
Warschauer Pakt (1975)
Siehe auch:
Im Westen gebräuchliche Kurzform für den „Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“, der am 14. 5. 1955 zwischen der UdSSR, Albanien, Bulgarien, Polen, Rumänien, der ČSSR und Ungarn als militärischer Beistandspakt abgeschlossen wurde. Die DDR wurde offiziell am 28. 1. 1956 als Mitglied, die NVA (bis 18. 1. 1956 gab es nur eine „Kasernierte Volkspolizei“) am 24. 6. 1956 in das Vereinte Oberkommando aufgenommen. Albanien ist im September 1968 aus der Paktorganisation ausgetreten. Der WP. soll ausschließlich bei einem Angriff auf einen oder mehrere Unterzeichnerstaaten „in Europa“ wirksam werden. Er wurde auf die Dauer von 20 Jahren abgeschlossen und bleibt danach weitere 10 Jahre in Kraft, wenn er nicht vorher gekündigt wird.
Organe des WP. sind:
Der Politisch Beratende Ausschuß (PBA); ihm gehören die Vorsitzenden der Ministerräte, d. h. die Regierungschefs der Mitgliedstaaten an. Dem PBA stehen Hilfsorganisationen zur Verfügung: a) Ständige Kommissionen (für Logistik, Rüstungsforschung etc.), b) das Vereinte Sekretariat; Vorsitzender ist in Personalunion der Chef des Stabes des Vereinten Oberkommandos. Die Position ist stets mit einem hohen sowjetischen Armeeführer besetzt, gegenwärtig mit Armeegeneral Schtemenko (seit 1968). Der PBA gilt formal als höchstes Organ des WP.
Das Vereinte Oberkommando mit Sitz in Moskau; an der Spitze steht seit 1956 stets ein sowjetischer General, seit 1967 Marschall Jakubowski. Die Verteidigungsminister der Mitgliedstaaten fungieren als seine Stellvertreter. Sie leiten gelegentlich auch gemeinsame Manöver der Paktstreitkräfte.
Das Komitee der Verteidigungsminister (seit 1969); sie sind gleichzeitig stellvertretende Oberbefehlshaber der Vereinten Streitkräfte und Oberste Befehlshaber der Streitkräfte des eigenen Landes. Außerdem delegiert jedes Mitgliedsland einen hochrangigen Offizier als Vertreter in das Vereinte Oberkommando; das Oberkommando seinerseits entsendet einen „Vertreter des Vereinten Oberkommandos“ in jedes Teilnehmerland.
Der Stab des Vereinten Oberkommandos mit Sitz in Moskau. Chef des Stabes ist bisher stets ein sowjetischer Militärführer. Stabskonferenzen mit den Stabschefs bzw. den Chefs der Hauptstäbe der Armeen der Mitgliedstaaten finden regelmäßig statt.
Als beratendes Organ der Militärrat der Vereinten Streitkräfte; Vorsitzender ist ebenfalls der Oberbefehlshaber bzw. Chef des Vereinten Oberkommandos.
Dem Vereinten Oberkommando unterstehen im Kriegsfall alle Land- und Luftstreitkräfte der Teilnehmerstaaten, die Seestreitkräfte Polens, der DDR und der sowjetischen Ostseeflotte auch zu Friedenszeiten der Vereinten Ostseeflotte mit Sitz in Leningrad. In Friedenszeiten unterstellen die Teilnehmerstaaten nur [S. 926]Teile ihrer Streitkräfte dem Vereinten Oberkommando. Ständig unterstellt sind:
die sowjetischen Truppen in Polen (Gruppe Nord — 2 Divisionen), in Ungarn (Gruppe Süd — 4 Divisionen), in der ČSSR (Zentrale Gruppe — Stärke unbekannt); die Gruppe sowjetischer Streitkräfte in Deutschland (GSSD) (Hauptquartier Wünsdorf — 20 Divisionen mit ca. 400.000 Mann, einschließlich 20 Raketen-Bataillonen, die mit taktischen Kurzstreckenraketen ausgerüstet sind. Ferner untersteht der GSSD die 24. Taktische Luftflotte, die als modernste Luftstreitmacht der Roten Armee gilt);
alle bewaffneten Verbände der Nationalen Volksarmee der DDR (NVA, Hauptquartier Strausberg, insgesamt ca. 202.000 Mann, einschließlich Grenz- und Sicherheitstruppen) ohne Einheiten der Territorialverteidigung (ca. 485.000 Mann).
In der konventionellen Bewaffnung scheint der WP. dem Nordatlantischen Verteidigungsbündnis (NATO) zahlenmäßig weit überlegen zu sein.
Allerdings ist die Kampfkraft der Verbände nur schwer einzuschätzen; Vorteile auf seiten des WP. bestehen aber darin, daß die Waffensysteme im Gegensatz zur NATO weitgehend standardisiert und bei einzelnen Typen vollständig vereinheitlicht worden sind.
Die Bewaffnung aller Verbände der Mitgliedstaaten des WP. wurde auch qualitativ der der Roten Armee angeglichen und wird von westlichen Militärexperten als sehr modern und teilweise der NATO überlegen eingeschätzt. Obwohl die UdSSR sowohl der Ausrüstung als auch der Reorganisation der Armeen des WP., insbesondere nach der Invasion der ČSSR 1968, größere Aufmerksamkeit widmete, hat sie bisher weder Atomwaffen noch strategische Trägersysteme an die Armeen der übrigen Mitgliedstaaten weitergegeben. Unbekannt ist, ob sie Personal der anderen „Bruderarmeen“ an atomaren Waffen ausbildet.
Seit 1961 werden gemeinsame Manöver der WP.-Staaten abgehalten. Neben einer großen Zahl von Kommando- bzw. Kommandostabs-, Nachschub- und Flotten[S. 927]übungen fanden u. a. folgende größere Landmanöver statt:
September 1962 „Vito,“ (UdSSR, DDR, ČSSR) September 1963 „Quartett“ (UdSSR, DDR, Polen, ČSSR)
April 1965 „Manöverübung Berlin“ (UdSSR, DDR) Oktober 1965 „Oktobersturm“ (UdSSR, DDR, Polen, ČSSR)
September 1966 „Moldau“ (UdSSR, DDR, ČSSR, Ungarn)
Juli/August 1968 „Njemen“ (UdSSR, DDR, Polen, Ungarn)
September/Oktober 1969 „Oder-Neiße“ (UdSSR, Polen, DDR)
Oktober 1970 „Waffenbrüderschaft“ (UdSSR, DDR, ČSSR, Ungarn, Bulgarien, Rumänien) Oktober/November 1972 „Schild“ (UdSSR, DDR, ČSSR, Polen, Ungarn)
Die NVA nimmt im Rahmen der Vereinten Streitkräfte des WP. eine Sonderstellung ein:
Sie gilt gegenwärtig als bestausgerüstete Truppe neben der Roten Armee.
Ihre Verbände gehören der 1965 gebildeten „1. Strategischen Staffel“, d. h. einer Gruppierung an, die vor allem aus Truppen der UdSSR, der DDR und Polen besteht. Diese voll mobile Formation hat im Fall einer kriegerischen Auseinandersetzung besondere Aufgaben zu erfüllen. Westliche Manöveranalysen legen die Vermutung nahe, daß sie auch für offensive Einsätze gerüstet ist.
[S. 928]
DDR-Verteidigungsminister H. Hoffmann hat bisher, als einziger der Stellvertreter des sowjetischen Oberkommandierenden, (mindestens) 2 große Manöver geleitet („Quartett“ und „Waffenbrüderschaft“).
Als einzige Armee ist die NVA voll in die Vereinten Streitkräfte integriert, sie besitzt keinen eigenen Generalstab.
Die Analyse des Textes des Warschauer Vertrages zeigt eine entscheidende Benachteiligung der DDR: Während alle nichtdeutschen Fassungen festlegen, daß die Teilnehmerstaaten selbst Umfang und Zeitpunkt der von ihnen zu leistenden Hilfe (im Beistandsfall) bestimmen, heißt es in der deutschen Übersetzung, daß der von der DDR zugunsten der anderen Mitglieder zu leistende Beistand von diesen bestimmt wird (Art. 11. Abs. 3). Im Gegensatz zu dem Stationierungsvertrag, der den Aufenthalt sowjetischer Truppen in Polen regelt und der polnischen Regierung formell ein Mitspracherecht bei Truppenbewegungen einräumt, sieht der Truppenstationierungsvertrag zwischen DDR und UdSSR (1957) nur eine „Verständigung“ vor.
Die politische Bedeutung des WP. resultiert vor allem aus seiner Funktion für die Blockpolitik der UdSSR. Aufgrund ihres militärischen und politischen Übergewichts in der Paktorganisation sichert er der sowjetischen Führung die Kontrolle über alle Streitkräfte der übrigen Staaten, die in Ausbildung, Ausrüstung, Bewaffnung und Logistik vollständig von der UdSSR abhängig sind. Darüber hinaus ist es der UdSSR möglich, durch direkte und indirekte Beeinflussung im Rahmen des WP., ihre sicherheits- und militärpolitischen Vorstellungen innerhalb ihres Einflußbereiches uneingeschränkt zur Geltung zu bringen.
Über die unmittelbare militärische Bedeutung des WP., d. h. seine Verteidigungsfunktion für das westliche Glacis der UdSSR, hinaus, garantiert er gleichzeitig die politische Stabilität des „sozialistischen Lagers“, wie der Einsatz der WP.-Truppen im August 196,8 in der ČSSR deutlich macht. Ein Austritt aus der Paktorganisation, wie 1956 von der Regierung Nagy in Ungarn verkündet, wird von der UdSSR als Angriff gegen alle Mitglieder verstanden. Er hat den Einsatz militärischer Machtmittel der „Verbündeten“ zur Folge und ist daher praktisch unmöglich.
Die für den Fall der Auflösung der NATO dem Westen angebotene Kündigung des Warschauer Vertrages ist politisch ohne Bedeutung, da gegenwärtig zwischen allen Mitgliedstaaten und der UdSSR (wie zwischen den Teilnehmerländern selbst) bilaterale Beistandspakte geschlossen wurden, die von einer Auflösung des WP. nicht betroffen wären. Die DDR hat mit der UdSSR (1964), mit Polen, ČSSR, Ungarn und Bulgarien (1967) und Rumänien (1972) ebenfalls derartige zweiseitige Verträge unterzeichnet, deren Beistandsklauseln denen des WP. entsprechen.
Die militärische Niederschlagung des ungarischen Aufstandes 1956 und die bewaffnete Invasion von Truppen des WP. in der ČSSR 1968 stellen bisher die einzigen Fälle der „Anwendung“ des Warschauer Vertrages dar. In beiden Fällen handelt es sich um einen objektiven Bruch des Vertrages, der nur gegen Angreifer „von außen“ wirksam werden sollte.
Fundstelle: DDR Handbuch. Köln 1975: S. 925–928