Arbeitsorganisation, Wissenschaftliche (WAO) (1975)
I. Definition
In der DDR wird WAO heute wie folgt definiert: „Wissenschaftliche Arbeitsorganisation (WAO) ist die Gestaltung des Zusammenwirkens der Werktätigen mit ihren Arbeitsmitteln und ihren Arbeitsgegenständen, ihrer Beziehungen untereinander im Arbeitsprozeß sowie der Umweltbedingungen entsprechend den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Sie hat das Ziel, solche Bedingungen für die Tätigkeit der Werktätigen zu schaffen, die ihnen hohe Leistungen ermöglichen sowie ihre allseitige körperliche und geistige Entwicklung fördern …“
II. Entwicklung der WAO
Bereits in seiner im Frühjahr 1918 erschienenen Schrift „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“ verweist Lenin auf die Notwendigkeit der Steigerung der Arbeitsproduktivität durch eine grundsätzli[S. 42]che Verbesserung der Arbeitsorganisation unter Ausnutzung des neuesten Standes von Wissenschaft und Technik. Dieser Forderung entspricht in ihren Grundzügen die Interpretation der WAO, wie sie auf der zweiten Allunionskonferenz zur wissenschaftlichen Arbeitsorganisation im März 1924 gegeben wurde. WAO wurde damals bestimmt als „Prozeß der Einführung der durch Wissenschaft und Praxis erzielten Vervollkommnung zur Erhöhung der allgemeinen Arbeitsproduktivität in die vorhandene Arbeitsorganisation“.
Bis Anfang der 30er Jahre findet die WAO in der UdSSR große Bedeutung. Die Diskussion bewegte sich vor allem um die Frage der Anwendbarkeit des Taylor-Systems unter den Bedingungen der Sowjetunion.
Einen nahezu vollständigen Zusammenbruch erleiden die Bemühungen um die WAO Mitte der 30er Jahre. Gesellschaftliche Organisationen, die sich mit Problemen der WAO befaßten, wurden aufgelöst, wissenschaftliche Forschungseinrichtungen (so z. B, das Zentralinstitut für Arbeit) geschlossen, Fachzeitschriften mußten ihr Erscheinen einstellen. Neben objektiven Ursachen, der Herstellung und Wiederherstellung der industriellen Basis des Landes sind es vor allem subjektive Faktoren, die die Beseitigung der WAO in der UdSSR auslösen: Stalin glaubte, auf ein wissenschaftliches Herangehen an die Probleme der Arbeitsorganisation verzichten zu können, zumal die dogmatische Verneinung der Möglichkeit der Ausnutzung der Erfahrungen kapitalistischer Länder im Bereich der WAO eine unüberwindliche ideologische Barriere darstellte.
Erst Ende der 50er Jahre gewinnt die WAO in der UdSSR wieder an Bedeutung. Die Beseitigung einer Reihe ideologischer Hemmnisse der Stalin-Ära auf dem XX. Parteitag der KPdSU (1956) ermöglichte die sachliche Auseinandersetzung mit den Problemen der Arbeitsorganisation, zumal die wissenschaftlich-technische Entwicklung nach neuen Formen der Rationalisierung und Organisation des Arbeitsprozesses drängte.
Seit der „Allunionskonferenz zur Arbeitsorganisation in Industrie und Bauwesen“, die im Juni 1967 in Moskau stattfand, existiert eine für alle Mitgliedsstaaten des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe verbindliche Definition für die „Wissenschaftliche Arbeitsorganisation“ in Gestalt einer Empfehlung. In den Verlautbarungen der Allunionskonferenz heißt es: „Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist eine solche Arbeitsorganisation als wissenschaftlich anzusehen, die auf den Errungenschaften der Wissenschaft und der systematisch in die Produktion überführten fortgeschrittenen Erfahrungen beruht, die es gestattet, Technik und Menschen im einheitlichen Produktionsprozeß bestmöglich miteinander zu vereinigen, die die effektivste Ausnutzung der Material- und Arbeitsressourcen sowie die allmähliche Verwandlung der Arbeit in das erste Lebensbedürfnis fördert.“
Eine prinzipielle Abgrenzung zwischen Arbeitsorganisation einerseits und wissenschaftlicher Arbeitsorganisation andererseits läßt sich — im Selbstverständnis der Arbeitswissenschaftler der DDR — aus der Praxis der sozialistischen Wirtschaftsführung nicht herleiten, da sich der Unterschied zwischen beiden Begriffen „vor allem aus der Methode aus dem Herangehen an die Lösung ein und derselben Probleme, aus dem Grad der wissenschaftlichen Begründung der konkreten Lösungen“ ergibt.
III. WAO als angewandte Arbeitswissenschaft
Mit den gegebenen Definitionen ist bereits die Aufgabenstellung der WAO umrissen. Sie ist auf die Ziele und Aufgaben der sozialistischen Rationalisierung ausgerichtet und umfaßt vier Hauptaspekte: die Steigerung der Arbeitsproduktivität (Senkung des Aufwandes an lebendiger Arbeit bei gleicher oder steigender Produktmenge pro Zeiteinheit); die Senkung des Aufwandes an vergegenständlichter Arbeit (Materialeinsparung); die Verbesserung der Arbeitsbedingungen; die allseitige Entwicklung sozialistischer Persönlichkeiten und der Arbeitskollektive.
Die wissenschaftliche Organisation des Arbeitsprozesses, das Zusammenwirken der Werktätigen mit Arbeitsmitteln und Arbeitsgegenständen unter bestimmten Umweltbedingungen, ihre wechselseitigen Beziehungen im Arbeitsprozeß, setzen umfassende Kenntnisse über das körperliche und geistige Arbeitsvermögen der Menschen unter den spezifischen Bedingungen verschiedenartiger Arbeitsprozesse voraus. Diese Kenntnisse werden durch die Arbeitswissenschaften bereitgestellt: Arbeitsingenieurwesen, Arbeitshygiene, Arbeitsmedizin, Arbeitsphysiologie, Arbeitspsychologie, Arbeitssoziologie, Arbeitsökonomik, Arbeitspädagogik etc.
Die Umsetzung und Verwirklichung arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis ist die Grundlage der WAO. Somit versteht sich WAO auch als angewandte Arbeitswissenschaft. Diesen Zusammenhang aufgreifend definieren die Arbeitswissenschaftler der DDR die WAO wie folgt: „WAO als das wichtigste Anwendungsgebiet arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse ist die Gesamtheit der für einen bestimmten Arbeitsprozeß entwickelten Regelungen, die ein optimales Zusammenwirken der Menschen mit Arbeitsmitteln und Arbeitsgegenständen sowie die Realisierung entsprechender Maßnahmen bei der Vorbereitung künftiger und der Rationalisierung bestehender Arbeitsprozesse ermöglicht und stimuliert. Es vereinigt in sich das Arbeitsstudium, die Arbeitsgestaltung, die Arbeitsnormung, die Arbeitsklassifizierung und die Gestaltung produktionsfördernder Lohnformen.“[S. 43]
IV. Entwicklung der Arbeitswissenschaften und Maßnahmen zur Durchsetzung der WAO in der DDR
Die Entwicklung der Arbeitswissenschaften und der WAO in der DDR steht in engem Zusammenhang mit der politischen und ökonomischen Entwicklung. Ähnlich wie in der UdSSR gibt es auch in der DDR bis Mitte der 50er Jahre kaum Bemühungen um eine WAO. Auch danach (bis Anfang der 60er Jahre), nach dem Beginn der Umstellung von vorwiegend extensiver zur intensiven Reproduktion, beläßt das wesentlich auf Mengenkennziffern ausgerichtete Planungssystem beginnende arbeitswissenschaftliche Untersuchungen im Bereich ihrer „Mutterwissenschaften“. Ansätze einer Integration einzelner Disziplinen der Arbeitswissenschaften sind noch kaum vorhanden. Bis 1963 sind es vor allem Arbeitsökonomik und Arbeitsmedizin, seit Anfang der 60er Jahre auch Arbeitspsychologie, die als Einzeldisziplinen der Arbeitswissenschaften in der DDR Forschungsergebnisse vorlegen.
Im Bereich der Arbeitsökonomik (einer traditionellen Disziplin der marxistisch-leninistischen Wirtschaftswissenschaft) wurden allerdings Grundlagen für die Bestimmung von Faktoren und Kennziffern zur Messung und Steigerung der Arbeitsproduktivität gelegt. Vor allem auf dem Gebiet der Arbeitsnormung, der Festlegung von Prinzipien und Methoden der Organisation des Sozialistischen Wettbewerbs, der Neuererbewegung und der Entlohnung nach der Arbeitsleistung konnte die Forschung vorangetrieben werden.
Die Arbeitsmedizin, als Einheit von Arbeitsphysiologie, Arbeitshygiene und Arbeitspathologie verstanden, bemühte sich um arbeitshygienische Normen und — im Zusammenhang mit dem Arbeitsschutz — um Richtlinien für Maßnahmen im Bereich des Betriebsgesundheitswesens.
Institutionell fanden diese Ansätze ihren Niederschlag in der Gründung des Zentralinstituts für Arbeitsökonomik und Arbeitsschutz in Dresden. 1965 fand eine Teilung dieses Instituts in das Zentrale Forschungsinstitut für Arbeit (ZFA) und das Zentralinstitut für Arbeitsschutz (ZIAS) statt. Daneben wurde das Deutsche Institut für Arbeitsmedizin in Berlin-Lichtenberg gegründet. Zahlreiche Schriftenreihen wie „Fragen der Arbeitsökonomik“ (seit 1954), „Arbeitsschutz“ (seit 1956) und Zeitschriften wie „Arbeitsökonomik und Arbeitsschutz“ (seit 1957; 1963 in „Arbeit und Arbeitsrecht“ umbenannt), „Arbeitsschutz und Sozialversicherung“ (seit 1965) sorgten für die Verbreitung arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse in der DDR.
Die wirtschaftliche Entwicklung des Jahres 1963 steht im Zeichen der Einführung des „Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung“ („NÖSPL“, Kurzform „NÖS“). Die mit der Reform einsetzende, durch die Einführung wertmäßig orientierter Plankennziffern charakterisierte stärkere Ökonomisierung des Planungssystems, die zunehmende Bedeutung von Aufwand-Nutzen-Kalkülen in der wirtschaftlichen Rechnungsführung und nicht zuletzt die zunehmende Knappheit der Arbeitskraft zwangen zur „Intensivierung der Reproduktion“ und „Rationalisierung der Arbeitsprozesse“. Diese Faktoren wurden in ihrer Bedeutung für die Arbeitsorganisation auf der gemeinsamen Konferenz des ZK der SED und des Ministerrates der DDR über „Sozialistische Rationalisierung und Standardisierung“ erst im Juni 1966 diskutiert und in die Reformpraxis eingeordnet. Auf dieser in Leipzig abgehaltenen Konferenz wurde als Grundlage der Analyse des Arbeitsprozesses die „Einheit von Ökonomie, Technik und Organisation“ herausgestellt.
Im Ergebnis dieser Konferenz erfolgte der Beschluß des Ministerrates der DDR über die „Grundrichtung des Arbeitsstudiums, der Arbeitsgestaltung und der Arbeitsnormung als Bestandteil der komplexen sozialistischen Rationalisierung“ (GBl. II, Nr. 18, vom 2. 3. 1967).
Die vom VII. Parteitag der SED (April 1967) vorgenommene Einschätzung, daß die sozialistischen Produktionsverhältnisse gesiegt und der Sozialismus sich nunmehr auf seiner eigenen ökonomischen Basis entwickle, wurde programmatisch in die Forderung umgesetzt, das entwickelte gesellschaftliche System des Sozialismus im Zusammenhang mit der Meisterung der Aufgaben auf wissenschaftlich-technischem Gebiet „proportional und allseitig“ zu gestalten. Ulbricht erhob das umfassende Studium aller Bedingungen der Arbeit zur „entscheidende(n) Grundlage für qualitative Veränderungen in der Produktion und für die hohe Steigerung der Produktivität.“ Die Feststellung des VII. Parteitages, daß die besten Produktionsergebnisse dort erzielt worden seien, wo die fortgeschrittensten Erkenntnisse der technischen, ökonomischen und arbeitswissenschaftlichen Disziplinen zusammenhängend für die Praxis nutzbar gemacht wurden, führte zu der Forderung nach stärkerer Kooperation und Integration der arbeitswissenschaftlichen Einzeldisziplinen.
Die Folge war zunächst die Publikation einiger arbeitswissenschaftlicher Lehrbriefreihen mit dem Ziel besserer Schulung des Führungspersonals, der „leitenden Kader“. U. a. erschienen: „Arbeitsstudium, Arbeitsgestaltung, Arbeitsnormung“ (1967/68 insgesamt 33 Hefte), „Arbeitsschutz“ (1968/69 insgesamt 20 Hefte), „Arbeitshygiene, Arbeitsphysiologie, Arbeitspsychologie“ (1970/71 insgesamt 22 Hefte). Aus der großen Reihe weiterer Publikationen sei die Zeitschrift „Sozialistische Arbeitswissenschaft“ erwähnt, die 1969 aus der Zeitschrift „Arbeitsökonomik“ hervorging.
Zwei Maßnahmen bildeten den vorläufigen Abschluß der Konstituierung einer angewandten Arbeitswissenschaft in der DDR:
[S. 44]1. Als ergänzende Maßnahme zum „Beschluß über die Grundrichtung des Arbeitsstudiums sind die von einem Autorenkollektiv der Abteilung Arbeitsstudium des Staatlichen Amtes für Arbeit und Löhne beim Ministerrat und der Abteilung Arbeitsstudium, Arbeitsgestaltung, Arbeitsnormung des Zentralen Forschungsinstituts für Arbeit formulierten „Grundsätze zur wirksamen Einbeziehung des Arbeitsstudiums, der Arbeitsgestaltung und der Arbeitsnormung in das System der wissenschaftlichen Führungstätigkeit“ vom 6. 11. 1968 zu verstehen.
2. Im Januar 1971 wurde in Dresden gemeinsam vom Bundesvorstand des FDGB und dem Zentralen Forschungsinstitut für Arbeit beim Staatlichen Amt für Arbeit und Löhne beim Ministerrat der DDR eine arbeitswissenschaftliche Konferenz abgehalten.
Ausgehend von der besonderen gesellschaftlichen Rolle und Bedeutung der Anwendung der Arbeitswissenschaften im Rahmen der WAO wird nunmehr die Gesamtheit der praktischen Regelungen und Maßnahmen, die sich auf das Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren des Arbeitsprozesses beziehen und somit Arbeitsstudium, Arbeitsgestaltung, Arbeitsklassifizierung, Arbeitsnormung, die Stimulierung und das Arbeitseinkommen der Werktätigen umfaßt, als WAO definiert.
Diese Entwicklung wurde auf dem VIII. Parteitag der SED (Juni 1971) im wesentlichen bestätigt. In der Direktive für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR 1971–1975 wird die WAO explizit als Bestandteil der sozialistischen Rationalisierung aufgeführt.
Als weitergehende Maßnahme ist die Forderung des VIII. Parteitages zu verstehen, die folgenden Maßnahmen zu verbindlichen Leitungsaufgaben zu erklären:
Die „Methoden zur Gestaltung der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation“ in Verbindung mit der Verwirklichung der Grundsätze der sozialistischen Betriebswirtschaft breiter anzuwenden, „durch wissenschaftliche Organisation der Arbeit, durch sorgfältige Arbeitsstudien und rationelle Arbeitsgestaltung beste Voraussetzungen für hohe Arbeitsleistungen“ zu schaffen, bei der Entwicklung und Herstellung von Produktionsmitteln „verstärkt arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen und dadurch von vornherein gute Arbeitsbedingungen und eine hohe Arbeitsschutzgüte zu gewährleisten“.
Um die Durchsetzung der Maßnahmen der WAO in den Betrieben zu beschleunigen und deren Integration in den Betriebsplan zu sichern, wurde im April 1973 die „Anordnung über die Planung von Maßnahmen der WAO in den volkseigenen Betrieben und Kombinaten“ erlassen. (GBl., Sonderdruck Nr, 754 vom 1. 6. 1973).
Dennoch scheinen sich die Maßnahmen der WAO bis heute nicht reibungslos in die betriebliche Praxis einordnen zu lassen. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Integration der WAO in den betrieblichen Plan allgemein, als auch im Hinblick auf eindeutige Kontrollierbarkeit und Abrechenbarkeit der Ergebnisse einzelner Maßnahmen der WAO.
So stellte das Zentrale Forschungsinstitut für Arbeit in einer Zwischenbilanz zur WAO in der betrieblichen Praxis fest, daß zwar zahlreiche Betriebe „im Interesse einer systematischen und planmäßigen Intensivierung der Reproduktionsprozesse auch Maßnahmen der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation in ihre Pläne“ aufnahmen, andere Betriebe „hingegen die Möglichkeiten der WAO nicht oder nicht ausreichend“ nutzten. Viele dieser Betriebe „beschränkten sich auf sporadische Aktivitäten, die dazu noch neben oder außerhalb des Betriebsplanes standen“.
Fundstelle: DDR Handbuch. Köln 1975: S. 41–44
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