DDR von A-Z, Band 1975

Enteignung (1975)

 

 

Siehe auch die Jahre 1956 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1979 1985


 

Als E. gilt in der DDR der für gemeinnützige Zwecke auf der Grundlage eines Gesetzes vorgenommene Entzug von Eigentumsrechten (Art. 16 Verf.). Von ihr wird die zum Zweck der Umwälzung der politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse erfolgte Sozialisierung begrifflich unterschieden. Diese Unterscheidung wurde jedoch nicht von vornherein getroffen, vielmehr hat man sich bei der Durchführung dieser Umwälzung häufig des Mittels der — kollektiven oder individuellen — E. bedient.

 

In der ersten Zeit nach Beendigung des II. Weltkrieges wurden Sozialisierungen als E. vielfach unter dem Gesichtspunkt einer Entmachtung der Ausbeuterklasse und einer Bestrafung wirklicher oder angeblicher Kriegsverbrecher unmittelbar auf Veranlassung der sowjetischen Besatzungsmacht durchgeführt. Die wichtigsten E.-Maßnahmen waren hier die 1945 auf der Grundlage von Länderverordnungen eingeleitete Bodenreform, durch die alle privaten landwirtschaftlichen Betriebe über 100 ha entschädigungslos enteignet wurden; ferner die auf der Grundlage des Befehls Nr. 124 der SMAD vom 30. 10. 1945 und des Befehls Nr. 64 vom 17. 4. 1948 erfolgte Beschlagnahme der wichtigsten Industrie- und Gewerbebetriebe und ihre Überfüh[S. 261]rung in Volkseigentum. In Sachsen wurde am 30. 6. 1946 ein „Volksentscheid über die entschädigungslose Enteignung der sequestierten Betriebe der Kriegsverbrecher und aktiven Faschisten“ durchgeführt. Durch fast gleichlautende Ländergesetze „über die Überführung der Bodenschätze und Bergwerksbetriebe in die Hand des Volkes“ vom Mai/Juni 1947 wurden alle Bodenschätze, Bergwerksbetriebe sowie Heil- und Mineralquellen gegen teilweise Entschädigung zu Gunsten des jeweiligen Landes enteignet; ebenfalls durch Ländergesetze (von 1946) die meisten Lichtspieltheater, durch Verordnungen der Deutschen Wirtschaftskommission (von 1949) die Energiebetriebe und die Apotheken.

 

Auch die in politischen Strafverfahren häufig verhängte Vermögenseinziehung ist gezielt als Maßnahme zur wirtschaftlichen Entmachtung politischer Gegner benutzt worden. In den Kriegsverbrecherprozessen und in zahlreichen politischen Strafverfahren nach Art. 6 der Verfassung von 1949 (Boykott-, Kriegs- und Mordhetze), der Kontrollratsdirektive 38 (Friedensgefährdung) sowie in zahlreichen Wirtschaftsstrafverfahren sind über die Verhängung der Vermögenseinziehung als Nebenstrafe E. von „Klassenfeinden“ im großen Stil vorgenommen worden. Planmäßige E. des Privateigentums sind ferner durch steuerliche Maßnahmen (Steuern) und im Wege des Konkursverfahrens betrieben worden. E.-Charakter haben auch viele Maßnahmen gegenüber Flüchtlingsvermögen und den Vermögenswerten von Westdeutschen, West-Berlinern und Ausländern (Treuhandvermögen).

 

Von dieser E.-Praxis wich die rechtliche Regulierung der E. seit der Verfassung von 1949 ab. Nach Art. 23 Verf. 1949 durften E. nur auf gesetzlicher Grundlage vorgenommen werden und grundsätzlich gegen angemessene Entschädigung erfolgen, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmte. Im Streitfall war wegen der Höhe der Entschädigung der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten eröffnet. Die meisten der tatsächlichen E. unter der Geltung der Verfassung von 1949 wurden jedoch unter Umgehung dieser Bestimmung und unter Heranziehung anderer Rechtsinstitute vorgenommen. Nur wenige E.-Gesetze sahen von vornherein Entschädigungen vor. Teilweise wurden Entschädigungsregelungen erst jahrelang nach erfolgter E. erlassen, so die VO zur Regelung der Entschädigungsleistungen für Bodenschätze, Bergbaubetriebe sowie Heil- und Mineralquellen vom 15. 10. 1953 (GBl., S. 1037), die VO vom 23. 8. 1956 (GBl., S. 683) über die Entschädigung ehemaliger Gesellschafter für Beteiligungen an enteigneten Unternehmen und die Befriedigung langfristiger Verbindlichkeiten aus der Zeit nach dem 8. 5. 1945 und das Gesetz vom 2. 11. 1956 (GBl., S. 1207) über die Regelung der Ansprüche gegen Personen, deren Vermögen nach der VO zur Sicherung von Vermögenswerten oder aufgrund rechtskräftiger Urteile in das Eigentum des Volkes übergegangen ist.

 

Nachdem in der DDR die Sozialisierung im wesentlichen abgeschlossen und das sozialistische Eigentum durch die Verfassung von 1968 zur Grundlage der Eigentumsordnung erklärt worden ist, wird auch die E. enger interpretiert. Sie ist nach Art. 16 Verf. nur für gemeinnützige Zwecke auf gesetzlicher Grundlage gegen angemessene Entschädigung zulässig und darf nur erfolgen, wenn auf andere Weise der angestrebte gemeinnützige Zwecke nicht erreicht werden kann. Gesetzliche Grundlagen für E. sind z. B. das Aufbaugesetz vom 6. 9. 1950 (GBl., S. 965), das Entschädigungsgesetz vom 25. 4. 1960 (GBl. I, S. 257), das Atomenergiegesetz vom 28. 3. 1962 (GBl. I, S. 47), das Wassergesetz vom 17. 4. 1963 (GBl. I, S. 77) und das Verteidigungsgesetz vom 20. 9. 1961 (GBl. I, S. 175). Vermögenseinziehungen im Zusammenhang mit Strafverfahren gemäß §§ 56, 57 StGB vom 12. 1. 1968 (GBl. I, S. 1) werden hingegen nicht als E. angesehen.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. Köln 1975: S. 260–261


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

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