DDR von A-Z, Band 1975

Kader (1975)

 

 

Siehe auch die Jahre 1953 1954 1956 1958 1959 1960 1969


 

Der Begriff K. hat verschiedene Bedeutungen. Er leitet sich vom Lateinischen „quadrum“ = Viereck ab und wurde auch in das Italienische übernommen. Hier erhielt er später die Bedeutung „Rahmen“. Mit diesem Inhalt drang er in den französischen Sprachraum ein, wo im 18. Jahrhundert aus dem „quadre“ das heutige „cadre“ wurde. In der französischen Revolution bekam „cadre“ eine militärische Bedeutung. Durch das Gesetz L. Carnot's über die „levée en masse“ vom 23. 8. 1793, das erstmalig die allgemeine Wehrpflicht einführte, wurde eine grundlegende Reform der Struktur der französischen Armee durchgeführt. Die nicht ständig aktiven Soldaten wurden von einem festen „Rahmen“ aus Berufssoldaten, den Kadern, ausgebildet und geführt.

 

Seine heutige Bedeutung erhielt der Begriff K. durch die Leninsche Partei- und Staatstheorie sowie die sowjetische Verwaltungspraxis. Lenin hat das Wort „K.“ selbst nicht verwendet. Lenin war der Meinung, daß unter russischen Bedingungen die Partei des Proletariats den Charakter einer Kerntruppe („Kaderpartei“) annehmen müßte. Auch Stalin beschrieb die SDAPR als eine „Kampfpartei von Führern“. Er war es, der den Begriff zum Schlüsselwort einer elitären Leitungspraxis machte, als er nach der siegreichen Oktoberrevolution 1917 die „Heranbildung zahlreicher Kader von Leitern und Administratoren aus den Reihen der Arbeiter“ forderte. Damit wurde der Begriff auf eine Elite von Personen ausgedehnt, die sich durch Ergebenheit gegenüber der Partei- und Staatsführung, Fachwissen, Leitungs- und Organisationstalent auszeichnet.

 

Autoren aus der DDR definieren K. als „ … Stamm von Menschen, die aufgrund ihrer fachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten geeignet und beauftragt sind, andere Menschen bei der Verwirklichung der gestellten Aufgaben zu führen bzw. in einem Leitungskollektiv zu wirken“ (Herber/Jung „Kaderarbeit im System sozialistischer Führungstätigkeit“, Berlin [Ost] 1968, S. 11).

 

Zu den K. sind alle Führungskräfte der verschiedensten gesellschaftspolitischen Bereiche (einschließlich Wirt[S. 453]schaft, Verwaltung, Wissenschaft, Bildung, Kultur, Massenmedien und Sicherheit), Funktionäre aller Parteien und Organisationen sowie Hoch- und Fachschulabsolventen, also die zum späteren Einsatz in Führungspositionen vorgesehenen Nachwuchskräfte (K.-Reservoir), zu rechnen. Soweit sie Führungspositionen noch nicht einnehmen, aber für ihre Übernahme von der Partei vorgesehen sind, bilden sie die K.-Reserve.

 

Durch K.-Politik und K.-Arbeit sichert die SED in Regierung, Verwaltung und gesellschaftlichen Organisationen ihre auch verfassungsrechtlich fixierte „führende Rolle“. Die richtige Auswahl, Ausbildung, Erziehung und Verteilung der K. ist daher eine wichtige politische Aufgabe der Partei, des Staates und jedes Funktionärs: „Die Kader entscheiden alles.“ K.-Politik und K.-Arbeit sind deshalb für die SED stets mehr als reine Personalpolitik.

 

Bereits auf dem II. Parteitag (September 1947) der SED legte Ulbricht die kaderpolitische Linie der folgenden Jahre fest, die von der Ersten Staatspolitischen Konferenz in Werder/Havel (22./23. 7. 1948) für die gesamte Verwaltung und andere gesellschaftliche Bereiche verbindlich wurde. Mit den Beschlüssen dieser Konferenz wurde das System der K.-Akten und Personalstatistiken übernommen, wie es unter Stalins Verantwortung von der Abteilung „Leitende Parteiorgane“ unter G. M. Malenkov (1934–1948) für die KPdSU (B) entwickelt wurde.

 

Für die K.-Politik war anfangs die „Personalpolitische Abteilung“ im Zentralsekretariat unter der Leitung des Alt-Kommunisten Franz Dahlem verantwortlich. Später wurden die Grundsätze der K.-Politik von der Abteilung „Leitende Parteiorgane“ festgelegt, die bis zu seinem Sturz (Februar 1958, 35. Plenum) von Karl Schirdewan geführt wurde. Ihm folgte bis zum Jahre 1971 E. Honecker, der sowohl für die K.-Politik als auch für die Sicherheitspolitik als ZK-Sekretär zuständig war.

 

Nach dem XXIV. Parteitag der KPdSU (März/April 1971) wurde die K.-Arbeit aller kommunistischen Parteien der Warschauer Vertragsstaaten vereinheitlicht. Wer gegenwärtig im Sekretariat des ZK der SED die Verantwortung für die Personalpolitik trägt, läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Ausgehend vom sowjetischen Beispiel ist anzunehmen, daß der Sekretär für Parteiorgane, Horst Dohlus, für die Stellenbesetzung der Haupt-Nomenklatur-Funktionäre und für die kaderpolitischen Richtlinien in Abstimmung mit dem gesamten ZK-Sekretariat verantwortlich ist. Bei strittigen Fragen und bei der Besetzung der obersten Führungsspitze liegt die Entscheidung ohnehin beim Politbüro.

 

Von dem Sekretär für Parteiorgane, H. Dohlus (weder Mitglied noch Kandidat des Politbüros) und der Abteilung K. — Abteilungsleiter Fritz Müller — gehen Initiativen im Falle personeller Veränderungen bei den Haupt-Nomenklatur-K. aus, sofern diese im Zuständigkeitsbereich anderer ZK-Abteilungen oder in zentralen staatlichen Institutionen tätig sind.

 

Sie bestätigen die Ernennungen der Nomenklatur-K. und haben die letzte Entscheidung bei der Überprüfung von Positionsbesetzungen des Parteiapparates auch auf allen unteren Ebenen.

 

Wie in der KPdSU dürfte innerhalb der Abteilung K. die Sektion „Parteimitgliedschaft“ die Personalakten aller SED-Mitglieder führen und die Sektion K.-Schulung für die Parteischulen verantwortlich sein.

 

Der Sekretär für Parteiorgane bzw. die Abteilung K. sind entscheidende Schaltstellen im Machtapparat. Unterhalb dieser Ebene erfolgt die Mehrzahl der Ernennungen jedoch für die von der „Kontroll- oder Registratur-Nomenklatur“ erfaßten Personenkreise durch die allgemeinen K.-Abteilungen der jeweiligen Leitungsebene. An der Spitze dieser K.-Abteilungen, die es in jeder Institution gibt, stehen ausgesuchte SED-Mitglieder, die auch dem Ministerium für Staatssicherheit und den vorgesetzten SED-Sekretariaten verantwortlich sind. Die K.-Abteilungen werden durch K.-Leiter geführt.

 

Die Grundsätze der K.-Politik (Auswahl, Ausbildung, Erziehung, Verteilung und Einsatz des Personalbestandes) werden von den Abteilungen des Zentralkomitees und — in deren Auftrag — von den zentralen staatlichen Institutionen für ihren Verantwortungsbereich festgelegt. Sie erstrecken sich auch auf Wahlgremien, wie Volkskammer, örtliche Volksvertretungen, Ausschüsse usw.

 

Diese Grundsätze beinhalten Auslese-, Ausbildungs- und Einsatzkriterien, in die wiederum Richtlinien über die Sozialstruktur verändernde Maßnahmen (Förderung von Arbeitern, Bauern, Frauen, jungen Menschen), die Berücksichtigung von Mitgliedern anderer Parteien und der Massenorganisationen und Ausschlußkriterien (Unzuverlässigkeit wegen Westverwandtschaft, Nichtzugehörigkeit zur SED, unmoralischer Lebenswandel) eingehen.

 

Die Grundsätze der K.-Politik werden von den K.-Abteilungen der staatlichen Organe (Ministerien, Komitees), den Massenmedien, Kultur- und Bildungseinrichtungen, sowie den volkseigenen Betrieben und Genossenschaften durchgeführt. Diese unterstehen sowohl ihrem vorgesetzten Leitungsorgan als auch der zuständigen SED-Parteileitung und der Parteikaderabteilung der jeweiligen Entscheidungsebene.

 

Den K.-Abteilungen obliegen Ausarbeitung, Koordinierung und Kontrolle der spezifischen K.-Arbeit; die Analyse der Zusammensetzung des Personalbestandes und Qualifizierungsmaßnahmen; Delegierungen zu Bildungseinrichtungen oder zu Sonderaufträgen („Die Besten zur Armee“ oder „aufs Land“ usw.). In die Arbeit der K.-Funktionäre finden gegenwärtig verstärkt wissenschaftlich erarbeitete Qualifizierungsrichtlinien Eingang.

 

Durch die jeweiligen K.-Abteilungen sammeln die Sekretariate der Parteileitungen alle wesentlichen Daten über die K. ihres Verantwortungsbereichs. Über alle Beschäftigten werden mit dem Eintritt in das Arbeitsleben bis zum endgültigen Ausscheiden aus dem Arbeitsprozeß K.-Akten geführt, die alle Daten, Beurteilungen, Wertungen von Mitarbeitern, Besuch von Schulen, Positionen in den Parteien und Massenorganisationen, [S. 454]private Lebensumstände, moralische und kriminelle Verfehlungen, Interessen-, Freizeit- und Urlaubsgewohnheiten, Verwandtschaftsbeziehungen, Verbindungen zum westlichen Ausland und besonders zur Bundesrepublik enthalten. Diese K.-Akte ist vom Betroffenen nicht einsehbar. Er kann aber Auskunft über ergangene Entscheidungen und deren Begründungen verlangen. Die Seiten der Akte sind durchnumeriert. Blätter können aus ihr praktisch nicht entfernt werden, so daß negative Wertungen (auch Strafen) zwar gelöscht werden können, aber dennoch faktisch den einzelnen weiter belasten. Bei Arbeitsplatzwechsel wird die K.-Akte des Beschäftigten an die K.-Abteilung des neuen Betriebes übersandt. Jede K.-Abteilung einer Institution hat die K.-Akten auszuwerten und in K.-Spiegeln sowie Berichtsbögen sowohl der Parteileitung der gleichen und vorgesetzten Ebene als auch der übergeordneten K.-Abteilung einen schnellen Überblick zu ermöglichen. Für Führungskräfte werden K.-Entwicklungsblätter und K.-Entwicklungskarteien angelegt.

 

Zur Planung der K.-Entwicklung werden K.-Entwicklungsprogramme und K.-Programme erarbeitet. Sie enthalten:

 

Angaben zur erreichten Qualifikation der Führungskräfte und den Vergleich mit den künftigen Anforderungen und Verteilungsrichtlinien;

 

Festlegung der ideologisch-politischen, fachlichen und leistungsbezogenen Qualifikationsmerkmale sowie Bestimmungen zur Ausbildung neuer Leitungskräfte; Umfang, Entwicklungswege und Voraussetzungen zur weiteren Heranbildung von weiblichen Mitarbeitern für leitende Tätigkeiten;

 

Bedarfseinschätzungen und Positionsanalysen für Hoch- und Fachschulabsolventen sowie Delegierungen zum Studium an den Bildungseinrichtungen der DDR; kurz- und langfristig wirkende Maßnahmen für K. zur Übernahme einer neuen oder wichtigeren Funktion; Umsetzungsmaßnahmen, die aus Alters-, Gesundheits- oder Qualifikationsgründen notwendig werden; Einschätzungen des künftigen K.-Bedarfs.

 

Alle VVB, Betriebe und Einrichtungen haben ihren Bedarf an Facharbeitern, qualifizierten Angestellten, Fach- und Hochschulabsolventen in einem Arbeitskräfteplan langfristig festzulegen und zu begründen. Aus dem ermittelten K.-Bedarf ergeben sich wichtige Konsequenzen für das Bildungswesen der DDR.

 

Die K.-Politik der SED verlief in 3 Phasen:

 

1. In den Jahren bis 1963 sah sich die SED gezwungen, alle wichtigen Positionen mit loyalen Kommunisten zu besetzen, selbst dann, wenn diese nicht die nötigen Fachkenntnisse besaßen. Diese Gruppe entwickelte sich mit der Zeit zu einer Schicht von Bürokraten („Apparatschiki“, die ihrerseits die neue Intelligenz mit Mißtrauen betrachtete.

 

2. Nach dem VI. Parteitag (Januar 1963) suchte die SED bei der Stellenbesetzung neben politischen auch fachliche Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen. Der entsprechende Beschluß des Sekretariats des ZK der SED vom 17. 2. 1965 („Grundsätze über die planmäßige Entwicklung, Ausbildung, Erziehung und Verteilung der K. in den Partei-, Staats- und Wirtschaftsorganen sowie den Massenorganisationen und auf dem Gebiet der Kultur und Volksbildung“) war für die Personalpolitik in der Zeit bis zum VIII. Parteitag von großer Bedeutung, da er eine stärkere Beteiligung von Experten an den Entscheidungsprozessen zur Folge hatte.

 

3. In der Ära Honecker sollen folgende Eigenschaften einen K. auszeichnen: „Treue und Verbundenheit zur Arbeiterklasse, Kämpfertum, ein dem Aufgabengebiet entsprechendes politisches und fachliches Wissen, Verantwortungsbewußtsein, Schöpfertum, Mut zur Entscheidung, Sachlichkeit, Unduldsamkeit gegenüber Mängeln und Fehlern, ständiges Streben nach Vervollkommnung seiner marxistisch-leninistischen und fachlichen Kenntnisse sowie der Fähigkeiten zur Leitung und Entwicklung von Kollektiven“ (Stichwort K. im „Wörterbuch der Ökonomie — Sozialismus“, Berlin [Ost] 1973, S. 453).


 

Fundstelle: DDR Handbuch. Köln 1975: S. 452–454


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.