DDR von A-Z, Band 1975

Internationalismus, Proletarischer (1975)

 

 

Siehe auch die Jahre 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1979 1985


 

Der PI. ist im kommunistischen Sprachgebrauch ein zentraler, wenngleich in seinem Bedeutungsgehalt schillernder und nicht genau festgelegter Begriff. Er hat a) ideologische, b) moralische und c) außenpolitisch-pragmatische Aspekte, die je nach Bedarf und Adressat in den Vordergrund treten.

 

1. Der PI. sei „wissenschaftlicher und politischer Ausdruck des objektiven Prozesses der Internationalisierung des ökonomischen, politischen und kulturellen Lebens der Gesellschaft vom Standpunkt der Gemeinsamkeit und Einheit der grundlegenden Interessen und Ziele der Arbeiterklasse aller Nationen und Länder“. Er wird als „Grundprinzip der Ideologie“, „wichtigstes Prinzip des Aufbaus aller marxistisch-leninistischen Organisationen der Arbeiterklasse“ bezeichnet und beinhaltet die „nationale Pflicht der Kommunisten“ zur Verteidigung der UdSSR und der anderen sozialistischen Staaten „gegen alle Anschläge des Imperialismus“.

 

Mit der Propagierung des PI, wird versucht, den traditionellen, in der Geschichte der ➝Arbeiterbewegung verwurzelten Gedanken des Internationalismus zu konkretisieren und ihn als Bestandteil der marxistisch-leninistischen Lehre zu integrieren.

 

2. Die Verwirklichung des PI. setze die Herstellung „des vollen Vertrauens zwischen den Werktätigen unterschiedlicher Nationen und Länder“ voraus; aus ihr ergebe sich eine Forderung nach „Solidarität“, „gegenseitiger Hilfe und Unterstützung im Kampf“; soweit ist er ein „Prinzip der Moral und Ethik“ und mit „sozialistischem Patriotismus und gesundem Nationalbewußtsein untrennbar verbunden“.

 

Der darin zum Ausdruck kommende Appell an das „richtige“, internationalistische Bewußtsein der Kom[S. 433]munisten, an ein Meinungsunterschiede und Interessen überbrückendes Verständnis, soll gemeinsames Verantwortungsbewußtsein und eine Glaubenshaltung erzeugen, die nationale Grenzen überwindet, und die Bereitschaft zu gemeinsamen Handeln im Interesse einer vermeintlich gemeinsamen Sache auslösen.

 

3. Mit der Errichtung eines sozialistischen Weltsystems, d. h. mit dem Entstehen sozialistischer Staaten nach dem II. Weltkrieg, habe der PI. eine neue, höhere Entwicklungsstufe erreicht und sich zum sozialistischen I. gewandelt. Seitdem sei er gleichermaßen Bestandteil sozialistischer Völkerrechtslehre und entscheidendes Merkmal der außenpolitischen Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern geworden.

 

Neben den auch im Verhältnis der sozialistischen Staaten untereinander gültigen „Prinzipien der vollen Gleichberechtigung, der Respektierung der territorialen Integrität, der staatlichen Unabhängigkeit und Souveränität und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen“ tritt nun als neues Wesensmerkmal die „brüderliche gegenseitige Hilfe und Unterstützung“, die die „gewaltige Effektivität“ des PI. voll wirksam werden lasse. Ferner zeige sich in der Zusammenarbeit mit den nationalen Befreiungsbewegungen die Wirksamkeit des PI.

 

In dieser Sichtweise stellt das Verhalten einer sozialistischen oder kommunistischen Partei oder eines von ihr regierten Landes, das seine nationalen Interessen nicht den postulierten gemeinsamen der sozialistischen Staatengemeinschaft unterordnet, einen schweren Verstoß gegen jene Grundprinzipien des gegenseitigen Verhältnisses dar, die letztlich von der KPdSU-Führung autoritativ interpretiert werden.

 

Beispielsweise wird von orthodoxen Kräften im „sozialistischen Lager“ die Entwicklung in der ČSSR im Frühjahr 1968 als Abweichung von den internationalistischen Pflichten eines Mitgliedstaates der Gemeinschaft dargestellt und erforderte daher die volle Anwendung der Prinzipien des PI. Die „Hilfeleistung“ an die ČSSR durch Truppen des Warschauer Paktes (WP) war damit eine zwangsläufige Folge dieser im PI. angelegten und ideologisch verfestigten Vorstellung vom Charakter der Beziehungen zwischen sozialistischen Staaten. Sie war keineswegs Ausdruck einer von der UdSSR ad hoc geschaffenen, der Sicherung ihres Machtbereiches dienenden, neuen außenpolitischen Doktrin („Breschnjew-Doktrin“).

 

Aus westlicher Sicht ist dagegen dem Begriff des PI. lediglich Instrumentalfunktion zur Verschleierung bestimmter machtpolitischer Konstellationen und Konzeptionen zugewiesen worden. Der PI. habe aus Mangel an tatsächlicher internationaler proletarischer Solidarität bisher keine neue „höhere“ Einheit im Sozialismus/Kommunismus schaffen und als politisches Integrations- bzw. neues völkerrechtliches Ordnungsprinzip keine über die traditionellen zwischenstaatlichen Beziehungen hinausgreifende Bedeutung erlangen können. Der PI habe bis in die Gegenwart territoriale Streitigkeiten einschließlich blutiger Grenzverletzungen, Vertragsbrüche und diplomatische Verwicklungen, auch zwischen sozialistischen Ländern, nicht verhindern können. Außenpolitik.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. Köln 1975: S. 432–433


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.