Wissenschaft (1975)
Siehe auch die Jahre 1954 1956 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1979 1985
W. im weitesten Sinne bezeichnet im Verständnis des Marxismus-Leninismus den fortdauernden Prozeß der Gewinnung neuer Erkenntnisse — „die höchste Form der theoretischen Tätigkeit der Menschen“ — und als deren Ergebnis den gesamten Vorrat menschlichen Wissens über die Gesetzmäßigkeiten der Natur, Gesellschaft und des Denkens. Gemäß diesem Verständnis ist W. nicht Selbstzweck, sondern Hilfsmittel zur Gestaltung des praktischen Lebens. W. dient der Beherrschung der natürlichen und sozialen Umwelt: W. ist „das aus der gesellschaftlichen Praxis erwachsende, sich ständig entwickelnde System der Erkenntnisse über die wesentlichen Eigenschaften, kausalen Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten der Natur, der Gesellschaft und des Denkens, das in Form von Begriffen, Kategorien, Maßbestimmungen, Gesetzen, Theorien und Hypothesen fixiert wird, als Grundlage der menschlichen Tätigkeit eine wachsende Beherrschung der natürlichen und — seit der Beseitigung der antagonistischen Klassengesellschaft — auch der sozialen Umwelt ermöglicht und durch die Praxis fortlaufend überprüft wird“ (Philosophisches Wörterbuch, Bd. 2, 6. Aufl., Berlin [Ost] 1969).
Die allgemeine Kennzeichnung der W. als eine „komplizierte und vielschichtige soziale Erscheinung“ hat sich in der philosophischen und wissenschaftstheoretischen Li[S. 951]teratur der DDR weitgehend durchgesetzt. Bei der genaueren Bestimmung des W.-Begriffs werden verschiedene „Merkmale“, „Aspekte“, „Zusammenhänge“ oder „Funktionen“ nebeneinander gestellt, ohne daß jedoch das primäre Merkmal bzw. der Zusammenhang der „Aspekte“ und „Funktionen“ genügend deutlich wird. So etwa wird die moderne W. im Philosophischen Wörterbuch (a. a. O.) als eine „spezifische Form des gesellschaftlichen Bewußtseins, ein besonderes Gebiet der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, eine soziale Institution und unmittelbare Produktivkraft der Gesellschaft sowie theoretische Grundlage der Leitung der Gesellschaft“ dargestellt.
Die Vielzahl der W.-Definitionen führt vor allem folgende Momente an: 1. W. das System von Wissen und als System von Theorien und Methoden, 2. W. als Form menschlicher Tätigkeit, 3. W. als Form gesellschaftlichen Bewußtseins, 4. W. als Bereich gesellschaftlicher Arbeitsteilung, als soziale Institution, 5. W. als Produktivkraft der Gesellschaft, 6. W. als Grundlage für die Leitung und Planung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung.
Die Aufnahme der einzelnen Momente und Seiten der W. und ihre marxistisch-leninistische Analyse erfolgten in der Vergangenheit durchaus nicht einheitlich. Sie wurden insbesondere von den unterschiedlichen disziplinären Betrachtungsweisen beeinflußt. So war es lange Zeit umstritten, ob aus der von marxistischen Erkenntnistheoretikern bevorzugten Darstellung der W. als einer Erscheinung des gesellschaftlichen Bewußtseins zu folgern sei, daß nicht die W. selbst, sondern nur ihre Ergebnisse Produktivkraftfunktion haben könnten. Dies wurde von Vertretern der Produktivkraftlehre des historischen Materialismus bestritten. Stärker als in der Vergangenheit wird seit dem VIII. Parteitag der SED (15.–19. 6. 1971) die Aufgabe der W. hervorgehoben, theoretische Grundlagen für die weitere Ausgestaltung des Gesellschaftssystems der DDR zu liefern und insofern vor allem Instrument zur Leitung der gesellschaftlichen Entwicklung zu sein. In der wissenschaftstheoretischen Diskussion wurde in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, W. primär von dieser Aufgabenstellung her zu bestimmen und etwa auch die Produktivkraftfunktion der W. einer solchen hauptsächlichen Bestimmung nachzuordnen.
Die allgemeine Abklärung und Definition dessen, was W. ist, ist Aufgabe der philosophischen Grundlagenforschung, d. h. die Bestimmung des Gegenstandes der W. und die Beantwortung der Fragen nach der Ziel- und Zwecksetzung von W. sowie der Art ihrer Praktizierung erfolgen ausschließlich auf der Grundlage und im Rahmen des historischen und dialektischen Materialismus. Bis Mitte der 60er Jahre befaßte sich die marxistische Philosophie vorzugsweise mit Einzelaspekten der W. und der W.-Entwicklung. Historischer und dialektischer Materialismus sowie marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie behandelten ihre die W. betreffenden Aspekte zu isoliert, als daß die weltweit zu beachtenden „revolutionären“ Veränderungen der W. umfassend analysiert werden konnten. Diese Veränderungen, die die W. vor allem seit dem II. Weltkrieg erfährt, bestehen neben einer rapiden quantitativen Zunahme des Wissens und einer erhöhten Formalisierung und Symbolisierung der W.-Sprache in erster Linie in einer fortschreitenden Differenzierung und Integration früher relativ stabil abgegrenzter Einzeldisziplinen wie auch in einer stärkeren sozialen Institutionalisierung der wissenschaftlichen Tätigkeiten.
Seit 1967 wurde wiederholt von einzelnen Wissenschaftlern sowie von der SED-Führung (Beschluß des SED-Politbüros über „Die weitere Entwicklung der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften in der DDR“ vom 22. 10. 1968) die Untersuchung der W. sowohl als Ganzes als auch im Hinblick auf die Gesellschaftsentwicklung und in diesem Zusammenhang die Ausarbeitung einer W.-Theorie gefordert. Nachdem gegenwärtigen Stand der Diskussion zur Bestimmung des Gegenstandes der W.-Theorie soll sie die Gesamtheit der W. sowie die Gesetzmäßigkeiten ihrer Entwicklung, Struktur, Funktion, Leitung und Organisation untersuchen. Im Mittelpunkt soll der alle Aspekte von W. vereinende „reale Prozeß der wissenschaftlichen Tätigkeit“ stehen. Von der W.-Theorie wird ein wichtiger Beitrag zur theoretischen Fundierung der W.-Politik, -Planung und -Organisation erwartet. Sie soll darüber hinaus eine einheitliche theoretische Ausgangstage für die bisher unter der Bezeichnung W. von der IT. zusammengefaßten W.-Forschungen unterschiedlicher Art abgeben.
Dies sind vor allem erkenntnistheoretische, philosophische, methodologische, logische, semiotische und soziologische Untersuchungen der W. a) als Erkenntnissystem, b) als soziale Institution und c) als informationsverarbeitendes System. Erste wissenschaftstheoretische Studien werden gegenwärtig zum Problem der Bestimmung von Auswahlkriterien für die langfristige Grundlagenforschung, zur Überleitungsproblematik sowie zu den Kommunikationsprozessen in interdisziplinären Forschungsgruppen durchgeführt. Marxismus-Leninismus; Forschung.
Fundstelle: DDR Handbuch. Köln 1975: S. 950–951
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