
Rechtsanwaltschaft (1975)
Siehe auch die Jahre 1953 1954 1956 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1979 1985
1. Entwicklung. Nachdem noch im Jahre 1951 in der R. „die langsamste Vorwärtsentwicklung und die unterentwickeltsten Formen einer neuen Gestaltung“ festgestellt wurden (Neue Justiz, H. 2, 1951, S. 51) und der Versuch, Anwaltskollektive nach sowjetischem Vorbild auf freiwilliger Basis entstehen zu lassen, gescheitert war, erging am 15. 5. 1953 die VO über die Bildung von Kollegien der Rechtsanwälte (GBl., S. 725), der ein „Musterstatut für die Kollegien der Rechtsanwälte“ als Anlage beigefügt war. Damit war die Spaltung der R. vollzogen, die im Staatsratserlaß über die grundsätzlichen Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Rechtspflege (GBl. 1, 1963, S. 21) beschrieben wird: „Sie (die R.) umfaßt die Kollegien der Rechtsanwälte, in denen sich die Mehrzahl der Rechtsanwälte freiwillig zusammengeschlossen haben, und die Einzelanwälte.“ Von den in der DDR nach westlichen Schätzungen praktizierenden 624 Rechtsanwälten (das ist weniger als die Hälfte der in Berlin [West] zugelassenen Rechtsanwälte) gehören 476 den Kollegien an, während 148 ihren Beruf noch frei als „Einzelanwälte“ ausüben. Diesen Einzelanwälten soll in planmäßiger Aufklärungsarbeit klargemacht werden, daß „die Perspektiven ihrer Entwicklung im Anwaltskollegium liegen“ (Neue Justiz, 1958, H. 19, S. 665). Justizminister Heusinger bezeichnet die Zahl der gegenwärtig tätigen Rechtsanwälte als nicht ausreichend, um die vielfältigen Aufgaben, vor allem bei der Beratung und Vertretung der Bürger, optimal zu bewältigen (Neue Justiz, 1973, H. 12, S. 340).
2. Die Kollegien. In jedem Bezirk der DDR und in Berlin (Ost) wurde ein Rechtsanwaltskollegium gebildet, das von einer zentralen Verwaltungsstelle am Sitz des Bezirksgerichts geleitet wird. Leitendes Organ ist der von den Mitgliedern des Kollegiums auf zwei Jahre gewählte Vorstand, der aus seiner Mitte einen Vorsitzenden, dessen Stellvertreter und einen Schriftführer wählt. Die Leitungstätigkeit durch den Vorstand soll kollektiv ausgeübt werden. Durch die Vorsitzenden sind Arbeits[S. 704]pläne aufzustellen, die die Schwerpunkte der auf das Kollegium zukommenden Aufgaben herausstellen sollen. In einigen Kollegien wird versucht, Erscheinungen „falscher Kollegialität in der kollektiven Leitungstätigkeit dadurch zu begegnen, daß der Vorsitzende hauptamtlich ausschließlich Leitungstätigkeit ausübt und von der praktischen anwaltlichen Tätigkeit freigestellt bleibt. Neben dem Vorstand, der auch die Disziplinargewalt über die Mitglieder ausübt, gibt es in jedem Kollegium eine Revisionskommission. Diese kontrolliert alle Mitglieder auf Einhaltung ihrer Pflichten und führt Revisionen in den Zweigstellen des Kollegiums durch. Derartige Zweigstellen bestehen neben der Zentralen Verwaltungsstelle in unterschiedlicher Anzahl in den Bezirken. Sie sind mit einem oder mehreren Anwälten besetzt. Dabei geht die Tendenz auf die Entwicklung und den Ausbau „kollektiver Zweigstellen“ hin, denn „die Einzelzweigstellen verhindern die sozialistische Entwicklung, konservieren überholte Arbeitsweisen und erschweren die Sicherung des Rechts der Bürger auf freie Wahl eines Rechtsanwalts“ (Neue Justiz 1973, H. 12, S. 343). Mit Berechnung und Einziehung der Gebühren haben die Zweigstellen nichts zu tun; dies erfolgt durch die Zentrale Verwaltungsstelle. Nach Abzug der Verwaltungskosten (bis zu 40 v. H.), Steuern, Sozialabgaben und FDGB-Beiträge, werden die Gebühren dem Anwalt, der die Sache bearbeitet hat, überwiesen.
3. Aufsichts- und Kontrollinstanzen. Seit 1957 besteht im Ministerium der Justiz ein „Beirat für Fragen der R.“ und eine „Zentrale Revisionskommission“. § 14 des Statuts gibt der Zentralen Revisionskommission das Recht, „von den Vorsitzenden der Rechtsanwaltskollegien Berichte anzufordern. Die Vorstände und Zweigstellenleiter der Rechtsanwaltskollegien sind verpflichtet, den Revisionsgruppen über alle Fragen Auskunft zu geben, ihnen alle Unterlagen vorzulegen und sie in jeder Weise bei ihrer Arbeit zu unterstützen“. Damit ist in den Kollegien das Anwaltsgeheimnis praktisch beseitigt. Die Revisionskommission ist eng an das die Aufsicht über die R. führende Ministerium der Justiz gebunden. Sie hat seine Anregungen entgegenzunehmen und ihm über die Arbeit der Zentralen Revisionskommission zu berichten (§ 8 a des Statuts). Das Ministerium der Justiz ist auch Leitungs-, Kontroll- und Aufsichtsorgan über die Einzelanwälte. Es gibt also für diese keine Selbstverwaltung, Ehrengerichtsbarkeit oder dergleichen. Für alle Disziplinarmaßnahmen bis zum Ausschluß aus der R. ist das MdJ zuständig und zugleich erste und letzte Instanz.
4. Zulassung. Neuzulassungen als Einzelanwalt sind schon seit 1953 nicht mehr möglich. Das bedeutet, daß in nicht ferner Zukunft dieser Teil der R. völlig verschwunden sein wird. Wer zur R. zugelassen werden will, muß die Aufnahme in ein Kollegium beantragen, denn gemäß § 4 Abs. 1 des Musterstatuts ist mit der Aufnahme die Zulassung als Rechtsanwalt verbunden. Mitglied kann werden, wer eine abgeschlossene juristische Ausbildung hat, ausnahmsweise auch Personen ohne eine solche Ausbildung, soweit sie Erfahrungen aus praktischer juristischer Tätigkeit besitzen.
Gegenüber den Einzelanwälten genießen die Mitglieder der Anwaltskollegien erhebliche Vorrechte. Als Offizialverteidiger und als beigeordneter Rechtsanwalt in Zivilprozessen kann nur ein Rechtsanwalt bestellt werden, der Mitglied des Kollegiums der Rechtsanwälte ist (§ 3 der VO). Vor staatlichen Vertragsgerichten sind Einzelanwälte nicht vertretungsberechtigt. Alle Dienststellen, volkseigenen Betriebe (VEB) und staatlichen Institutionen sind angewiesen, in allen Rechtsangelegenheiten, die eine Mitwirkung eines Rechtsanwalts erfordern, nur Mitglieder der Kollegien der Rechtsanwälte zu beauftragen (§ 4 Abs. 1 der VO). Das sind außer anwaltlichen Beratungen alle zivilrechtlichen Rechtsmittelverfahren vor den Bezirksgerichten bzw. dem Obersten Gericht. Gegenüber dem Einzelanwalt genießt der Kollegiumsanwalt steuerliche Vorteile sowie bessere Sozialleistungen.
5. Aufgaben. Der Rechtspflege-Erlaß des Staatsrates vom 4. 4. 1963 ist zwar durch das Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen und ihre Organe vom 12. 7. 1973 (GBl. I, S. 313) formell aufgehoben worden, aber seine Einordnung der R. als „gesellschaftliche Einrichtung der sozialistischen Rechtspflege“ gilt ebenso fort wie die den Rechtsanwälten gestellte Aufgabe, „durch ihre Tätigkeit zur Festigung der sozialistischen Gesetzlichkeit und zur Entwicklung des sozialistischen Staats- und Rechtsbewußtseins der Bürger“ beizutragen. Hierin wird die der R. obliegende Erziehungsfunktion deutlich. So erklärt es sich auch, daß vor den Gerichten in der DDR nur die dort zugelassenen Rechtsanwälte auftreten dürfen. Ein in der Bundesrepublik Deutschland oder in Berlin (West) zugelassener Rechtsanwalt darf in der DDR nicht auftreten.
Seit dem 1. 9. 1967 besteht in Berlin (Ost) das „Rechtsanwaltsbüro für internationale zivilrechtliche Vertretungen“. Es ist den in verschiedenen Ostblockstaaten bestehenden Rechtsanwaltsbüros für ausländische Rechtsangelegenheiten nachgebildet. Es soll auf zivil-, handeis-, arbeits- und familienrechtlichem Gebiet tätig 1 werden, in der Vertretung von natürlichen und juristischen Personen aus der DDR in anderen Staaten und in der Vertretung von ausländischen Bürgern und juristischen Personen vor Gerichten und Schiedsgerichten der DDR.
Fundstelle: DDR Handbuch. Köln 1975: S. 703–704
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