialismus und Realismus sind Werke „widersprüchlich“, oder sie stehen — wie die Stücke von Peter Hacks — „der einheitlichen sozialistischen Kunstentwicklung in der DDR nicht entgegen“ (ebenda S. 750). Im Fall Bobrowski zeigte sich, daß Werke, die nicht realistisch sind, auch nicht einmal unbedingt sozialistisch zu sein brauchen, um „vollends zu den Positionen des sozialistischen Realismus“ vorzustoßen (ebenda S. 360). Vom sozialistischen Realismus als einer faßbaren L.-Theorie blieb allein die führende Rolle der Partei übrig.
III. Zur Organisierung der Schönen Literatur in der DDR
Zur Organisierung und Kontrolle der L. bedient sich die SED des Schriftstellerverbandes der DDR als „Transmissionsriemen“. Die literaturpolitischen Ziele der jeweiligen Etappen werden von den Schriftstellerkongressen in großen Zügen entworfen. Die Kongresse folgten damit aber den entsprechenden Weichenstellungen, die an anderen Orten vorgenommen wurden: anfangs auf Kulturbundkonferenzen, später zumeist auf Tagungen des ZK der SED. So wurden der I. Schriftstellerkongreß vom 4.–8. 10. 1947 auf dem 1. Bundeskongreß des Kulturbundes vorbereitet, der II. Schriftstellerkongreß vom 4.–6. 7. 1950 auf dem 2. Kongreß des Kulturbundes vom 25.–26. 11. 1949, der III. Schriftstellerkongreß vom 22.–25. 5. 1952 auf dem 5. Plenum des ZK (nach dem III. Parteitag der SED) vom 15.–17. 3. 1951, der IV. Schriftstellerkongreß vom 14.–18. 1. 1956 auf dem 24. Plenum des ZK vom 1. 6. 1955, der V. Schriftstellerkongreß vom 25.–27. 5. 1961 auf der durch ZK-Mitglieder erweiterten Sitzung des Vorstandes des Schriftstellerverbandes am 25. 1. 1961, der VI. Schriftstellerkongreß vom 28.–30. 5. 1969 auf dem 9. Plenum des ZK (nach dem VI. Parteitag der SED 1963) vom 22.–25. 10. 1968 und der VII. Schriftstellerkongreß vom 14.–16. 11. 1973 auf dem 9. Plenum des ZK (nach dem VIII. Parteitag der SED 1971) vom 28.–29. 5. 1973 vorbereitet.
Die Zeit zwischen den bestimmenden Konferenzen und den Schriftstellerkongressen, die durchschnittlich ein halbes Jahr betrug, diente der Einstimmung auf die neuen literaturpolitischen Ziele durch Diskussionen in der Presse und auf Sitzungen der Bezirksverbände. Aus den Debatten schälten sich die geeigneten Kandidaten für die Kongreßdebatten heraus. Die Vorbereitungen wurden so sorgfältig getroffen, daß sich auf den Kongressen bisher keine Überraschungen für die Partei ereigneten. Die Wirkungen der Kongresse waren begrenzt; es bedurfte oft flankierender Tagungen, um die führende Rolle der Partei zur Geltung zu bringen und durchzusetzen: 1957 der Kulturkonferenz des ZK der SED; 1959 der Bitterfelder Konferenz des Mitteldeutschen Verlages mit W. Ulbricht und Mitgliedern des ZK der SED; 1965 des 11. Plenums des ZK (nach dem V. Parteitag).
Die exekutiven Organe waren anfangs das Amt für L. und Verlagswesen, das vom 16. 8. 1951 bis zum 28. 6. 1956, und die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten, die vom 31. 8. 1951 bis zum 7. 1. 1954 bestanden. Ihnen oblagen Zensur, Kontrolle und Korrektur der Entwicklung. Ihre Befugnisse wurden auf das Ministerium für Kultur übertragen (gegründet am 7. 1. 1954), das sukzessiv Entscheidungen in die Eigenverantwortlichkeit der Verlage delegierte. Dieser Prozeß bedeutete aber noch keine „Liberalisierung“ der Kulturpolitik, weil die Verlagsleiter im Sinne der Selbstzensur der SED unerwünschte Veröffentlichungen verhindern sollten.
Allein die Verlagssäuberungen zeigten aber, daß sowohl das Ermessen wie die Zuverlässigkeit der Lektorate Grenzen haben. Von einer Aufhebung der [S. 529]Zensur kann nur in formalem Sinn gesprochen werden. Die Verlage ziehen in exponierten Fällen die Kulturabteilung des ZK zu Rate. Die führende Rolle der Partei ist vielschichtiger geworden; sie kann indessen vom Strukturwandel der exekutiven Organe allein zwar nicht in Frage gestellt, möglicherweise aber modifiziert werden.
Die Zielvorstellungen der marxistisch-leninistischen Lp. werden durch ein „Auftragswesen“ realisiert, das offiziell als „eine wichtige Methode der Leitung künstlerischer Prozesse“ gilt („Kulturpolitisches Wörterbuch“, 1970).
Als Auftraggeber fungieren Kultureinrichtungen (Theater, DEFA u. a.), gesellschaftliche Organisationen (FDGB; FDJ; DFD; DSF; DTSB u. a.), Investträger (Betriebe u. a.) und staatliche Organe (Ministerium für Kultur; Ministerium für Nationale Verteidigung, Bezirksräte u. a.). Ein Werkvertrag schließt oft Beratungen durch Kollektive von Werktätigen, Aktivs der Volksvertretungen sowie den Schriftstellerverband ein. Die Auftraggeber vertreten die gesellschaftlichen Interessen einer sozialistisch-realistischen L., die für die DDR repräsentativ sein soll; es wird dabei vorausgesetzt, daß sie mit den persönlichen Interessen der Schriftsteller übereinstimmen. Das Kulturpolitische Wörterbuch nennt als Beispiele für geförderte Vorhaben 3 Theaterstücke: C. Hammel — „Um neun an der Achterbahn“, R. Kerndl — „Seine Kinder“ und H. Salomon — „Katzengold“. Sie stehen nicht nur für zahlreiche erfolgreiche Vorhaben, sondern auch für gescheiterte Projekte, deren tatsächliche Zahl unbekannt ist. Nur einige sind bekannt geworden, z. B. H. Pfeiffers Stück „Die Dritte Schicht“, das während der Bitterfelder Phase in Zusammenarbeit mit der Jugendbrigade einer Mansfelder Kupferhütte entstand und nach der 2. Aufführung abgesetzt wurde. Andere sind gar nicht erst an die Öffentlichkeit gelangt. Die meisten Vorhaben wurden aufgegeben. Die Beispiele, die das Kulturpolitische Wörterbuch anführte, entsprangen keiner einseitigen Auswahl. Im Unterschied zu Künsten, die einen größeren Aufwand an Mitteln erfordern, sind in der L. Werke von höherem Rang meistens in eigener Verantwortung entstanden, indem die Schriftsteller vorzogen, den gesellschaftlichen Auftrag indirekt als gesellschaftliche Anregung zu verstehen.
Die materiellen Anreize oder Stimuli für Schriftsteller in der DDR können als beträchtlich gelten. Sie werden bewußt als Steuerungsinstrumente eingesetzt, entwickeln jedoch oft eine Eigengesetzlichkeit, die den literaturpolitischen Zielsetzungen teilweise entgegenwirkt. Es kann sich ein Publikumsbedürfnis durchsetzen oder sich immerhin gegen propagierte Werke artikulieren. Die hohen Einnahmen können Schriftstellern eine Selbständigkeit verschaffen, die ihnen einen eigenen Spielraum gegenüber den Aufträgen der Partei ermöglicht. So brauchte Stefan Heym auf der Basis der früheren und laufenden Einkünfte aus seinen Publikationen bis 1965 keine Rücksichten zu nehmen, es sei denn, selbst auferlegte. Er konnte nach seinen Vorstellungen den „Lassalle“-Roman, die „Schmähschrift“ und den „König David Bericht“ schreiben, in westlichen Verlagen veröffentlichen und abwarten, bis diese Werke von der L.-Kritik in der DDR bewertet, bzw. als mit den literaturpolitischen Zielsetzungen der Partei vereinbar angesehen wurden.
Die wichtigsten Stimuli sind die hohen Auflagen, deren mittlere Ziffern bei der 1. Auflage sich zwischen 10.000 und 25.000 Exemplaren bewegen. Die durchschnittliche Kalkulation beruht auf gesichertem Absatz durch die zahlreichen Büchereien der Betriebe und gesellschaftlichen Organisationen, dem stark ausgebauten öffentlichen Bibliothekswesen und der Übung, Bücher als Prämien zu verschenken. Der unerreichte Bestseller ist der KZ-Roman „Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz, der von 1958 bis 1969 in der DDR in 32 Auflagen eine Gesamthöhe von 860.000 Exemplaren erzielte und bis 1969 in 26 Sprachen übersetzt wurde. Die Auflagenhöhe ist im allgemeinen noch kein Hinweis auf den literaturpolitischen Stellenwert, den literarischen Rang eines Werkes oder die Publikumsreaktion. In der Spitzengruppe befinden sich Bücher zwischen 10 bis 15 Auflagen, auf die die aufgeführten Maßstäbe durchaus unterschiedlich zutreffen. „Der geteilte Himmel“ von Christa Wolf oder „Spur der Steine“ von Erik Neutsch gehören zu den Romanen der Periode des NÖS (1963–1967), der einzigen, in der es bisher gelang, literaturpolitische Bedeutung und Publikumsinteresse zur Deckung zu bringen. Die Bücher von Wolfgang Schreyer, Werner Steinberg oder Karl Zuchardt sind ausschließlich Publikumsreißer. Entsprechende Titel von Otto Gotsche, Bernhard Seeger oder Max Walter Schulz beschränken sich auf die kulturpolitische Bedeutung, die ihnen zugeschrieben wird und sich von den Positionen der Verfasser, Gotsche als langjähriger Sekretär Ulbrichts, Seeger als langjähriges ZK-Mitglied und Schulz als Direktor des L.-Instituts, herleitet. Bei „Buridans Esel“ von Günter de Bruyn wurde der literarische Rang von der Publikumsreaktion honoriert; das konnte bei dem „Nachdenken über Christa T.“ von Christa Wolf nicht erfolgen, weil die Auflagen künstlich niedrig gehalten wurden.
Den aus hohen Auflagen resultierenden Honoraren vergleichbar sind die hohen Tantiemen von Stücken, die im günstigsten Fall über 20–50 Bühnen gehen können. Hier bietet sich für umstrittene Dramatiker noch die Ausweichmöglichkeit von Bearbeitungen alter Stücke an, mit denen in Zeiten des Verrufs Peter Hacks und Heiner Müller ihren Lebensunterhalt bestritten. Zu den materiellen Anreizen gehören auch hohe Entgelte für Fernsehspiele, Hörspiele, Filmszenarien; sie sind z. T. auch noch bei Abbruch [S. 529]der Arbeiten finanziell attraktiv. Manche Schriftsteller wie Rolf Schneider fertigen sie „mit linker Hand“ an, um sich für ihre eigentlichen Arbeiten Spielraum zu verschaffen. Andere materielle Anreize sind Anstellungen als Lektor oder als Dramaturg, bei denen der größte Teil der Arbeitszeit für eigene Produktionen aufgewendet werden kann. Zu den Privilegien gehören bezahlte Mitgliedschaften (z. B. in der Akademie der Künste) und Beiratsfunktionen, die, wie bei Stephan Hermlin, Unabhängigkeit von den Einkünften aus literarischen Arbeiten garantieren.
Die materiellen Anreize werden durch ein ausgedehntes System von Preisen ab- und aufgerundet. Die Regierung der DDR verleiht den Nationalpreis für Kunst, dessen 3 Klassen jeweils mit 100.000, 50.000 und 25.000 Mark dotiert sind. Die Akademie der Künste verleiht den Heinrich-Mann-Preis, den F.-C.-Weiskopf-Preis, den Alex-Wedding-Preis und den Hans-Marchwitza-Preis, das Ministerium für Kultur den Heinrich-Heine-Preis, den Lessing-Preis und den Johannes-R.-Becher-Preis. Es gibt einen L.-Preis des DFD, Kunstpreise des FDGB und der FDJ, die regelmäßig auch für L. vergeben werden. Die „Hauptstadt der DDR“, Berlin (Ost), hat den Goethe-Preis ausgeschrieben, Potsdam den Theodor-Fontane-Preis, Dresden den Martin-Andersen-Nexö-Preis, Magdeburg den Erich-Weinert-Preis, Neubrandenburg den Fritz-Reuter-Preis, Rostock den John-Brinckmann-Preis, Cottbus den Carl-Blechen-Preis. Dazu kommen nicht an Namen gebundene Kunst- und Kulturpreise für L. von den Bezirken bzw. den Städten: Weimar, Leipzig, Karl-Marx-Stadt, Gera, Erfurt, Meißen, Frankfurt/Oder, Schwedt, Rostock. Für sorbische L. stehen der Cisinski-Preis, den die Akademie der Künste, und der Kunst- und L.-Preis der Domowina bereit, den der Bund Lausitzer Sorben in 3 Klassen verleiht.
Die Gesichtspunkte für die Verleihung entspringen vorwiegend der literaturpolitischen Opportunität, die selbst gegen Brecht ins Spiel gebracht wurde; dieser weigerte sich allerdings mit Erfolg, den Nationalpreis II. Klasse anzunehmen (1951 erhielt er dann doch noch den Nationalpreis I. Klasse). (Auszeichnungen.)
Als Ausbildungsstätte des schriftstellerischen Nachwuchses ist gegen den Widerstand des Kulturministers J. R. Becher 1955 das Institut für Literatur in Leipzig gegründet worden. Es erhielt nach Bechers Tod 1959 seinen Namen. Alfred Kurella leitete es bis 1957, Max Zimmering bis 1964, seitdem Max Walter Schulz. Die Ausbildung erfolgt in den verschiedenen literarischen Gattungen, in L.-Geschichte und umfaßt die Vermittlung des sozialistischen Realismus und des Marxismus-Leninismus. Die Lehrgänge schließen nach 3 (anfangs 2) Jahren mit einem Abschlußexamen, das mit einem Diplom verbunden ist. Daneben gab es kurzfristigere Sonderlehrgänge. Nach der Absolventen-Bibliographie zum 15. Jahrestag des Instituts („Neue Deutsche Literatur“ 6/70) waren aus den regulären Lehrgängen bis 1969 113 Schriftsteller hervorgegangen, von denen allerdings ein Teil schon vorher mit literarischen Arbeiten an die Öffentlichkeit getreten war (Erich Loest, Rudolf Bartsch, Gotthold Gloger, Joachim Kupsch u. a.). Von den 113 Absolventen konnten sich in der L. jedoch nur 26 einigermaßen profilieren: und von diesen 26 können wohl nur 4 (Joachim Kupsch, Karl-Heinz Jakobs, Rainer Kirsch, Axel Schulze) beanspruchen, Werke von künstlerischer Bedeutung geschaffen zu haben. Die Bilanz der Sonderlehrgänge ist im Verhältnis günstiger. Sie weist, bis 1969, an hervorstechenden Talenten jedoch auch nur 2 (Volker Braun und Wulf Kirsten) auf. Die Wege, die Kirsch und Kirsten einschlugen, passierten überdies schnell den Erwartungshorizont ihrer Ausbildung.
IV. Die Phasen der Literaturpolitik
Die Phasen der Lp. verliefen, entsprechend ihren theoretischen und organisatorischen Voraussetzungen und Folgen in wechselhafter Dramatik. Die literaturpolitisch bestimmenden Entscheidungen fielen schon vor der Gründung der DDR: als auf dem I. Schriftstellerkongreß 1947 die Sowjet-L. zum Vorbild erhoben wurde, als 1948 der Kulturoffizier der SMA, Major A. Dymschiz, (am Beispiel der Malerei) den Formalismus in den deutschen Künsten angriff und als Alexander Abusch in seiner Rede „Der Schriftsteller und der Plan“ 1948 der L. die Aufgabe zuwies, den Zweijahrplan zu propagieren, und die Schriftsteller aufforderte, in die Betriebe und auf die Dörfer zu gehen.
Die erste Phase der literaturpolitischen Entwicklung ging mit dem 17. 6. 1953 zu Ende. Sie wurde von der Erklärung Ministerpräsident Grotewohls 1950 bestimmt, der die Schriftsteller zu „Kampfgenossen der Regierung“ (II. Schriftstellerkongreß) erklärt und die Kunst dem politischen Kampf untergeordnet hatte (Berufung der Kunstkommission). Auf dem II. Schriftstellerkongreß 1950 wurde der Schriftstellerverband gegründet. Bodo Uhse als Sekretär des neuen Verbandes forderte seine Kollegen auf, sich das „Rüstzeug“ aus der Sowjet-L. anzueignen, das in der deutschen L. mit ihrem Mangel an gesellschaftsorientierten Werken traditionsgemäß fehlt. Die Ergebnisse des Kongresses wurden von der SED als unzureichend eingeschätzt. Auf dem III. Schriftstellerkongreß wurde 1952 Uhse durch den härteren Kuba abgelöst. Ähnlich steigerte sich der Kampf gegen den „Formalismus“, der von 1951 an zu Veröffentlichungsverboten, Einstampfen von Büchern, Absetzung von Aufführungen und Übermalen von Wandbildern führte. Nach dem Ende der ersten Phase schrieb Wolfgang Harich 1953 in der „Berliner Zeitung“ von „Schaffenskrisen psychotischen Charakters selbst bei Menschen, die als hervorragende [S. 531]Künstler politisch ohne Schwankung auf dem Boden unserer Republik stehen.“
Die zweite Phase der Entwicklung wurde vom Neuen Kurs geprägt. Sie ging mit der Verhaftung der Harich-Gruppe im November 1956 zu Ende. Die Formalismus-Kampagnen wurden in dieser Zeit zurückgenommen. Das Administrieren in der L. war von nun an verpönt; an seine Stelle sollte eine stärkere Eigenverantwortlichkeit der Schriftsteller treten. Die Kurskorrektur blieb indessen ambivalent. Das zeigte sich in der Tabuisierung des 17. Juni und in der Verschiebung des IV. Schriftstellerkongresses, auf dem der Neue Kurs auch literarisch institutionalisiert werden sollte. Er fand erst im Januar 1956 statt, nachdem der Neue Kurs selbst schon längst korrigiert worden war, und brachte einen Kompromiß zwischen der ideologischen Klarheit, die bisher dominierte, und der künstlerischen Meisterschaft, von der sich nur sagen ließ, daß sie von doktrinärer Schulmeisterei bisher verhindert worden war. Der Kompromiß hielt nicht einmal ein Jahr. Er ermunterte — vor dem Hintergrund des XX. Parteitags der KPdSU 1956 und der Bewegungen in Polen und Ungarn — zu einer antistalinistischen Kritik, die die Parteidisziplin zu sprengen begann; ihr Höhepunkt war der 2. Kongreß junger Künstler in Karl-Marx-Stadt im Juni 1956.
Die dritte Entwicklungsphase erstreckte sich bis Ende 1960. Sie ist mit dem Konzept des Bitterfelder Weges verbunden. Auf der Kulturkonferenz Ende 1957 übten Schriftsteller, die der politischen Abweichung beschuldigt waren, Selbstkritik (Becher, Uhse, Hermlin u. a.). Es häuften sich Selbstverpflichtungen, wieder aufs Land und in die Betriebe zu gehen. In der Kulturkommission des Politbüros der SED wurde unter Leitung Kurellas das Programm einer „Einschmelzung“ der Künstler in den gesellschaftlichen Schaffensprozeß entworfen, das auf der Bitterfelder Konferenz im April 1959 von Ulbricht selbst verkündet worden war. Das Programm verfolgte ein literaturpolitisches Doppelziel, das auf der einen Seite die Schriftsteller stärker als bisher in die Planwirtschaft einbauen und andererseits mit der Bewegung der schreibenden Arbeiter („Greif zur Feder, Kumpel“) die „zurückbleibenden“ Schriftsteller anspornen sollte.
Die Ergebnisse der Konferenz waren im Sinne der SED jedoch zu dürftig, um sie auf dem nächsten Schriftstellerkongreß als Errungenschaften zu feiern.
Die vierte Phase reichte bis Ende 1965. Sie begann mit dem V. Schriftstellerkongreß, auf dem die professionelle L. einer ähnlichen Kritik wie auf dem letzten Kongreß unterzogen wurde. Über die L. der schreibenden Arbeiter bemerkte Erwin Strittmatter, daß man sie den lesenden Arbeitern nicht zumuten könnte. Der Kongreß endete mit der Formel: „Ideologische Klarheit und Künstlerische Meisterschaft“.
Die SED ließ nun eine Reihe von dogmatischen und administrativen Fehlern offen kritisieren. Es bildete sich schnell ein literarisches Spektrum heraus, das zum ersten Mal die Interessen von Partei, Schriftstellern und Lesern zu befriedigen schien. Doch schon im Dezember 1962 zeigte sich auf dem Lyrikabend der Akademie der Künste, wo unter Hermlins Leitung Wolf Biermann vor einem größeren Publikum debütierte, daß das lange aufgestaute Kritikbedürfnis selbst vor den von der SED jetzt weiter gezogenen kulturpolitischen Schranken nicht haltmachen würde. 1965 sah sich die Partei daher gezwungen, die Entwicklung zu stoppen.
In der fünften Phase von 1966 bis 1971 wurde das Schicksal der führenden Rolle der Partei in der L. besiegelt. Die Auseinandersetzung wurde von der SED offensiv geführt, aber ohne sichtbaren Erfolg. Der Auftakt des 11. Plenums, Ende 1965, blieb so wirkungslos wie der VI. Schriftstellerkongreß 1969. Die Kampagnen gegen Formalismus und Dekadenz, die wieder aufflammten, konnten weder einschüchtern noch beeindrucken. Die L. begann sich zu emanzipieren. Sie machte sich die relative Selbständigkeit einzelner Bereiche zunutze, die das „entwickelte gesellschaftliche System des Sozialismus“ vorsah, das 1967 zum Programm erhoben wurde. Die sechste Phase der Lp. in der DDR reichte bis zum VII. Schriftstellerkongreß im Dezember 1973. Sie begann mit den Versuchen der SED, die politisch-literarische Emanzipation zurückzudrängen, und endete nach einigen kulturpolitischen Kursschwankungen mit ihrer Anerkennung. Nach dem VIII. Parteitag der SED (1971) schien sich zunächst eine neue „Bitterfelder Bewegung“ anzukündigen. Kurt Hager klagte im Oktober 1971 auf der Tagung der Gesellschaftswissenschaftler darüber, daß die Formel vom sozialistischen Realismus in den letzten Jahren beinahe verschwunden sei. Honecker ließ sie dann schon im Dezember 1971 auf dem 4. Plenum wieder fallen und erklärte, von einer festen Position des Sozialismus aus dürfe es keine Tabus mehr geben. Er sprach fortan nur noch von „sozialistischer Literatur und Kunst“. Es wurden nun Werke veröffentlicht, die noch unter Ulbricht nicht akzeptiert worden wären.
Auf dem 6. Plenum des ZK der SED im Juli 1972 führte Hager einen — jetzt freilich weniger engen — Begriff des „sozialistischen Realismus“ wieder ein, da sich in der SED-Führung offenbar eine Fronde gegen die Öffnung der Schleusen gebildet hatte. Honecker stellte sich auf dem 9. Plenum im Mai 1973 an ihre Spitze und verurteilte jene literarischen Tendenzen, die er selbst zunächst begünstigt hatte. Dieses Plenum sollte die Weichen für den VII. Schriftstellerkongreß stellen, der im Dezember 1973 stattfand, jedoch einen ganz anderen Verlauf nahm. Noch während der Vorbereitungsdebatten wurde die offizielle Kritik zurückgenommen und die füh[S. 531]rende Rolle der Partei in der L. durch „Teilnahme“ der Schriftsteller „an der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft“ ersetzt. Hermann Kant hob in seinem Referat den Wandel von der Unterordnung der L. unter die Politik zu einem Partnerschaftsverhältnis hervor, als er feststellte, daß sich die Beziehungen Arbeiterklasse und Schriftsteller nicht mehr wie früher „in Äußerungen von Wohlwollen hin und Ergebenheit her“ artikulieren könnten. Kant verband damit einen „Abschied vom Bitterfelder Weg“, der einst Kurella als die Einheit von Politik, Wirtschaft und Kultur erschienen war.
V. Der Funktionswandel der Schönen Literatur
Dieser Wandel hatte sich seit langem angekündigt. Die SED trennte sich damit von einem Konzept, das bereits mehrfach gescheitert war. Kuba, der nach dem III. Kongreß die Linie der SED besser als Uhse nach dem II. Kongreß durchsetzen sollte, stürzte beim IV. Kongreß; Kurella wurde aus der Kulturkommission des Politbüros in die Akademie der Künste abgeschoben, weil es ihm nicht gelungen war, die Auseinandersetzungen mit den Künstlern erfolgreich für die Partei zu beenden. Die Partei hat mehrfach versucht, ihre literaturpolitischen Mißerfolge zu vertuschen: Zunächst wurde von neuen Etappen des Bitterfelder Weges gesprochen; danach wurde die L. der „NÖS-Periode“ als Triumph des Bitterfelder Konzeptes ausgegeben.
Aber das Konzept selbst war fehlerhaft und hat der Entwicklung der L. in der DDR beträchtlichen Schaden zugefügt. Indem die L. der Politik folgen mußte, konnten die Schriftsteller nur schlechte Kampfgenossen sein. Sie waren es auch, mindestens Anfang und Ende der 50er Jahre, als ihre Werke, wären sie weniger vordergründig den politischen Richtlinien gefolgt, die Partei hätten warnen und veranlassen können, den Neuen Kurs oder das ökonomische System so rechtzeitig zu starten, daß es nicht zum 17. Juni oder zu der Massenflucht gekommen wäre. Becher hat die herrschende Kunstauffassung schon 1955 („Macht der Poesie“, S. 262) und Eisler 1962 (H. Bunge „Gespräche mit Hanns Eisler“, S. 319) als „sektiererisch“ bezeichnet.
Georg Lukács hat 1951 auf die Balzac-Interpretation von Engels zurückgegriffen, um die Mesalliance zwischen politischer Taktik und künstlerischer Sicht aufzulösen (Vorwort zu „Balzac und der französische Realismus“), und daraus 1956 den Begriff der Perspektive entwickelt, der eine gesellschaftliche Tendenz umschreibt, die unter Umständen andere Ergebnisse hervorbringt, als es sich Zeitgenossen vorzustellen vermögen (IV. Schriftstellerkongreß). Auf dem Bitterfelder Weg hat die Parteiführung vergeblich gegen diese Konzeption gekämpft. Gegen Ende der Ära Ulbricht griff Jürgen Kuczynski in seinem Aufsatz „Der Wissenschaftler und die Schöne Literatur“ erneut auf die Balzac-Interpretation zurück („Neue deutsche Literatur“, 2/71). War Lukács 1951 und 1956 der L. vorausgewesen, so beschrieb Kuczynski 1971 nur nachträglich, was von den Literaten bereits praktiziert wurde.
VI. Die literarische Emanzipation
Die literarische Emanzipation setzte ziemlich früh, wenn auch zögernd ein. Becher erkannte schon 1950: „Eine Literatur kann sich nur entwickeln aufgrund einer Literaturbewegung. Solch eine Bewegung müssen wir schaffen.“ (II. Schriftstellerkongreß). Das Dilemma der L.-Bewegung bestand aber darin, daß sie mit der These von der führenden Rolle der Partei nicht vereinbar war, und daß die Erkenntnis dieser Situation sich nur langsam durchsetzte. Becher selbst hat die sich ankündigenden Differenzen bereits 1951 mit der Notiz ausgedrückt: „ ‚Du liegst schief kann mich nicht schrecken, denn ich bin ein Segler. (Und liebe jede Schräglage.)“ („Tagebuch“, 9. 7. 1951); und Stefan Heym hat 1955 in der Nachterstedter Diskussion gesagt: „Der Schriftsteller kann sich nicht die Augen vor dem verschließen, was ist.“ Aber solange der „Zensor im Herzen des Schriftstellers“, von dem Heym auf dem IV. Schriftstellerkongreß sprach, das Geschehene nach Schaden und Nutzen für die Partei sonderte, nützte es wenig, wenn man sich die Augen nicht verschloß.
Praktisch-politische Konsequenzen kündigten sich jedoch erst 1961 an, als Paul Wiens erklärte, die künstlerische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit müsse nicht immer zum sozialistischen Realismus führen (V. Schriftstellerkongreß). Den nächsten Schritt ging Stefan Heym, als er auf dem Höhepunkt der NÖS-Belletristik die trügerische Einheit zwischen Schriftsteller, Partei und Leser zerstörte, indem er dieser L. vorwarf, nur Scheindebatten über Scheinkonflikte zu führen (Dezembercolloquium 1964). Der „Zensor im Herzen“ wurde jedoch erst überwunden, als Heym 1965 in seinem Manifest „Die Langeweile von Minsk“ für den Schriftsteller — gegenüber der SED — eine Rolle proklamierte, wie sie im Alten Testament die Propheten gegenüber der Priesterschaft ausübten. Ebenfalls 1965 rief Biermann aus: „Das Kollektiv liegt schief!“ („Die Drahtharfe“), und Hasso Grabner stellte fest: „Die Literatur hat immer die Mächtigen angegriffen. Jetzt hat die Partei die Macht. Die Partei muß sich also gefallen lassen, daß sie in der Literatur angegriffen wird“ (auf dem 11. ZK-Plenum von Paul Fröhlich abwehrend zitiert).
Als Christa Wolf auf dem 11. Plenum (Ende 1965) die Aufgabe der Kunst, neue Fragen aufzuwerfen, für ein typisches literarisches Problem erklärte, zeichnete sich bereits ab, daß die Versuche der Partei zur Eindämmung der literarischen Emanzipation scheitern würden. Für die Eigengesetzlichkeit der L. sprachen der Dramatiker Pfeiffer, der die Kunst als eine „zweite Wirklichkeit“ umschrieb („Neue Deut[S. 532]sche Literatur“, 10/66), der Lyriker Heinz Czechowski: „Das dichtende Subjekt sieht die Welt mit anderen Augen“ („Forum“, 8/66). 1969 beanspruchte gar Wiens im literarischen Bereich die „Machtbefugnis“ des Autors als ein „Naturrecht“ („Weimarer Beiträge“ 3/69). 1971 erklärten Manfred Streubel und Wulf Kirsten ihre Gleichgültigkeit gegenüber ihren Zeitgenossen („Sonntag“, 32/71). Was die SED von den Schriftstellern als „Mitgestaltern“ zu erwarten hat, nachdem sie auf ihre führende Rolle verzichtete, sagte Kant auf dem VII. Schriftstellerkongreß: „Literatur ist nicht für den Zustand der Welt verantwortlich.“
VII. Die Schöne Literatur in der DDR
Die Entwicklung der Schönen L. in der DDR fächerte sich zwischen den Polen von gesellschaftlicher Funktionszuweisung und Selbstbestimmung im Lauf ihrer Geschichte in 3 Hauptrichtungen auf:
1. in eine L., die die führende Rolle der Partei akzeptierte und von dieser entsprechend herausgestellt wurde; (man kann sie als Partei-L. bezeichnen);
2. in eine L., die, wenn auch parteinehmend, in „schiefer Lage“ entstand und anfangs kritisiert, später gesellschaftspolitisch integriert wurde (man kann sie Partisanen-L. nennen);
3. in eine L., die in traditionellem Sinn L. ist, bei der Unterscheidungen wie „l'art pour l'art“ oder „Litterature engagée“ nur situationsbedingt gültig sind.
Die Partei-L. entsprach mit ihren Gewinnen und Verlusten an Wirklichkeit dem Auf und Ab der literaturpolitischen Zielsetzungen. Sie konnte von sich aus keine literarische Bewegung einleiten. In den ersten beiden Phasen stand im Mittelpunkt der Epik das Bemühen um den Betriebsroman. Die wichtigsten Titel im industriellen Bereich waren „Menschen an unserer Seite“ (1951) von Eduard Claudius und „Helle Nächte“ (1953) von Karl Mundstock — im landwirtschaftlichen Bereich „Tiefe Furchen“ von Otto Gotsche (1949) und „Herren des Landes“ von Walter Pollatschek (1951). Während die Landwirtschaftsromane pauschal und schematisch blieben, gingen die Industrieromane, allerdings nur im Milieu und im Detail nuancierter vor. Die Folge war, daß die Landwirtschaftsromane von der gesamten Kritik als „unzureichend“ bezeichnet wurden, gegen die Industrieromane sich jedoch Bedenken der Parteikritik richteten. Nach dem 17. 6. 1953 wurde das Bemühen um den Betriebsroman fortgesetzt, als habe es keine aufrührerischen Ereignisse gegeben. Da die Unruhen mehr in den Städten als auf dem Lande ausgebrochen waren, kehrte sich das Verhältnis um. Die Landwirtschaftsromane — „Tinko“ von Erwin Strittmatter (1954), „Der Weg über den Acker“ von Margarete Neumann (1955) — fielen in einzelnen Zügen interessanter aus als die Industrieromane „Roheisen“ von Marchwitza oder „Martin Hoop IV“ von Rudolf Fischer (1955).
Auf dem IV. Schriftstellerkongreß wurde der Bankrott des Betriebsromans öffentlich zugegeben. Das Interesse wandte sich daraufhin privaten Konflikten vor betrieblichem Hintergrund zu. Die ersten Versuche („Von der Liebe soll man nicht nur sprechen“ von Claudius in landwirtschaftlichem oder „Die Ehe des Assistenten“ von August Hild in industriellem Milieu [1957]), die wegen ihrer attraktiven Titel viel gekauft worden sind, blieben psychologisch unbeholfen. In der dritten Phase ist mit Hilfe des Bitterfelder Konzeptes versucht worden, den Betriebsroman zu rekonstruieren. Von diesen Projekten konnte nur „Die Entscheidung“ von Anna Seghers (1959) groß herausgestellt werden - ein Buch, das lange vorher begonnen worden war und in dem die Verfasserin einer Schwarzweißmalerei verfiel, die sie selbst auf dem IV. Schriftstellerkongreß den bisherigen Betriebsromanen vorgeworfen hatte.
Die eigentliche Bitterfelder L. waren Erzählungen, z. B. „In diesem Sommer“ von Werner Bräunig (1960) oder „Bitterfelder Geschichten“ von Erik Neutsch (1961) und Reportagen wie „Die Tage mit Sepp Zach“ von Regina Hastedt (1959); die „Kumpel“-Literatur wurde in den „Deubener Blättern“ gesammelt. Der Industrieroman „Ankunft im Alltag“ von Brigitte Reimann (1961) war mehr ein Jugendbuch und der Landwirtschaftsroman „Herbstrauch“ von Seeger (1961) die Geschichte einer melodramatischen Freundschaft.
Die vierte Phase mit der NÖS-Literatur brachte den größten Wirklichkeitsgewinn für die Partei-L. ein: Karl-Heinz Jakobs „Beschreibung eines Sommers“ (1961), Brigitte Reimann „Die Geschwister“ (1962), Christa Wolf „Der geteilte Himmel“ und Erwin Strittmatter „Ole Bienkopp“ (1963), „Spur der Steine“ von Neutsch (1964), „Haus unterm Regen“ von Herbert Nachbar und „Die Aula“ von Hermann Kant (1965). Die Versuche mit dem Betriebsroman waren hier aufgegeben worden. Die Verfasser knüpften bezeichnenderweise da an, wo die L. schon 1957 bei Claudius und Hild gestanden hatte, nur infolge der gesellschaftspolitischen Offenheit des NÖS gesellschaftlich und psychologisch differenzierter, weil das Individuum stärker in den Mittelpunkt des Interesses gerückt war. Dieser Standard ist von der Partei-L. seitdem nicht wieder erreicht worden. Anna Seghers wiederholte mit dem „Vertrauen“ (1968) sogar das Fiasko der „Entscheidung“.
Ende der 60er Jahre ist versucht worden, diesen erneuten Wirklichkeitsverlust durch eine lyrisch-kunstgewerbliche Ausdrucksweise zu überspielen: Beispiele dafür sind Alfred Wellms „Pause für Wanzka“, Werner Heiduczeks „Abschied von den Engeln“ und Martin Viertels „Sankt Urban“ (1968), Joachim Wohlgemuths „Verlobung in Hullerbusch“ (1969) und Joachim Knappes „Die Birke da oben“ (1970). Anfang der 70er Jahre versuchte man es mit [S. 533]einem neuen, fast forschen Ton: Herbert Otto „Zum Beispiel Josef“ (1970), Jakobs „Eine Pyramide für mich“ und Jochen Laabs „Das Grashaus oder Die Aufteilung von 35.000 Frauen auf zwei Mann“ (1971).
Aber diese Versuche konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß die wesentlichen literarischen Ereignisse in der Partisanen-L. und der emanzipierten L. stattfanden.
Wegen der individuellen Struktur der Lyrik hat die Gedichteproduktion der Partei-L. in allen literaturpolitischen Phasen selten die Grenzen der Agitationslyrik überschritten. Die Hauptvertreter dieser Richtung waren Kuba, Zimmering, Uwe Berger, Günther Deicke, Helmut Preissler und Jupp Müller. In ihren Anfängen zählten dazu auch Günter Kunert, Paul Wiens und Reiner Kunze. Eine moderne Variante schufen Volker Braun und Peter Gosse. Die Dramatik der Partei-L. blieb — aus anderen Gründen — ebenfalls innerhalb der Grenzen der Agitation. Vorgänge, wie sie in den Romanen dieser Richtung geschildert werden konnten, wirkten durch die Darstellung auf der Bühne in radikalisierter Form. Deshalb sind solche Versuche alsbald in die Partisanen-L. hinübergeglitten. Die Hauptvertreter der dramatischen Partei-L. waren Gustav von Wangenheim, Harald Hauser, Paul Herbert Freyer, Helmut Baierl, Helmut Sakowski, Claus Hammel, Horst Salomon, Reiner Kerndl und Armin Stolper. Formal hat sich diese Gattung nicht entwickelt - im Gegensatz zu den Romanen, die doch mit der „Aula“ und dem „Haus unterm Regen“ Elemente moderner Erzähltechnik aufnahmen.
Die Entwicklung der Partisanen-L. wurde durch die Tabuisierung des 17. Juni lange verzögert. Nachdem Heyms Roman „Der Tag X“, der die Ereignisse des Jahres 1953 behandelte, nicht veröffentlicht werden konnte, vergleichbare Vorhaben unterbunden wurden, konnte diese Richtung erst 1960 in der Epik hervortreten: mit den Erzählungsbänden „Schatten und Licht“ von Heym und „Und sie liebten sich doch“ von Boris Djacenko.
In der NÖS-Periode schien es zunächst nicht notwendig, solche Versuche fortzusetzen, weil das Entgegenkommen der SED den guten Willen vieler Schriftsteller remobilisieren konnte. Sie wurden jedoch wieder aufgenommen, als von der Eigengesetzlichkeit der Stoffe her einige Schriftsteller den zu engen Rahmen der Kritik durchbrachen: Manfred Bieter mit dem Roman „Das Kaninchen bin ich“ und Werner Bräunig mit dem Roman „Rummelplatz“ - beide Manuskripte, die nicht mehr veröffentlicht werden konnten, wurden Gegenstand der Kritik des 11. Plenums. Kant wurde mit seinem nächsten Roman „Das Impressum“ unfreiwillig in eine Partisanenposition abgedrängt; der Roman konnte erst nach dem Ende der Ära Ulbricht, allerdings politisch überarbeitet, erscheinen. Stefan Heym ließ seinen Lassalle-Roman, die „Schmähschrift“ und den „König David Bericht“, die nach dem VII. Schriftstellerkongreß in der DDR herauskamen, vorher in westlichen Verlagen erscheinen.
Die Partisanenlyrik begann 1956 nach den Erschütterungen des XX. Parteitages der KPdSU, als Kunert, Wiens und Streubel aus der Parteiraison ausbrachen; Später, nach 1962, folgten Lyriker, die sozusagen als ‚Partisanen‘ in die L. eintraten: Wolf Biermann, Reiner Kirsch, Sarah Kirsch, Karl Mickel, Heinz Czechowski und — mit seinen frühen Gedichten — auch Volker Braun.
Wegen der radikalisierenden Wirkung der Bühne war die Partisanendramatik am meisten behindert. Heinar Kipphardts „Shakespeare dringend gesucht“ (1953) hatte das Glück, schon zu Beginn des Neuen Kurses vorzuliegen, dessen frühes Ende (1954) sich so hemmend auswirkte, daß ein ähnliches Vorhaben, „Glatteis“ von Hans Lucke, als es 1957 aufgeführt wurde, nach zahlreichen Bearbeitungen von einem Agitationsstück kaum noch zu unterscheiden war. Joachim Knauths „Kampagne“ (1961) lag zu Beginn des NÖS vor, konnte aber, wie Kipphardts Stück, keine Schute machen. Auch Bieters Satire „Zaza“ konnte schon vor dem 11. Plenum nicht mehr aufgeführt werden. Pfeiffers „Begegnung mit Herkules“ wurde zwar 1966 noch inszeniert, aber vor der Premiere abgesetzt. Danach hatten Versuche in historischem Gewand ein unterschiedliches Schicksal. Mickels „Nausikaa“ wurde 1968 nur einmal gespielt, Pfeiffers „Leben und Tod Thomas Müntzers“ 1970 nur im Fernsehen gezeigt, Knauths „Aretino oder Ein Abend in Mantua“ blieb in der Schublade. Eine Übertragung des „Werther“-Themas in die Gegenwart durch Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“ stieß lange auf Ablehnung, bis sie 1972 aufgeführt wurde und eine neue Theaterära einzuleiten schien. Ein in sich geschlossener, wiewohl in den Einzelstücken differenzierender Komplex der Partisanendramatik sind, in der Nachfolge Brechts, die Werke Heiner Müllers („Der Lohndrücker“, 1957; „Die Korrektur“, 1958; „Die Umsiedlerin“, 1959; „Der Bau“, 1965), Peter Hacks' („Die Sorgen und die Macht“, 1959/1962; „Moritz Tassow“, 1965), Hartmut Langes („Senftenberger Erzählungen“, 1961; „Marski“, 1965) und Volker Brauns („Kipper Paul Bauch“, 1965; „Die Freunde“, 1965; „Hans Faust“, 1968). Langes Stücke und Müllers „Bau“ sind nicht aufgeführt worden. „Die Umsiedlerin“, „Die Sorgen und die Macht“ und „Moritz Tassow“ wurden Gegenstand herber Kritik auf dem 11. Plenum des ZK der SED. Brauns „Kipper“-Stück wurde wie Plenzdorfs „Werther“-Paraphrase 1972 aufgeführt, doch mit geringerem Effekt. Das lag nicht allein an der angepaßten Neufassung. Das schöpferische Potential dieser Brecht-Nachfolge hatte sich selbst erschöpft. Sie bestand aus einer Mischung pittoresker Elemente der frühen Stücke [S. 535]Brechts und doktrinärer Elemente seiner Lehrstücke. Das hätte in der Aufbauphase mit den verschiedenen Roheiten der ursprünglichen sozialistischen Akkumulation seinen Platz gehabt, mußte aber bei der zunehmenden Differenzierung der sozialistischen Gesellschaft funktionslos werden.
Die Schöne L., die in der DDR nach traditionellen Anstößen geschrieben wird, gilt heute als die eigentlich repräsentative Literatur. Ihre ersten Anfänge in den 50er Jahren galten damals als letzte Ausläufer historisch überholter Positionen. Es begann in der Epik auf dem imponderablen Gebiet der Kriegs-L., deren archetypische Situationen schwerlich zwischen Basis und Überbau angesiedelt werden können. Hans Pfeiffers Erzählungsmanuskript „Die Höhle von Babie Doly“ wurde 1953 noch als verschroben und unveröffentlichbar angesehen. Als die „Neue deutsche Literatur“ es in Heft 12/57 abdruckte, präsentierte es sich bereits als Teil einer breiten literarischen Strömung nach, neben und vor: Franz Fühmanns „Kameraden“ (1955), Egon Günthers „Dem Erdboden gleich“, Joachim Kupschs „Die Bäume zeigen ihre Rinden“, Karl Mundstocks „Bis zum letzten Mann“ (1957) und „Die Stunde des Dietrich Conrady“ (1958), Fühmanns „Das Gottesgericht“ und Mundstocks „Sonne in der Mitternacht“ (1959). Die Kriegsromane „Der kretische Krieg“ von Günther, „Im Garten der Königin“ von Horst Beseler, „Die Stunde der toten Augen“ von Harry Thürk (1957) und „Geliebt bis zum bitteren Ende“ von Rudolf Bartsch (1958) blieben formal unterhalb des Niveaus der Kriegserzählungen. Ihr Effekt war der gleiche. Die Kriegs-L. durchbrach den Kanon des sozialistischen Realismus. Ihre, mehr an westlichen Vorbildern orientierte, „harte Schreibweise“ offenbarte einen Zugriff auf die Realität, dessen Konsequenzen für Gegenwartsstoffe die Kritik der Partei zu einer Kampagne veranlaßten, die bis zur Aufstellung eines detaillierten stilistischen Negativkatalogs ging. Die Kriegs-L. in der DDR erreichte danach, vielleicht mit der Ausnahme der Erzählung „König Oedipus“ von Fühmann (1966), niemals wieder diesen produktiven Ansatz. Indessen entfaltete sich, angeregt von Ehm Welks „Mutafo“ (1955), ein Nebenzweig der Kriegs-L. in Form von Schelmenromanen, der von Strittmatters „Wundertäter“ (1957) über Bielers „Bonifaz oder der Matrose in der Flasche“ (1963) bis zu Kunerts „Im Namen der Hüte“ (1967) viel zur Wiedererweckung der vom sozialistischen Realismus gehemmten Fabulierfreude beigetragen hat.
Der zweite Ausgangspunkt der emanzipierten Epik war die Aneignung fremder Welten außerhalb der sozialistischen Thematik. Ein früher Vorläufer, Christa Reinigs Erzählung „Das Fischerdorf“ (1951) aus dem Mittelmeerraum, hatte noch keine Folgen. Diese Strömung formierte sich erst 1957 mit Uhses „Mexikanischen Erzählungen“. Es folgten Zug um Zug Hanns Cibulkas „Sizilianisches Tagebuch“ (1960), die lettischen und französischen Erzählungen des Bandes „Und sie liebten sich doch“ von Djacenko (1961), die vietnamesischen Erzählungen „Das Mädchen ‚Sanfte Wolke‘“ von Claudius (1962), die gelegentlichen mittelamerikanischen Abstecher von Anna Seghers, als bisherige Höhepunkte Johannes Bobrowskis Romane „Levins Mühle“ (1964), „Litauische Claviere“ (1966) und Erzählungen „Boehlendorff und Mäusefest“ (1965) aus dem litauischen Raum und Djacenkos ins Kriegsmilieu hinüberspielender Roman „Nacht über Paris“ (1965).
Ein dritter Ansatz bot sich in der Darstellung historischer Sujets, abseits der revolutionären Pathetik. Diese Richtung begann sich mit Joachim Kupschs „Sommerabenddreistigkeit“ (1959) zu artikulieren. Es folgte von Kupsch „Die Winternachtsabenteuer“ (1965). Stefan Heym entdeckte die historische Dimension mit den „Papieren des Andreas Lenz“ (1963), ging aber, je mehr er sich ihre Vieldeutigkeit politisch zunutze machte, mit seinen nächsten Vorhaben auf die Partisanenposition über.
Ein vierter Ansatz war die Anwendung moderner Stilmittel auf phantastische Sujets. Er begann nahezu unvermittelt in der NÖS-Periode, um sich unbeirrt durch Kritik kontinuierlich zu entwickeln: Kunert „Tagträume“ (1964) und „Die Beerdigung findet in aller Stille statt“ (1968), Rolf Schneider „Brücken und Gitter“ (1965), Bieler „Märchen und Zeitungen“ (1966), Fritz Rudolf Fries „Der Weg nach Oobliadooh“ (1966), „Fernsehkrieg“ (1969) und „Seestücke“ (1973), Irmtraud Morgner „Hochzeit in Konstantinopel“ (1968) und „Die wundersamen Reisen Gustavs des Weltfahrers“ (1972), Bernd Jentzsch „Jungfer im Grünen“ (1973).
Der fünfte Ansatz schließlich zeigte sich in der Wiederentdeckung der Provinzen, bei der sich sukzessiv mit dem Urwüchsigen eine differenziertere Betrachtung der sozialistischen Gesellschaft verband. Der frühe Vorläufer, Ludwig Tureks Roman einer Berliner Trümmerfrau, „Anna Lubitzke“ (1952), blieb ohne Folgen. Dieser Ansatz entfaltete sich erst, als der NÖS-Literatur ein Ende gesetzt wurde und Rigorosität zwei Hauptautoren des NÖS, Christian Wolf und Erwin Strittmatter, aus der Partei katapultierte. Der literarische Gewinn war beträchtlich. Mit dieser Richtung hat die erzählerische L. in der DDR ihre eigentliche Basis gefunden. Es erschienen bisher: Strittmatter „Schulzenhofer Kramkalender“ (1966), „Ein Dienstag im September“ (1969), „3/4 Hundert Kleingeschichten“ (1971), Christa Wolf „Nachdenken über Christa T.“ (1968), Günter de Bruyn „Buridans Esel“ (1969) und „Die Preisverleihung“ (1972).
Die Lyrik emanzipierte sich an landschaftlichen und mythologischen Sujets. Wie an der Entwicklung der Partisanenlyrik abzulesen ist, die über epigonale An[S. 535]knüpfungen bei Brecht, Majakowskij, Neruda nicht hinauskam, bot die kritische Position hier keinen literarisch originellen Ansatz. Durch die Resistenz Peter Huchels entfaltete sich die emanzipierte Lyrik, wenn anfangs auch langsam, vom Beginn der L. in der DDR an kontinuierlich. Ihm folgten bald Erich Arendt und Hanns Cibulka. Mit Johannes Bobrowski, Peter Jokostra und Wolfgang Hädecke traten von 1955 an neue Talente gleich als reine Lyriker hervor. Ein nächster Schub erfolgte nach dem Ende der Bitterfelder Periode, als Reiner Kunze und Paul Wiens ihre Partei- und Partisanenpositionen verließen und sich mit Bernd Jentzsch wiederum ein neues Talent gleich als reiner Lyriker profilierte. Auch andere Autoren profitierten vom Zerfall der NÖS-Belletristik: Namen wie Wulf Kirsten, Axel Schulze tauchten auf; Mickel, Czechowski und Gressmann legten ihre partisanenhaften Attitüden allmählich ab.
Die Dramatik emanzipierte sich am historischen Sujet und in einer schöpferischen Erneuerung des Naturalismus. Eine doppelbödige historische Dramatik begann ziemlich früh mit Pfeiffers „Nachtlogis“, Kupschs „König für einen Tag“ (1954), und Knauths „Heinrich der VIII. oder Der Ketzerkönig“ (1955) und „Der Tambour und sein Herr König“ (1956). Die folgenden Restriktionen und die politischen Implikationen drängten diese Richtung bald auf die Partisanenstellung ab. Sie erneuerte sich, als die Dramatiker der Brecht-Nachfolge ihre aktuellen Möglichkeiten erschöpft sahen und sich vorwiegend der Rezeption mythischer Stoffe zuwandten. So schrieben Heiner Müller „Philoktet“ und „Herakles 5“, Peter Hacks „Amphitryon“ oder „Omphale“. Die zweite Richtung, die naturalistische Elemente mit der szenischen Lakonik Brechts verband, entwickelte sich kontinuierlicher. Ihre Hauptvertreter sind Alfred Matusche und Boris Djacenko. Matusche schrieb „Die Dorfstraße“ (1955), „Nacktes Gras“ (1958), „Van Gogh“ (1966), „Das Lied meines Weges“ (1967), „Der Regenwettermann“ (1968), „Kap der Unruhe“ (1970), „An beiden Ufern“ (1971). Von Djacenko ist 1967 „Doch unterm Rock der Teufel“ bekannt geworden. Das frühere Stück „Böckums Pilgerfahrt zur Hölle“ und das spätere „Lern Lachen, Lazarus“ sind bisher weder gedruckt noch gespielt worden.
Die Auffächerung der Schönen L. in der DDR wäre wohl, im ganzen gesehen, noch früher, gründlicher und vielfältiger vonstatten gegangen, wenn die verschiedenen literaturpolitischen Phasen nicht eine Reihe von Schriftstellern vertrieben hätten. Es verließen die DDR u. a. Theodor Plivier, Günter Bruno Fuchs, Carl Guesmer, Horst Bienek, Gerhard Zwerenz, Peter Jokostra, Wolfgang Hädecke, Martin Gregor-Dellin, Ulf Miehe, Jochen Ziem, Uwe Johnson, Heinar Kipphardt, Werner Kilz, Christa Reinig, Helga M. Novak, Hartmut Lange; Manfred Bieler und Peter Huchel. Kinder- und Jugendliteratur.
Fundstelle: DDR Handbuch. Köln 1975: S. 525–535