DDR von A-Z, Band 1975

Ministerium für Staatssicherheit (1975)

 

 

Siehe auch:


 

Durch Gesetz vom 8. 2. 1950 (GBl., S. 95) wurde die nach Gründung der DDR im Ministerium des Innern gebildete „Hauptverwaltung Schutz der Volkswirtschaft“ verselbständigt zum MfS. Dieses Ministerium war nach dem Juni-[S. 572]Aufstand im Jahre 1953 in ein dem Min. des Innern unterstehendes Staatssekretariat umgewandelt worden, bis es am 24. 11. 1955 unter Ernst Wollweber (SED) wieder zum Ministerium gemacht wurde. Seit 1. 11. 1957 ist Erich Mielke, Kandidat des Politbüros der SED, Minister, seit 1959 im militärischen Rang eines Generalobersten. Erster Stellv. Minister ist Generalleutnant Bruno Beater (SED). Weitere stellv. Minister sind die Generalleutnante Fritz Schröder (SED) und Markus Wolf (SED). Letzterer leitet außerdem die wichtige Hauptverwaltung Aufklärung des MfS.

 

Unter der zusammenfassenden Bezeichnung Staatssicherheitsdienst wird die Zentrale des MfS. mit den in den Bezirken und Kreisen bestehenden Bezirksverwaltungen und Kreisdienststellen, den Beauftragten in den Großbetrieben und Strafanstalten sowie den Offizieren, Unteroffizieren und Soldaten des 4.000 Mann starken Wachregiments verstanden, das seit dem 15. 12. 1967 den Namen des Begründers der sowjetischen Geheimpolizei Tscheka, Feliks Dzierzynski, trägt. Die Zentrale befindet sich in Berlin-Lichtenberg. Offizielle Angaben über Aufbau und Gliederung des MfS. werden nicht gemacht. Mit einigem Vorbehalt kann über die Gliederung gesagt werden:

 

In der Hauptverwaltung „Sicherung“ (Abwehr) sind diejenigen Aufgaben zusammengefaßt, die „zur allseitigen Stärkung des Sozialismus, zur rechtzeitigen Aufklärung und konsequenten Verhinderung aller gegen den Sozialismus gerichteten feindlichen Pläne und Absichten“ („Neues Deutschland“ vom 16. 2. 1974) erfüllt werden müssen. Es bestehen dort die Hauptabt. bzw. Abt. „Sicherung der Streitkräfte“, „Abwehr westlicher Nachrichtendienste“ (Nachrichtendienste sozialistischer Staaten sind nicht abzuwehren, denn von dort kann der Natur der Sache nach Spionage nicht begangen werden; Staatsverbrechen, Ziff. 2a), „Sicherung der Wirtschaft“, „Bekämpfung von Untergrundorganisationen und verdächtigen Vereinigungen“, „Sicherung der Forschung“, „Sicherung der Deutschen Volkspolizei“, „Verkehrssicherung“ und „Personenschutz“ (PS): Schutz hoher Staats- und Parteifunktionäre. Technisch und unterstützend wirken die Abteilungen „Ermittlung und Festnahme“, „Untersuchung“, „Chiffrierwesen“, „Archiv und Statistik“, „Haftanstalten“, „Kriminaltechnik“, „Postüberwachung“, „Telefonüberwachung“, „Entwicklung technischer Mittel“. Schließlich gibt es die Abteilungen „Kader und Schulung“, „Information und Agitation“.

 

Das Haupttätigkeitsfeld dieser Hauptverwaltung mit ihren acht operativen Hauptabteilungen ist die DDR selbst. Die Dienststellen des MfS. unterhalten ein weit verzweigtes und alle Lebensbereiche umspannendes Spitzelsystem, das ideologisch mit der notwendigen „politischen Wachsamkeit gegenüber den Feinden der Arbeiterklasse“ begründet wird. Die Spitzel heißen Geheime Informanten (GI) oder Geheime Mitarbeiter (GM). Über ihre Beobachtungen haben sie regelmäßig Berichte zu erstatten, die sie mit ihren Decknamen unterzeichnen müssen. Nach den Arbeitsrichtlinien des SSD sollen nach Möglichkeit nur solche Personen als GI verwendet werden, denen die Bevölkerung wegen ihrer dienstlichen oder parteipolitischen Tätigkeit nicht mit besonderer Zurückhaltung begegnet. Spitzel werden entweder durch Überzeugung oder unter Druck angeworben und verpflichtet.

 

Seit 1955 verfügen auch die Abschnittsbevollmächtigten (ABV) der Volkspolizei über ein eigenes „System von Vertrauenspersonen“. „Vertrauenspersonen“ sind Bürger, die das besondere Vertrauen des ABV verdienen und ihm vertrauliche Mitteilungen geben, die für die Volkspolizei von Interesse sind. Der Spitzelapparat des ABV setzt sich ausschließlich aus Freiwilligen zusammen. Eine besondere Gruppe bilden die Volkspolizeihelfer, Grenztruppenhelfer und ehrenamtliche Mitarbeiter der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion, deren Informationen zwar nicht unmittelbar als Spitzelberichte für den SSD bestimmt sind, die aber durch ihre Tätigkeit dem MfS. wesentliche Erkenntnisse vermitteln. Die Postüberwachung wird durch die in den größeren Postämtern eingerichteten Kontrollstellen („Stelle 12“) durchgeführt. Wenn auch die im Ermittlungsverfahren bis 1954 festgestellten Vemehmungsmethoden des MfS. (Licht-, Wasser- und Kältezellen, Verpflegungsentzug, schwere Mißhandlungen) selten geworden sind, werden doch immer wieder Einzelheiten über mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbarende Vernehmungspraktiken der Untersuchungsorgane des MfS. bekannt (Strafverfahren).

 

Der unter Leitung von Generalleutnant Markus Wolf — Sohn des Dichters F. Wolf und Bruder des langjährigen Präsidenten der AdK. Konrad Wolf — stehenden Hauptverwaltung „Aufklärung“ (HVA) obliegt die offensive Tätigkeit des MfS. Sie stützt sich bei ihrer Tätigkeit, die im Schwerpunkt gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtet ist, auf sog. Residenturen (Spionageköpfe innerhalb und außerhalb der DDR). In der Ost-Berliner Zentrale bestehen 12 Abteilungen mit den Tätigkeitsbereichen: 1. Spionage in Regierungsstellen und Behörden der Bundesrepublik, 2. Politische Parteien und Vereinigungen der Bundesrepublik, 3. Auslandsspionage und westalliierte Botschaften in der Bundesrepublik, 4. NATO-Streitkräfte, 5. Wirtschaftsspionage, 6. Einschleusung von Agenten in den Westen, 7. Auswertung, 8. Diversion (Sabotagevorbereitungen in der Bundesrepublik), 9. Verbindungen im Agentennetz (Funk- und Chiffrierwesen), 10. Dokumentation und Ausweise (Abt. K.), 11. Kartei, Registratur, Archiv (Abt. R.), 12. Kader und Schulung (Abt. K/S.).

 

Eine selbständige spezielle Abteilung ist die in Berlin-Johannisthal, Großberliner Damm 101, befindliche Abt. 21 mit dem Aufgabengebiet „Sicherheitsüberprüfung und Rückführungen“. Sie war 1960 als Folge der sich häufenden Übertritte hauptamtlichen MfS-Personals in den Westen gebildet worden. Sie soll vorbeugende Sicherheitsmaßnahmen für alle hauptamtlichen MfS.-Mitarbeiter ergreifen und etwaige Flüchtlinge aus den Reihen des MfS. im Westen aufspüren und notfalls unter Gewaltanwendung in die DDR zurückholen.

 

In den 50er Jahren hielten es SED und Staatssicherheitsdienst offenbar für notwendig, bestimmte Perso[S. 573]nen, die als Gegner der SED in der Bundesrepublik Deutschland oder in Berlin (West) aktiv in Organisationen oder als Journalisten tätig waren, oder die aus besonders wichtigen Funktionen in den Westen geflüchtet waren, mit Hilfe gedungener krimineller Elemente gewaltsam oder mittels Täuschung oder durch List in die DDR zu verschleppen. Die dabei angewandten Methoden reichten bis zur Giftbeibringung und zum Überfall auf offener Straße. Die Polizei in Berlin (West) hat seit Herbst 1949 295 Fälle von Entführungen aus Berlin (West) registriert, darunter 87 gewaltsam begangene Menschenraub-Verbrechen und 208 durch List inszenierte Entführungen; in weiteren 81 Fällen blieb es beim Versuch.

 

Besonders krasse Fälle waren: Dr. Walter Linse, Leiter der Abt. Wirtschaftsrecht im Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen, 1952 auf der Straße überfallen, vom Staatssicherheitsdienst an die sowjetischen Behörden übergeben und in die Sowjetunion transportiert, inzwischen für tot erklärt; Journalist Alfred Weiland, 1950 auf der Straße überfallen, inzwischen nach Berlin (West) zurückgekehrt; Journalist Karl-Wilhelm Fricke, 1955 durch Giftbeibringung in einer fremden Wohnung, inzwischen in die Bundesrepublik zurückgekehrt; der ehemalige SSD-Kommissar Silvester Murau, 1955 mit Hilfe der eigenen Tochter durch Betäubung aus der Bundesrepublik Deutschland verschleppt, vermutlich zum Tode verurteilt und hingerichtet; der ehemalige Inspekteur (General) der Volkspolizei Robert Bialek, 1956 unter Giftbeibringung in einer fremden Wohnung, tot (in der Haft verstorben oder hingerichtet); Dr. Erwin Neumann, Leiter der Abt. Wirtschaft im Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen, 1958 beim Segeln auf dem Wannsee in Berlin (West) überfallen und verschleppt. Einige der im Auftrag des SSD tätigen Verbrecher wurden gefaßt und vom Landgericht in Berlin (West) zu z. T. langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. In der HVB (Hauptabt. Verwaltung/Bewirtschaftung) sind alle Wirtschafts- und Verwaltungsabteilungen des MfS. zusammengefaßt. Die Personalstärke des MfS. in Berlin-Lichtenberg wird auf 1500 Offiziere und Unteroffiziere und ca. 1600 Zivilangestellte geschätzt.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. Köln 1975: S. 571–573


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.