DDR von A-Z, Band 1975

Friedliche Koexistenz (1975)

 

 

Siehe auch:


 

Auf Lenin zurückgeführter, erstmals von Stalin verwendeter und von dessen Nachfolgern in der UdSSR zum außenpolitischen Prinzip erhobener Grundsatz des friedlichen Nebeneinanderbestehens von Staaten unterschiedlicher gesellschaftlicher und staatlicher Ordnung. Im Verständnis des Marxismus-Leninismus ist FK. eine „spezifische Form des Klassenkampfes zwischen Sozialismus und Kapitalismus“ auf internationaler Ebene, bei der auf allen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gebieten ein Wettbewerb der beiden Systeme ausgetragen wird: „FK. bedeutet die Regelung der zwischenstaatlichen Beziehungen von sozialistischen und kapitalistischen Staaten auf der Grundlage der Gleichberechtigung der Staaten, der gegenseitigen Achtung ihrer Souveränität, der territorialen Integrität, der Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten. FK. bedeutet Entwicklung ökonomischer internationaler Zusammenarbeit auf der Grundlage des gegenseitigen Vorteils und die Lösung strittiger internationaler Fragen mit friedlichen Mitteln.“ (Kleines Politisches Wörterbuch, Berlin [Ost], 1973, S. 242.) Die marxistisch-leninistische Theorie bestreitet entschieden die Möglichkeit ideologisch-politischer Koexistenz. „Die Sphäre der Weltanschauung, der Philosophie, der geistigen Kultur überhaupt“ sei „zur Front der härtesten ideologischen Auseinandersetzungen“ geworden, erklärte K. Hager am 29. 5. 1973 auf der 9. Tagung des ZK der SED: „Auch auf kulturellem Gebiet hat sich der ideologische Kampf zwischen Sozialismus und Imperialismus weiter verschärft.“

 

Auf derselben ZK-Tagung betonte E. Honecker, daß FK. andererseits „mehr als Nichtkrieg“ sei: „Sie ist der Weg, vernünftig zusammenzuarbeiten und alle Möglichkeiten auszunutzen, die normale Beziehungen zwischen Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung bieten“, auch wenn dadurch die Gegensätzlichkeit der Sozialsysteme ebensowenig wie der Gegensatz der Weltanschauungen aufgehoben werden könnten.

 

FK. soll günstige Voraussetzungen für den Sieg der sozialistischen Revolution in nichtsozialistischen Ländern schaffen.

 

Nach Auffassung der marxistisch-leninistischen Völkerrechtslehre sind Prinzipien der FK. im Kommuniqué der Regierungschefs Indiens und der Volksrepublik China vom 28. 6. 1954, in der Deklaration der Bandung-Konferenz afro-asiatischer Staaten vom 24. 4. 1955 („Pancha shila“) und in verschiedenen Resolutionen der UN-Vollversammlung festgelegt worden. Als Ausdruck einer auf FK. gerichteten Außenpolitik gelten auch die Verträge der Bundesrepublik Deutschland mit der Sowjetunion, Polen, der ČSSR und der DDR sowie der Abschluß der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.

 

Auf die Beziehungen zwischen den sich sozialistisch nennenden Staaten kann der Begriff der FK. nach Auffassung der marxistisch-leninistischen Völkerrechtsleh[S. 339]re nicht angewandt werden. Zwischen diesen Staaten gleicher gesellschaftlicher Ordnung soll das Prinzip des sozialistischen Internationalismus Anwendung finden (proletarischer ➝Internationalismus). Der Begriff der FK. enthält damit sowohl einen Konfrontations- („spezifische Form des Klassenkampfes“) als auch Kooperationsaspekt („friedlicher Wettbewerb der Systeme“); entsprechend der jeweiligen internationalen Situation und der für ihre Bewältigung notwendigen Strategie und Taktik kann der eine oder andere Aspekt in der politischen Auseinandersetzung von der SED stärker betont bzw. heruntergestuft werden. Der Begriff FK. ist inhaltlich vergleichsweise leer, jedoch für die außenpolitische Praxis wegen seiner Ausdeutbarkeit von beträchtlichem Nutzen. Gegenwärtig scheint im sozialistischen Lager gegen den Widerstand orthodoxer Kräfte der Kooperationsaspekt der FK. eine Aufwertung zu erfahren. Außenpolitik; Deutschlandpolitik der SED.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. Köln 1975: S. 338–339


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

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