Massenorganisationen (1975)
Siehe auch die Jahre 1953 1954 1956 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1979 1985
M. sind Verbände, mit deren Hilfe die SED versucht, alle sozialen Gruppen und Schichten der Gesellschaft, anknüpfend an deren spezifische soziale Situationen! Interessen und Aktivitäten zu organisieren. Die M. sollen ihre Mitglieder sowohl für das Erreichen der von der Partei in deren Beschlüssen und in den Volkswirtschaftsplänen gesetzten Ziele mobilisieren, als auch diesen die Möglichkeit bieten, ihre spezifischen Interessen organisiert und kontrolliert vertreten zu können.
Kommunistische Parteien beanspruchen in ihrem Herrschaftsbereich grundsätzlich ein Organisationsmonopol, d. h. sie lassen nur die Bildung solcher Verbände zu, deren Gründung ihnen erwünscht, deren Programmatiken und Satzungen den Führungsanspruch der Partei ausdrücklich anerkennen und in denen die entscheidenden Führungspositionen von Parteimitgliedern besetzt sind. Die M. sind sowohl als Interessenorganisationen der Mitglieder als auch zugleich als Herrschaftsinstrumente der Partei konzipiert. Dieser „Widerspruch“ wird aufgrund des Machtübergewichts der Partei vielfach zuungunsten der Interessenvertretung gelöst, ohne daß dieser Aspekt der M. völlig vernachlässigt werden kann.
Neben dem Begriff „M.“, der vor allem den Großorganisationen vorbehalten ist, wird auch die Bezeichnung „gesellschaftliche Organisation“ verwendet.
Mit Hilfe der M. versucht die SED
- ihre jeweiligen Aktionsziele zu propagieren und die in den M. organisierten Mitglieder zu deren Erreichung zu mobilisieren (M. als „Transmissionsriemen“),
- einen organisierten und kontrollierten Raum zu schaffen, in dem die Interessen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen vertreten, soziale Bedürfnisse und Aktivitäten (z. B. kulturelle und sportliche) erfüllt und soziale Konflikte ausgetragen und gelöst werden können, ohne die Herrschaftsposition der Partei in Frage zu stellen (M. als Interessenvertretung),
- die Einstellungen und Verhaltensweisen der Mitglieder der M. im Sinne der Parteidoktrin zu verändern (M. als „Schulen des Sozialismus“),
- Nachwuchs für leitende Positionen in Partei, Staat und Wirtschaft heranzubilden und zu erproben (kaderbildende Funktion der M.),
- die verschiedenen Gruppen und Schichten in der Gesellschaft in ihren Aktivitäten zu kontrollieren (M. als Mittel zur Kontrolle der Gesellschaft),
- bürokratische Strukturen in Staat und Gesellschaft zu kontrollieren, um Machtmißbrauch, Verselbständigungstendenzen, Unterschleife und Nichteinhaltung gesetzlicher Normen zu verhindern (M. als Mittel „gesellschaftlicher Kontrolle“),
- sich zusätzliche Informationen über Einstellungen, Wünsche und Unzufriedenheiten in der Gesellschaft zu verschaffen, um möglicherweise die eigene Politik zu korrigieren oder Agitation und Propaganda gezielter einsetzen zu können (M. als Informationsquellen mit korrigierender Funktion),
- sich auf Spezialgebieten des Sachverstandes bestimmter Gruppen zu bedienen, um sachgerechtere Entscheidungen zu ermöglichen (konsultative oder beratende Funktion der M.),
- Medien für eine kontrollierte und auf Einzelfragen bezogene Kritik zu schaffen (M. als Foren für Kritik und Selbstkritik).
Ihren Führungsanspruch verwirklicht die SED durch ihre Mitglieder, die laut Statut der Partei gehalten sind, sich in den M. zu organisieren und dort die Parteibeschlüsse durchzuführen. Die ausschlaggebende Repräsentanz der SED im Funktionärskörper der M. wird durch eine systematische Kaderpolitik von den jeweils zuständigen Abteilungen des SED-Apparats gesichert. Die Vorsitzenden bzw. Sekretäre der wichtigsten M. (insbesondere von FDGB und FDJ) auf den verschiedenen Organisationsebenen sind zugleich Mitglieder der entsprechenden SED-Leitung.
Alle M. erkennen in ihren Satzungen und programmatischen Erklärungen die Führungsrolle der Partei aus[S. 555]drücklich an; ihr Organisationsprinzip ist der demokratische Zentralismus. Sie verfügen über eigene Schulungseinrichtungen zur Heranbildung des Funktionärsnachwuchses und eine eigene Verbandspresse. Die Mitgliedschaft in den M. ist grundsätzlich freiwillig, sie ist jedoch eine Voraussetzung für sozialen und beruflichen Aufstieg. Zusätzlicher Anreiz zum Eintritt in die M. sind Vergünstigungen, wie z. B. Ferienreisen. Auch gibt es vielfach keine andere Möglichkeit, bestimmten sozialen Interessen (Sport, Briefmarkensammeln, Heimatforschung, Laienspiel usw.) nachzugehen, als sich der zu diesem Zweck in den M. organisatorisch vorgegebenen Formen zu bedienen.
Die 1945 erfolgte Auflösung aller bestehenden Verbände ermöglichte es der KPD/SED, mit Unterstützung der Besatzungsmacht unter der Losung der „antifaschistischen Einheit“ nur die Gründung solcher Organisationen zuzulassen, an deren Führung sie von Anbeginn maßgeblich beteiligt war. In den anfänglich überparteilichen M., wie z. B. FDGB, KB, DFD, FDJ, gelang es der SED, durch eine geschickte Kaderpolitik, die Ausnutzung von Satzungsbestimmungen und das geschlossene fraktionsmäßige Auftreten ihrer Mitglieder sowie durch den Einsatz von Zwangsmitteln die alleinige Führung an sich zu ziehen. Die Gründungstechniken variierten je nach historischer Situation und der Art des Verbandes: FDGB und Kulturbund (KB) wurden als zentrale Organisationen gegründet; FDJ, DFD und VdgB entstanden aus kommunalen Ausschüssen; andere Verbände wurden aus bestehenden M. ausgegliedert, wie z. B. der VDJ aus dem FDGB, der DTSB über kommunale Sportausschüsse aus der FDJ und dem FDGB, Schriftstellerverband der DDR und DSF aus dem KB. Neben den jeweils aktuellen politischen Überlegungen spielte die begrenzte Zahl verfügbarer fähiger und zuverlässiger Parteimitglieder für bestimmte Aufgaben in den M. eine Rolle bei der Entscheidung, wann und in welcher Form Organisationen ins Leben gerufen wurden.
Das System der M. hat in seinen Grundstrukturen seit der Bildung des DTSB 1957 keine Veränderungen erfahren. Lediglich im Bereich der Fachverbände der Intelligenz hat sich der Differenzierungsprozeß fortgesetzt. So wurden 1966 der Verband der Theaterschaffenden, 1967 der Verband der Film- und Fernsehschaffenden gegründet. Das entfaltete und aufeinander bezogene Organisationensystem der M. wird mit den Blockparteien in der von der SED geleiteten Nationalen Front zusammengefaßt. In der Nationalen Front (NF) stellt sich die Gesellschaft der DDR gleichsam in organisierter Form dar. Außer der SED selbst, den Blockparteien (die in vieler Hinsicht als spezielle M. für die bürgerlichen Restschichten begriffen werden können) entsenden der FDGB, die FDJ, der DFD, der KB und in den Kreisen und Gemeinden auch die VdgB/BHG und die Konsumgenossenschaften Abgeordnete in die Volksvertretungen. Die in den Volksvertretungen repräsentierten Organisationen sind als Kern der NF im Demokratischen Block der Parteien und M. zusammengeschlossen.
Die Notwendigkeit, in wachsendem Maß vor allem im ökonomischen, technischen und wissenschaftspolitischen Bereich Sachverstand und Fachwissen zur Optimierung der anstehenden Entscheidungen heranzuziehen, hat die Beratungs-, Kritik- und Informationsfunktion der M. gestärkt. Veränderungen in der gesellschaftspolitischen Zielsetzung als Folge des VIII. Parteitages der SED haben die Verantwortung des FDGB für die Sozialpolitik, der FDJ in der Jugendpolitik deutlicher hervortreten lassen. Ausdehnung der Freizeit, Verbesserung der materiellen Lage, Hebung des Bildungsniveaus verlangen nach einer Verbesserung der Arbeit der M., wenn sich nicht ein größer werdender Teil der sozialen und kulturellen Aktivitäten der Gesellschaftsmitglieder neben den M. entfalten soll.
In der ideologischen und staatsrechtlichen Diskussion ist immer wieder die Tendenz hervorgetreten, in der Übernahme staatlicher Funktionen durch die M. (z. B. der Sozialversicherung durch den FDGB) einen notwendigen Prozeß in der weiteren Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu sehen. Ohne ganz verschwunden zu sein, sind Äußerungen dieser Art in der DDR selten geworden. Die M. gelten bereits in ihrer gegenwärtigen Form als Ausdruck und Teil der „sozialistischen Demokratie“.
Fundstelle: DDR Handbuch. Köln 1975: S. 554–555
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