Nation und nationale Frage (1975)
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Seit ihrem VIII. Parteitag im Juni 1971 vertritt die SED die Ansicht, daß die NF. auf deutschem Boden endgültig von der Geschichte „entschieden“ sei. Honecker erklärte vor dem Parteitag, man müsse bei der Einschätzung der NF. „von ihrem Klasseninhalt ausgehen“: Während in der Bundesrepublik Deutschland die „bürgerliche Nation“ fortbestehe, deren Wesen durch den „unversöhnlichen Klassenwiderspruch zwischen der Bourgeoisie und den werktätigen Massen“ bestimmt werde, entwickele sich in der DDR die „sozialistische Nation“.
Im Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR 1972 konnte eine gemeinsame Deutung der NF. nicht mehr gefunden werden. Die Bundesregierung hielt an ihrer Überzeugung fest, daß die Einheit der N. ein verbindendes Element zwischen den Deutschen in beiden Staaten sei. Dem widersprach die DDR. Beide Seiten kamen schließlich überein, den Vertrag unbeschadet ihrer unterschiedlichen Auffassungen „zu grundsätzlichen Fragen, darunter zur nationalen Frage“ abzuschließen.
Wenn Repräsentanten der SED schließlich betonten, es gäbe „nicht zwei Staaten einer Nation, sondern zwei Nationen in Staaten verschiedener Gesellschaftsordnung“ (A. Norden, Fragen des Kampfes gegen den Imperialismus, Berlin [Ost] 1972, S. 22), so stand diese Interpretation der NF. in klarem Gegensatz zu der von der SED bis 1969 eingenommenen Position.
Während der ersten zwei Jahrzehnte der Geschichte der DDR versicherte die SED stets, daß die Wiederherstellung des einheitlichen deutschen Nationalstaates ein wichtiges Ziel ihrer Politik sei: „Wir sind für die Einheit Deutschlands, weil die Deutschen im Westen unserer Heimat unsere Brüder sind, weil wir unser Vaterland lieben, weil wir wissen, daß die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands eine unumstößliche historische Gesetzmäßigkeit ist und jeder zugrunde gehen wird, der sich diesem Gesetz entgegenzustellen wagt“ (W. Ulbricht in seinem Schlußwort auf dem IV. SED-Parteitag 1954).
Im Dezember 1960 bezeichnete Ulbricht vor dem Zentralkomitee der SED die Ansicht, daß zwei deutsche Nationen entstehen könnten, als „falsche Perspektive“. Im Mittelalter habe es geschehen können, daß sich vom Körper der deutschen N. einzelne Glieder lösten und zu selbständigen N. wurden. Sobald sich jedoch erst einmal eine moderne N. herausgebildet habe, sei „trotz vorübergehender Spaltung die Wiederherstellung der Einheit der Nation historisch unvermeidlich“.
In den 50er Jahren bediente sich die DDR des Attributs „national“ häufig zur Charakterisierung wesentlicher Elemente und Institutionen ihrer Politik (Nationale Geschichtsbetrachtung seit 1952; Nationale Front; Nationales Aufbauwerk; Nationale Volksarmee). Bei der Definition des Begriffes N. folgte sie zunächst der Begriffsbestimmung Stalins aus dem Jahre 1913: „Eine Nation ist eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart“ (Stalin in „Marxismus und nationale Frage“).
Seit 1962 ist die Definition Stalins mehrfach als formal und abstrakt kritisiert worden, ohne daß es der SED gelang, eine neue verbindliche Kurzformel zu finden. In der „Einheit“ (Heft 5, 1962) bezweifelte A. Kosing die Verwendbarkeit der zuvor stets als verbindlich anerkannten Begriffsbestimmung Stalins mit dem Hinweis darauf, daß N. auf bestimmten sozialökonomischen Grundlagen gewachsen seien, und daß im Osten und Westen unterschiedliche Entwicklungsstufen existierten. Die Schlußfolgerung, in Deutschland entstünden mithin zwei N., lehnte Kosing indessen ab.
Nachdem Ulbricht 1962 — nach der amerikanisch-sowjetischen Konfrontation in der Kuba-Frage — einen „nationalen Kompromiß“ zur Lösung der NF. der Deut[S. 583]schen auf der Grundlage friedlicher Koexistenz zwischen beiden Staaten empfohlen hatte, ohne den Inhalt eines solchen Kompromisses näher zu erläutern, versicherte die SED in ihrem auf dem VI. Parteitag im Januar 1963 verabschiedeten Programm, sie halte „unverrückbar an ihrem Ziel, der Wiederherstellung der nationalen Einheit Deutschlands“, fest. Historische Mission der Partei sei es, durch die „umfassende Verwirklichung des Sozialismus“ in der DDR eine feste Grundlage dafür zu schaffen, daß „in ganz Deutschland die Arbeiterklasse die Führung übernimmt, die Monopolbourgeoisie auch in Westdeutschland entmachtet und die nationale Frage im Sinne des Friedens und des gesellschaftlichen Fortschritts gelöst wird“.
Auch die Verfassung der DDR von 1968 ging in ihrer Präambel und vor allem in den Artikeln 1 und 8 von der Existenz einer deutschen N. in zwei Staaten aus. Nachdem in den 60er Jahren insbesondere sowjetische Ideologen versucht hatten, die von Stalin erwähnten Kriterien einer N. zu verfeinern und durch weitere Begriffsmerkmale zu ergänzen, ohne daß ihnen eine neue verbindliche Definition gelang, bemühte sich die SED um eine genauere Unterscheidung verschiedener Typen von N.: 1. „Bürgerliche N.“, die — wie die britische und die französische — bereits in einer „vorkapitalistischen“ Periode entstanden seien, 2. „sozialistische N.“ in der Sowjetunion und in den nach 1945 entstandenen Volksdemokratien, 3. aus kolonialer Abhängigkeit befreite N. in Asien und Afrika, 4. die durch „imperialistische Mächte im Bund mit der einheimischen Reaktion“ gespaltenen N. in Deutschland, Korea und Vietnam (E. Hühns, Heimat — Vaterland — Nation, Berlin [Ost] 1969).
In der zweiten Hälfte der 60er Jahre legte die SED zunehmend Wert auf eine Unterscheidung der Begriffe „N.“, „Staatsvolk“ und „Bevölkerung“. Die letztere Bezeichnung wurde im Hinblick auf die mehr als 2 Mill. West-Berliner Bürger verwendet, um nicht der Entscheidung darüber vorzugreifen, ob West-Berlin als eigener Staat mit voller Völkerrechtssubjektivität anzusehen sei. Die Bewohner der Bundesrepublik Deutschland einerseits, die der DDR andererseits wurden dagegen jeweils als von einander völlig unabhängige „Staatsvölker“ bezeichnet - 1967 kodifizierte die DDR ein spezifisches Staatsangehörigkeitsrecht aller DDR-Bürger (einschließlich derer, die nach 1949 ohne Genehmigung das Territorium der DDR und Ost-Berlins verlassen hatten). Dennoch hielt die Partei noch bis 1969 an ihrer Konzeption fest, daß die Deutschen in beiden Staaten zu einer N. gehörten.
Anfang 1970 vollzog die SED in der NF. einen abrupten Kurswechsel. Er stellte eine Reaktion auf die Deutschlandpolitik der Bundesregierung dar, die sich in der Regierungserklärung des Kabinetts Brandt-Scheel die Formel „zwei Staaten - eine Nation“ zu eigen gemacht hatte, sie aber zugleich gegen das Begehren der DDR nach ausdrücklicher Anerkennung ihrer Völkerrechtssubjektivität ins Feld führte, und zudem aus der These vom Fortbestand der N. sowie der fortbestehenden Vier-Mächte-Verantwortung für Deutschland als ganzes ihre Forderung nach besonderen innerdeutschen Beziehungen ableitete.
Die im Art. 1 der Verfassung vom April 1968 enthaltene Charakterisierung der DDR als „sozialistischer Staat deutscher Nation“ wurde seitdem im politischen Sprachgebrauch durch die Bezeichnung „sozialistischer deutscher Nationalstaat“ ersetzt. Die im Widerspruch zur neuen Interpretation der NF. stehenden Verfassungsnormen wurden schließlich von der Volkskammer mit Wirkung vom 7. 10. 1974 abgeschafft: Als „ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern“ (Art. 1) will die DDR nunmehr verstanden werden. Aus der Präambel der Verfassung wurde der Hinweis auf die Verantwortung für den zukünftigen Weg der „ganzen deutschen Nation“ gestrichen. Der 2. Absatz des Art. 8, der die „schrittweise Annäherung der beiden deutschen Staaten bis zu ihrer Vereinigung auf der Grundlage der Demokratie und des Sozialismus“ postulierte, wurde ersatzlos gestrichen.
Für die Führung der DDR stellte die 1969/70 eingeleitete neue Ostpolitik der sozialliberalen Bundesregierung insofern eine ernste Herausforderung dar, als sie ihr eigenes Bemühen um die Herausbildung eines spezifischen DDR-Staatsbewußtseins durch intensivere Kontakte und Kommunikationsmöglichkeiten zwischen den Deutschen in beiden Staaten behindert und gefährdet sah. Zudem meinte die SED, in dem Rückgriff der Bundesregierung auf die ursprünglich auch von ihr gebrauchte Formel „Zwei Staaten - eine Nation“ ein Instrument zur fortgesetzten Einwirkung auf die innere Entwicklung der DDR sehen zu müssen, obwohl ein solcher Anspruch von der Bundesrepublik nicht geltend gemacht wurde. Im Grundlagenvertrag (Art. 6) war festgelegt worden, daß sich die Hoheitsgewalt jedes der beiden Staaten auf sein Staatsgebiet beschränkt und die Unabhängigkeit und Selbständigkeit beider in inneren und äußeren Angelegenheiten zu respektieren ist. Trotzdem fühlte sich die SED durch die Ost- und Deutschlandpolitik der Bundesregierung in die Defensive gedrängt, die ihren deutlichsten Ausdruck in der Politik der Abgrenzung findet.
Nach Auffassung der SED-Führung läßt derzeit kein Kriterium den Schluß zu, daß eine einheitliche deutsche N. bestünde — weder existiere ein gemeinsames Territorium beider Staaten, noch eine gemeinsame Wirtschaft. Auch ein drittes Kriterium — die Gemeinsamkeit bestimmender psychischer und moralischer Eigenschaften — verweise auf diametrale Unterschiede in den Lebensgewohnheiten und Denkweisen der Bürger beider Staaten. Eine gemeinsame Kultur existiere nicht mehr („Denn die herrschende Kultur ist stets die Kultur der herrschenden Klasse“, so A. Norden a. a. O., S. 23), von geschichtlicher Gemeinsamkeit könne angesichts des abweichenden Geschichtsverständnisses ebenfalls nicht mehr gesprochen werden. Schließlich lasse auch die gemeinsame deutsche Sprache keinen Schluß auf den Fortbestand einer N. zu: Deutsch werde in Österreich sowie in Teilen der Schweiz, Luxemburgs und Ostfrankreichs gesprochen, ohne daß daraus die Zugehörigkeit zur deutschen N. abzuleiten sei.
[S. 584]Zwar dürfen nach Meinung der SED ethnische Besonderheiten nicht übersehen werden; sie könnten jedoch nicht das Wesen einer N. bestimmen - als das Bestimmende gilt vielmehr die Klassenstruktur, die sozialökonomische Gestalt einer Gesellschaft:.„Nationen sind in erster Linie das Resultat grundlegender ökonomischer und sozialer Entwicklungsprozesse und geschichtlicher Klassenkämpfe“ (H. Axen, Zur Entwicklung der sozialistischen Nation in der DDR, Berlin [Ost] 1973, S. 16).
Diese Anfang der 70er Jahre vollzogene Umdeutung der NF, ist in breiten Schichten der Bevölkerung der DDR auf Unverständnis und Widerspruch gestoßen - teilweise sogar bei Mitgliedern der SED, die viele Jahre lang in einer ganz anderen Konzeption geschult und erzogen worden waren.
Eine neue Deutung der NF. soll auch das revidierte Parteiprogramm enthalten, das möglicherweise auf dem IX. SED-Parteitag 1976 beschlossen werden wird. Es ist allerdings nicht auszuschließen, daß die SED dabei eine Formulierung wählt, die ihr in einer veränderten und für sie günstigeren Situation den Rückgriff auf die „nationale“ Argumentation der 50er und 60er Jahre erlaubt. Bereits auf dem 13. Plenum des ZK der SED im Dezember 1974 erfolgte durch den Ersten Sekretär des ZK eine Modifikation des bisherigen Standpunktes der SED in der NF. Während wie bisher an der These von der Spaltung der deutschen N. in eine bürgerlich-kapitalistische in der Bundesrepublik — die wieder in sich gespalten sei — und eine sich ständig entwickelnde sozialistische in der DDR festgehalten wird, erklärte Honecker den Begriff der (deutschen) „Nationalität“ zum auch für Bürger der DDR fortbestehenden Charakteristikum: „Unser sozialistischer Staat heißt Deutsche Demokratische Republik, weil ihre Staatsbürger der Nationalität nach in der übergroßen Mehrheit Deutsche sind.“ Und: „… ohne jede Zweideutigkeit: Staatsbürgerschaft — DDR, Nationalität — deutsch. So liegen die Dinge“. Daß auch der Begriff „Deutschland“ im Sinne einer offensiveren Deutschlandpolitik der SED wieder Bedeutung erhalten könne, gab Honecker ebenfalls zu erkennen: „Wir (die DDR) repräsentieren … das sozialistische Deutschland“ (Neues Deutschland vom 13. 12. 1974). Zu Merkmalen der Nationalität rechnet die SED jetzt Herkunft, Sprache, Lebensgewohnheiten und Traditionen, also die sog. ethnischen Eigenschaften, aufgrund deren die Bürger der DDR „ihrer Nationalität nach Deutsche“ sind: „Die sozialistische Nation in der DDR ist deutscher Nationalität“ (Neues Deutschland vom 15./16. 2. 1975). Allerdings wird konstatiert, daß sich auch die ethnischen Eigenschaften in der Realität der sozialistischen Gesellschaft, der sich entwickelnden sozialistischen N. „allmählich“ verändern, sich der „sozialistischen Lebensweise“ anpassen und einen „reicheren und modifizierten Inhalt“ gewinnen. Die These der SED, daß zur noch gemeinsamen deutschen Nationalität keine N. gehören soll, wird neue Diskussionen in der DDR auslösen und die Parteiideologen zu neuen Erklärungsversuchen zwingen. Staatsbürgerschaft; Deutschlandpolitik der SED; Außenpolitik.
Fundstelle: DDR Handbuch. Köln 1975: S. 582–584
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