DDR von A-Z, Band 1975

Ästhetik (1975)

 

 

Siehe auch die Jahre 1969 1979 1985

 

I. Allgemeine Grundlagen

 

 

Ä. wird im Marxismus-Leninismus der DDR begriffen als „Wissenschaft vom Wesen, den Gesetzen, den historisch-gesetzmäßigen (Entstehungs- und) Entwicklungsprozessen des objektiv Ästhetischen in Gesellschaft und Natur, der subjektiven ästhetischen Empfindungen und Gefühle; des ästhetischen gesell[S. 58]schaftlichen Bewußtseins; der ästhetischen Beziehungen der Künste zur gesellschaftlichen Wirklichkeit und des gesamten Systems der Beziehungen von Kunst und Gesellschaft; der grundlegenden Besonderheiten des künstlerischen Denkens und der hauptsächlichen Bestimmungen des Inhalts und der Form künstlerischer Werke; des Systems der verschiedenen Künste, ihrer Wechselbeziehungen und grundlegenden Besonderheiten“ (Kulturpol. Wörterbuch, Hrsg. Harald Bühl et al., Berlin 1970, S. 39). Ä. im engeren Sinne wird oft als „Wissenschaft vom Schönen“ bezeichnet.

 

Die marxistisch-leninistische Ä. steht in engem Verhältnis zur marxistischen Erkenntnistheorie (Marxismus-Leninismus), zur Psychologie, zur Pädagogik und zur Soziologie. Sie konzentriert sich auf die Herausarbeitung aller objektiven und subjektiven ästhetischen Erscheinungen in der geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklung. Sie soll zur planmäßigen Gestaltung der Kultur der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ beitragen und sich dabei von einer Wissenschaft, die sich ausschließlich mit der Deutung ästhetischer Phänomene befaßt, zu einer „produktiven“ Wissenschaft wandeln. Die ästhetische Kultur soll durch die Massenkommunikationsmittel dynamisiert und gefördert. die Ä. für die Steuerung der Gesamtgesellschaft mit herangezogen werden.

 

Die marxistisch-leninistische Ä. konzentriert sich auf folgende Kategorien bzw. Kategorienpaare: das Schöne und das Häßliche, das Erhabene und das Niedrige, das Tragische und das Komische. Sie beschäftigt sich ferner mit den einzelnen Kunstgattungen sowie der „Dialektik“ von Form und Inhalt in der Kunst und den Beziehungen zwischen Künstler und Gesellschaft (Klassen; Volk; Nation).

 

Im einzelnen geht die marxistisch-leninistische Ä. von folgenden Voraussetzungen aus: Die objektive Welt ist vom Subjekt unabhängig. Sie wird im subjektiven Bewußtsein widergespiegelt. Für das Bewußtsein gelten daher dieselben Gesetze der Dialektik, die in der objektiven Realität gelten. Die gesellschaftliche Umwelt entwickelt sich jedoch in historischen Gesetzmäßigkeiten. Die einzelnen Subjekte sind in dieser historisch-gesellschaftlichen Umwelt Teile und spiegeln sie daher entsprechend ihrem Stand innerhalb der historischen Entwicklung der Gesellschaft wider. Da die Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, nimmt auch die Widerspiegelung einen jeweils bestimmten Platz innerhalb dieser Klassenkämpfe ein. Die Kunst als eine „spezifische Art und Weise der Widerspiegelung der Wirklichkeit“ ist daher nicht neutral; Kunst ist stets „parteilich“ (Parteilichkeit).

 

Das ästhetische Bewußtsein spiegelt das Sein nicht einfach wider, sondern lenkt die Tätigkeit des Menschen und wird zu einer subjektiven Voraussetzung für die praktische Veränderung der Welt. Damit ist zweierlei gesetzt: 1. die Kunst ist jeweils auch die Widerspiegelung einer bestimmten politischen Position; 2. die Kunst hat als Form des Bewußtseins eine handlungsanleitende und damit erzieherische Funktion.

 

In der Geschichte ist die Kunst stets Ausdruck der Ideologie der sie tragenden Klasse und des Standortes, den diese Klasse im Geschichtsverlauf einnimmt. Solange z. B. die „Bourgeoisie“ noch „fortschrittlich“ gewesen ist und gegen die Feudalaristokratie um demokratische Rechte gekämpft hat, hatten die bürgerliche Kunst, Malerei, Literatur und Musik eine hohe Blüte erlebt. Mit dem Aufkommen der „Arbeiterklasse“ jedoch wurde die „Bourgeoisie“ historisch überholt, ihre Kunst verfiel. Besonders stark zeigt sich dies im „Imperialismus“. Die Verachtung der Massen und damit des Menschen offenbarte die Kunst in ihrer Esoterik (l'art pour l'art, Formalismus), in ihrer Unverständlichkeit und Inhaltsleere. Wie die „Bourgeoisie“ ihren Sinn in der Geschichte eingebüßt hat, hat der reaktionäre bürgerliche Künstler keinen Sinn mehr widerzuspiegeln. Kunst ist sinnliche Widerspiegelung der Realität. Die adäquate Methode ist die des Realismus. Das künstlerische Material muß so bearbeitet werden, daß die objektiven und sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen in ihm wiedererkannt werden können. Dabei wird unterschieden zwischen dem bürgerlichen, kritischen Realismus, der die Realität der bürgerlichen Gesellschaft kritisiert, ohne schon ihre Ursachen und das in ihr ruhende Neue zu entdecken, dem dekadenten Naturalismus, der sich in der genauen Wiedergabe der Oberfläche der Phänomene erschöpft, und dem sozialistischen Realismus, der zum historisch-fortschrittlichen Wesen der Erscheinungen vorstößt.

 

Das Aufzeigen dieses Wesens in seinen sinnlich-konkreten Erscheinungsformen wird mit dem Begriff des Typischen analysiert. Indem sie Typisches, das in einem Auswählen und Umstrukturieren der Vorgefundenen Realität besteht, darstellt, erfüllt die Kunst ihre erkenntnisvermittelnde Funktion. Gleichzeitig ist durch die Erfahrung des Typischen ein normatives Element in die Kunst integriert: Typisch kann nur etwas sein, was das Wesen der (sozialistischen) Gesellschaft „richtig“ widerspiegelt.

 

Die künstlerische Qualität eines Werkes erschöpft sich im Verständnis des Marxismus-Leninismus jedoch nicht in der „richtigen“ Wiedergabe des Typischen. Gleichzeitig muß das Problem des Verhältnisses von Form und Inhalt in harmonischer Weise gelöst sein. Dabei ist der Inhalt das Primäre. Ein bestimmter Inhalt zieht eine bestimmte Form nach sich. Allerdings ist die Abhängigkeit der Form vom Inhalt nicht einseitig determiniert. Auch ein historisch richtiger Inhalt kann in eine historisch inadäquate Form gefaßt sein. Vollkommen ist nur das Kunstwerk, in dem Inhalt und Form harmonisch [S. 59]übereinstimmen. Wo der Inhalt ein historisches Verfallsprodukt ist (wie z. B. in der reaktionären bürgerlichen Literatur und Kunst von Joyce bis Beckett, von den Futuristen bis zu den Gegenstandslosen), mag zwar eine Form-Inhalt-Harmonie bestehen, aber sie ist ästhetisch wertlos, da der Inhalt historisch überholt ist.

 

Ein zentraler Begriff innerhalb der marxistisch-leninistischen Ä. ist ferner der Begriff des Schönen. Hauptquelle des Schönen in der Kunst ist das Schöne im Leben. Schön ist etwas, das ein positives ästhetisches Urteil hervorruft. Damit ist Schönheit jedoch nicht bloß subjektive Empfindung. Ihre Wahrnehmung ist nichts anderes als eine Widerspiegelung bestimmter objektiver Eigenschaften der Wirklichkeit, des objektiv Schönen. Zwar hat es, nach marxistisch-leninistischer Auffassung, in der Geschichte verschiedene Schönheitsbegriffe gegeben. Diese beleuchteten jedoch nur jeweils verschiedene Seiten des An-Sich-Schönen, das damit eine ahistorische Kategorie darstelle. Das Schöne sei darüber hinaus kein ausschließliches Merkmal der Kunst. Jede beliebige und vergegenständlichte Arbeit des Menschen schlösse Momente des Schönen ein. Neben dem ahistorischen Schönheitsbegriff bestehe ein mit dem des Wesens, des Typischen verbundener historischer Begriff des Schönen. Schönheit komme dem Wesen der fortschrittlichen Gesellschaft zu.

 

II. Historische Entwicklung

 

 

Die Entwicklung der Ä. in der DDR läßt sich in drei Hauptetappen untergliedern:

 

1. Bis 1956 sind folgende Richtungen zu unterscheiden: die dogmatische mit einem besonders engen Realismusbegriff, die verschiedenen Tendenzen im Umkreis von Georg Lukács und schließlich Auffassungen im Umkreis von Bertolt Brecht.

 

2. Charakteristisch für die Zeit bis etwa 1962 waren vor allem die Versuche, den Einfluß von Lukács zurückzudrängen und einen neuen Realismusbegriff zu finden.

 

3. Bis zur Gegenwart werden diese Diskussionen fortgeführt. Gleichzeitig ist eine starke Konzentration auf das Problem der gesellschaftspolitischen Wirkung des Kunstwerkes zu beobachten.

 

A. 1. Die dogmatische Richtung in der Ä. der DDR (vertreten u. a. durch W. Girnus und A. Kurella), die Grundlage der offiziellen Kulturpolitik war, ging von einem engen Realismusbegriff aus. Dieser galt sowohl für die Malerei als auch für die Literatur sowie für die Architektur und die Musik. Als das spezifische Neue des sozialistischen Realismus galt der neue Inhalt. Die neuen Beziehungen der Menschen, denen Schönheit, Kraft usw. zukommen soll, müssen im Kunstwerk zum Ausdruck gebracht werden. Daher rührt der stark monumentale, emblematische Charakter der bildenden Kunst und der typisierende, „schönfärbende“ der Literatur, daher z. B. die Betonung des positiven Helden, der Mut, Klugheit, Fleiß, Hingabe an die Sache des Sozialismus in sich vereinigt.

 

2. Die andere Richtung hatte ihren Hauptvertreter in Georg Lukács. Sie bildete allerdings keine einheitliche Schule. Neben Lukács waren Ernst Bloch, Wolfgang Harich und Hans Mayer ihre herausragenden Repräsentanten. Diese marxistisch-leninistische Ä. ging von einem freieren Verhältnis von Basis und Überbau aus und damit letztlich auch von einem anderen Geschichtsbegriff. Die einzelnen Individuen, die in der Geschichte stehen, seien ideologisch zwar an ihre Klasse gebunden, ihre geistigen Arbeiten jedoch schafften eine neue Realität, die ihre eigenen Gesetze habe, mittels derer sich ein schöpferischer Geist aus seiner Klassengebundenheit lösen könne. Damit wurde sowohl die Rolle des schöpferischen Subjekts als auch die des Geistigen gegenüber der (gesellschaftlichen) Basis stärker betont. Obwohl Lukács selbst einen engen, vor allem Balzac als Richtmaß nehmenden Realismusbegriff besaß, wurde besonders von dieser Position her Kritik an der Praxis des sozialistischen Realismus geübt.

 

3. Eine dritte Richtung, die — relativ unabhängig, wenn auch auf die Literatur und das Theater beschränkt — zu jener Zeit bestand, gründet sich auf die Anschauungen Bertolt Brechts. Auch sie kannte eine starke Betonung der Rolle des Subjekts. Das Schauspiel sollte keine Autorität sein, der sich das Publikum kritiklos unterordnet, sondern Gegenstand kritischen Überlegens. Um dies zu erleichtern, wurde der Ablauf der Spielhandlung „verfremdet“. Weder Schauspieler noch Zuschauer sollten sich mit den dargestellten Personen identifizieren. (Brechts Theorie der Verfremdung ist bis heute Bestandteil der marxistisch-leninistischen Ä. in Ost und West.)

 

B. Nach dem XX. Parteitag der KPdSU (1956) veränderte sich auch die kulturpolitische Szene in der DDR. In der ästhetischen Theorie setzte sich eine neue Konzeption des sozialistischen Realismus durch. Hatte die dogmatische Richtung im Anschluß an Shdanow die Kunstgeschichte noch als Kampf zwischen Realismus und Antirealismus betrachtet und sie dem Kampf zwischen Idealismus und Materialismus in der Philosophiegeschichte gleichgesetzt, so wurde der Realismusbegriff nun historisiert. Als seine Entstehungszeit ist meist das Aufkommen des Bürgertums angegeben worden. Gleichzeitig wurde eine größere Autonomie des Inhalts gegenüber der Form postuliert. Der Akzent verschob sich von der „getreuen Wiedergabe der Realität“ auf die „wahrheitsgetreue Wiedergabe“. Darin war impliziert, daß ein richtiger Inhalt sich eine eigene Form suchen müsse. Allerdings wurde mit der Betonung des Inhalts zugleich die formale Einheit des Kunstwerks gefordert. Die Details sollten sich nicht verselbständigen — weder in der photographischen Wiedergabe [S. 60]der Realität noch im formalistischen Sinn. In dieser Aufnahme der Realismusdiskussion war die Kritik an der Theorie des Realismus, wie sie Georg Lukács vertrat, enthalten. Nicht der „große (bürgerliche) Realismus“ von Balzac bis Tolstoi sollte den ästhetischen Maßstab bilden, sondern die gesellschaftliche Wirklichkeit in der DDR.

 

Eine wichtige Neuerung in der ästhetischen Theorie war zu jener Zeit die begrifflich exaktere Unterscheidung von Kunst und Wissenschaft. In Anlehnung an die Konzeption des sowjetischen Ästhetikers A. I. Burow wurde postuliert, daß Kunst und Wissenschaft einen je anderen Gegenstand hätten. Der eigentliche Gegenstand der Kunst sei das menschliche Wesen, der Mensch als gesellschaftliches Wesen, das sowohl in seiner individuellen wie in seiner gesellschaftlich-historischen Totalität von den Gesellschaftswissenschaften nicht erfaßt werde. Ferner wurde der analoge Charakter von materieller und geistiger, künstlerischer Arbeit stärker betont. Die Rolle des Künstlers und seine gesellschaftliche Arbeit rückten in den Vordergrund. Kunst wurde als „Praxis“ konzipiert. Sie sei mehr als bloß Erkenntnis, und dieses Mehr gewährleiste erst wahrhaften Realismus. Auch hier ist eine Frontstellung gegen Lukács und seine Konzeption des Künstlers als „Partisan“ deutlich zu erkennen.

 

C. Die beiden Hauptthemen der marxistisch-leninistischen Ä. der späten 50er Jahre, die Frage „Was ist sozialistischer Realismus?“ und das Problem der Stellung des Künstlers in der sozialistischen Gesellschaft, werden bis in die Gegenwart — unabhängig von den Anschauungen Georg Lukács' — weiterverfolgt.

 

Weiterer Schwerpunkt der ästhetischen Diskussion ist seit den frühen 60er Jahren die Frage der „Volksverbundenheit“ der Kunst. Volksverbundenheit bedeutet einerseits, daß die Kunst erzieherischen Charakter besitzt bzw. besitzen soll, dessen Vorbedingungen Verständlichkeit, Vermittlung von Erkenntnis und eines bestimmten Lebensgefühls sowie Parteilichkeit sind; andererseits, daß die Kunst sich den Prinzipien des sozialistischen Realismus unterzuordnen bzw. diese weiterzuentwickeln habe. Diese Konzeption enthält die Aufhebung der Trennung von hoher Kunst und Volkskunst, die auf der ersten Bitterfelder Konferenz (24. 4. 1959) durch die Initiierung der Bewegung „schreibender Arbeiter“ unterstrichen, jedoch auf der zweiten Bitterfelder Konferenz (24./25. 4. 1964) durch eine stärkere Betonung der Arbeitsteilung zwischen Berufs- und Laienkünstler partiell wieder zurückgenommen worden ist (Kulturpolitik).

 

Neben den eher programmatischen und abstrakt-philosophischen Erörterungen zu diesen Themen in der gegenwärtigen marxistisch-leninistischen Ä. sind im Zusammenhang mit der Entwicklung der Literatur- und Kunstsoziologie empirische Methoden zunehmend auch von der marxistisch-leninistischen Ä. diskutiert worden. Die Akzentuierung des Kunstwerkes als eines neben anderen Arbeitsprodukten, des Künstlers als „Arbeiter“ sowie die für die marxistisch-leninistische Ä. charakteristische Blickrichtung auf die Wirkung des Kunstwerks scheinen einen unmittelbaren Zugang zur empirischen Forschung zu eröffnen. Andererseits jedoch ist die marxistisch-leninistische Ä., stärker als die marxistisch-leninistische Soziologie, von einem grundlegenden Mißtrauen gegenüber dem „Empirismus“ (dessen Erkenntnisse als „ahistorisch“ und „abstrakt“, „zergliedernd“ abgewertet werden) durchdrungen und hat deshalb empirische Methoden nur zögernd angewendet.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. Köln 1975: S. 57–60


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

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