DDR von A-Z, Band 1975

Phasen der Wirtschaftspolitik seit 1963 (1975)

 

 

Siehe auch das Jahr 1979

 

Die Wirtschaftspolitik steht neben der Deutschland- und Außenpolitik im Mittelpunkt der politischen Aktivitäten der Partei- und Staatsführung der DDR. Stellung und Aufgaben der Wirtschaft im politischen Gesamtsystem unterlagen seit 1963 unterschiedlichen Einschätzungen, die sich in generellen Schwankungen des wirtschaftspolitischen Kurses niederschlugen. Markiert durch die Parteitage der SED in den Jahren 1963 (VI. Parteitag), 1967 (VII. Parteitag) und 1971 (VIII. Parteitag) sind bestimmte PdW. zu unterscheiden. Während 1963/1964 zu Beginn des Neuen Ökonomischen Systems (NÖS) den wirtschaftlichen Problemen politische Priorität eingeräumt wurde, so daß der SED intern der Vorwurf gemacht wurde, sie würde sich zu einer reinen „Wirtschaftspartei“ wandeln, wurde seit 1965, verstärkt seit 1967, der Akzent erneut mehr auf ideologisch-politische Fragen und die besondere Führungsrolle der SED gelegt.

 

Die seit 1963 in den Phasen des NÖS und des ökonomischen Systems des Sozialismus initiierten und durchgeführten Veränderungen im Aufbau und Ablauf des Wirtschaftssystems sind untrennbar mit dem Wirken des früheren Ersten Sekretärs des ZK der SED, W. Ulbricht, verbunden. Dabei kam es zu Ausprägungen einer DDR-typischen Wirtschaftsordnung, deren staatlich-nationale Elemente darauf zurückgeführt wurden, daß mit der DDR erstmals [S. 630]ein hochindustrialisiertes Land „sozialistische Planwirtschaft“ praktisch verwirklichte. So bezeichnete Ulbricht das NÖS als die konkrete Anwendung und Weiterentwicklung der Leninistischen Prinzipien der sozialistischen Wirtschaftsführung in einem hochentwickelten Industrieland: „Wir sind uns bewußt, daß wir in der Deutschen Demokratischen Republik den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus entsprechend unserer nationalen Bedingungen durchgeführt haben und durchführen. Diese Bedingungen unterscheiden sich von denen, die die Sowjetmacht hatte, als sie den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus vollzog“ (5. Tagung des Zentralkomitees der SED, Februar 1964). Seit dem VIII. Parteitag der SED wird die Originalität der DDR-Wirtschaftspolitik nicht mehr hervorgehoben. Der neue wirtschaftspolitische Kurs betont stattdessen die enge Verbindung zur Entwicklung der Sowjetunion und zu anderen RGW-Ländern.

 

Die gesamte DDR-Wirtschaftspolitik seit 1963 verfolgte das umfassende Ziel, die real möglichen materiellen Nutzeffekte des technischen Fortschrittes unter Aufrechterhaltung der staatlichen Verfügung über das Produktionsmitteleigentum und der zentralen Planung und Leitung — als den beiden konstitutiven Merkmalen des Wirtschaftssystems — zu erreichen. Die wirtschafts- und technologiepolitischen Formeln änderten sich wiederholt: „Erreichen des wissenschaftlich-technischen Höchststandes“, „Meisterung der wissenschaftlich-technischen Revolution“ „Überholen ohne Einzuholen“. Die ihnen zugrundeliegende Aufgabe besteht auch gegenwärtig vor allem darin, ein höheres Innovationstempo und eine größere Fähigkeit in der Anpassung der Produktion an die wissenschaftlich-technische Entwicklung zu erzielen (Forschung). Bei der in polit-ökonomischer Sicht entscheidenden Meßziffer, der Arbeitsproduktivität, erreichte die Wirtschaft der DDR ebensowenig das Niveau westlicher Industrieländer, wie generell im Bereich der Technologien, der Fertigungs- und Verteilungsorganisation und der Qualität der industriellen Güter und Leistungen.

 

Die konkreten wirtschaftspolitischen Maßnahmen wurden entscheidend durch den Übergang der Wirtschaft von der extensiven zur intensiven Produktion bestimmt. Die gestiegene Bedeutung einer effizienten Wirtschaftsstruktur, des technischen Wissens, des Ausbildungsniveaus und der Innovationsbereitschaft der Wirtschaftsleiter für die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft wurde schon frühzeitig erkannt und führte zu einer gezielteren Strukturpolitik, die mit der Förderung der industriellen Forschung und Entwicklung und der Aus- und Weiterbildung verbunden wurde. In diesem Zusammenhang wird seit Mitte der 60er Jahre besonderes Gewicht auf langfristige Pläne gelegt, um für die Arbeit der Betriebe stabilere Bedingungen zu schaffen. Kennzeichnend ist zudem die verstärkte Konzentration von Beschäftigten und Fertigungsstätten in fast allen Branchen (Betriebsformen und Kooperation).

 

Die Wirtschaftspolitik seit 1963 verlief nicht kontinuierlich. Die anfängliche wirtschaftswissenschaftliche Reformdiskussion (Liberman-Diskussion) hatte zunächst nur die Richtungen der Veränderungen geklärt, ohne schon erprobte Instrumente anbieten zu können. Die Mehrzahl der Steuerungsinstrumente und Regelmechanismen mußten in „ökonomischen Experimenten“ erst entwickelt und erprobt werden. Das auch gegenwärtig noch verbreitete Experimentieren mit einzelnen wirtschaftspolitischen Maßnahmen erleichtert bestimmte Kursschwankungen und fördert insofern einen gewissen Voluntarismus in der Wirtschaftspolitik.

 

Das schrittweise Vorgehen ist mit Schwerpunktbildungen sowohl bei der Gestaltung des Planungssystems, den wirtschaftsorganisatorischen Maßnahmen wie auch bei der Investitionspolitik verknüpft. Bei der Investitionsentwicklung zeichnete sich eine Wellenbewegung ab, nach der zunächst der Schwerindustrie- und Energiesektor, dann in der zweiten Hälfte der 60er Jahre der Bereich der Wachstumsindustrien (Chemie, elektrotechnische und elektronische Industrie, wissenschaftlicher Gerätebau, Maschinen- und Fahrzeugbau) und seit 1971 der Bereich der Zuliefer- und Konsumgüterindustrie (sowie erneut und verstärkt, der Energiesektor) gefördert wurden.

 

Entsprechend verlief auch die Wirtschaftsentwicklung in dem Zeitraum seit 1963 nicht stetig, wenngleich im gesamten Zeitraum ein deutlicher Aufwärtstrend zu verzeichnen ist.

 

I. Neues Ökonomisches System (NÖS)

 

 

Bezeichnung für die Konzeption und die Maßnahmen der auf dem VI. Parteitag der SED (15. 1.–21. 1. 1963) beschlossenen Wirtschaftsreform. Bis Ende 1965 (11. Tagung des ZK der SED) galt die Bezeichnung Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft (NÖSPL). Nach praktischen Erprobungen und mehrfachen Beratungen (z. B. auf der gemeinsamen Wirtschaftskonferenz des ZK der SED und des Ministerrats am 24. und 25. 6. 1963) wurde durch Beschluß des Ministerrats die Richtlinie für das neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft vom 11. 7. 1963 zum verbindlichen Programm der Modernisierung und Rationalisierung des Wirtschaftssystems. Mit ihm begann 1963 eine Phase des Ausbaus des wirtschaftlichen und politischen Systems der DDR. Das Programm ging von einer realistischen Einschätzung der Lage und der Möglichkeiten der Wirtschaft aus. Die Ziele der vergangenen wirtschaftspolitischen Kampagnen des „Einholens und Überholens der Bundesrepublik“ und der „Störfreimachung“ der Wirtschaft hatten [S. 631]sich ebenso wie die des Siebenjahrplanes von 1959 als nicht erreichbar erwiesen. Die Gründe waren neben unrealistischen Planansätzen auch im Fehlen wirtschaftlicher Lenkungskategorien, in der unsachgemäßen Leitung und — volkswirtschaftlich gesehen — im ökonomischen Verhalten der Wirtschaftenden und Planenden (kritisch gekennzeichnet als „Tonnenideologie“ und „weiche Planung“) zu suchen.

 

Durch das NÖS sollten die bestehenden Mängel beseitigt und ein dem entwickelten industriellen Niveau angepasstes Planungs- und Leitungssystem aufgebaut werden. Auch wenn die Einführung und Durchsetzung der Reform nicht in scharf voneinander zu trennenden Phasen abliefen, lassen sich dennoch Teilabschnitte aufzeigen:

 

a) Teilphase 1963–1965. Kennzeichnend für das NÖS wurde die weitgehende Anerkennung einer technisch-ökonomischen Rationalität als eines allen Entscheidungen und wirtschaftlichen Handlungen zugrunde liegenden Prinzips und die Orientierung auf die Funktionstüchtigkeit des Systems. Die Richtlinien beschrieb das NÖS als „die organische Verbindung der wissenschaftlich fundierten Führungstätigkeit in der Wirtschaft und der wissenschaftlich begründeten, auf die Perspektive orientierten, zentralen staatlichen Planung mit der umfassenden Anwendung der materiellen Interessiertheit in Gestalt des in sich geschlossenen Systems ökonomischer Hebel“. Es sollte „eine gewisse Selbstregulierung auf der Grundlage des Plans“ erreicht werden. Das Reformprogramm enthielt personelle, institutionelle und funktionelle Aspekte. Seine Grundzüge sind die Anwendung eines „in sich geschlossenen Systems ökonomischer Hebel“ anstelle administrativer Einzelanweisungen, die Umstrukturierung der Wirtschaftsorganisation und die Forderung nach einer „wissenschaftlich fundierten“, fachgerechten Leitung und einer verbesserten Planungsmethodik.

 

Die ökonomischen Hebel wurden als Beziehungen zwischen „objektiven gesellschaftlichen Erfordernissen und den materiellen Interessen der Menschen“ verstanden. Dies waren für den betrieblichen Bereich wichtige Größen wie Gewinn, Kosten, Preise, Umsatz und Rentabilität. Sie wurden insgesamt zu Kriterien der Beurteilung wirtschaftlicher Leistung, ohne daß eine einzelne Lenkungskategorie zur allein entscheidenden Kennziffer erhoben wurde. Im individuellen Bereich waren es leistungsabhängige Lohnarten sowie Prämien, aber auch zusätzliche Ferien, die das „materielle Interesse“ der Arbeitnehmer stimulieren und lenken sollten. Daneben ließ das indirekt wirkende System der ökonomischen Hebel eine Vereinfachung der Planung zu. Schrittweise ging man deshalb dazu über, Leistungsanforderungen der Pläne an die Betriebe statt in Mengenangaben in Finanzkennziffern auszudrücken.

 

Der Versuch, monetäre Kennziffern zur Lenkung der Wirtschaft zu verwenden, erforderte zunächst eine Neufixierung des Preis- und Bewertungssystems, um eine wirklichkeitsnähere, den tatsächlichen Aufwand der Betriebe erfassende Kostenrechnung zu ermöglichen. Am 30. 1. 1964 beschloß der Ministerrat die Neubewertung der Produktionsanlagen (Umbewertung der Grundmittel) und die Korrektur der Abschreibungssätze. Am 1. 4. 1964 begann auf Grund eines Ministerratsbeschlusses vom 1. 2. 1964 eine Industriepreisreform. Über die neuen Industriepreise sollte für die Betriebe ein wirtschaftlicher Anreiz zu rationellerer Fertigung und zu günstigen Sortimenten geschafft werden. Die Preisreform wurde in drei Etappen durchgeführt und 1967 abgeschlossen. Sie führte zu einer Anhebung des Preisniveaus für Industriegüter. Am Prinzip der staatlichen Preisfestsetzung änderte sich jedoch nichts (Preissystem und Preispolitik).

 

Kernstück der durch das NÖS hervorgerufenen Umstrukturierung der Wirtschaftsorganisation war die Umbildung der Vereinigungen Volkseigener Betriebe (VVB) (Betriebsformen und Kooperation), die bisher lediglich administrative Hilfsorgane des Volkswirtschaftsrates und der Ministerien waren, zu „ökonomischen Führungsorganen“ der einzelnen Industriezweige. Die VVB wurden damit zu finanziell relativ selbständigen, nach dem Produktionsprinzip organisierten „sozialistischen Konzernen“ mit voller Verantwortung für die technische und kaufmännische Entwicklung der ihnen unterstellten volkseigenen Betriebe. Neben der Stärkung der Rolle der VVB, was einer Kompetenzverlagerung von der zentralen auf die mittlere Ebene gleichkam, führten die wirtschaftsorganisatorischen Änderungen auch zu zusätzlichen Kompetenzen des VEB (z. B. beim Abschluß von Wirtschaftsverträgen) und der Bezirkswirtschaftsräte.

 

Das Ziel einer fachlichen Leitung erforderte in erster Linie von den führenden Wirtschaftspolitikern und -fachleuten und der staatlichen Verwaltung ein Umdenken und die Beachtung von Kriterien der technisch-ökonomischen Effizienz sowie die Bereitschaft, neue Leitungsmethoden (z. B. Operationsforschung, Netzwerkplanung) anzuwenden bzw. zu entwickeln. Parallel dazu stieg der Bedarf an qualifizierten Ökonomen, Technikern und Wissenschaftlern. Die Aus- und Weiterbildung der Wirtschaftsleiter und der staatlichen Funktionäre mußte vor allem in methodischer Hinsicht verbessert werden. In Verbindung und als Folge davon erhielt die wirtschaftswissenschaftliche Lehre und Forschung starke Impulse.

 

b) Teilphase 1965–1967. Nachdem sich das Politbüro der SED kritisch mit der Arbeit zentraler Organe der Wirtschaftsleitung befaßt hatte, wurde auf der 11. Tagung der ZK der SED im Dezember 1965 der Beginn einer „zweiten Etappe“ des NÖS angekün[S. 632]digt. Merkmale der zweiten Phase waren organisatorische und planungsmethodische Veränderungen und neue Maßnahmen hinsichtlich der Art und des Umfangs der Lenkungsgrößen. So trat z. B. an die Stelle verschiedener, im Laufe des Jahres in den Betrieben gezahlter Prämien eine „Jahresendprämie“. In einigen VVB wurde 1966 die Produktionsfondsabgabe als Form eines Zinses auf das eingesetzte Kapital erprobt und 1967 eingeführt. Die Veränderungen auf der Ebene der zentralen Wirtschaftsleitung, wie die Gründung von acht Industrieministerien anstelle des aufgelösten Volkswirtschaftsrats, und die Konzentration der Aufgaben der Staatlichen Plankommission auf die Ausarbeitung zukünftiger Entwicklungsziele, stärkte die Entscheidungs- und Kontrollbefugnisse des Ministerrats gegenüber den VVB, VEB und sonstigen Einrichtungen.

 

c) Wirkungen und Korrektur des NÖS. Auf dem VII. Parteitag der SED vom 17. bis 22. 4. 1967 kam es zu einer zunächst noch vage formulierten konzeptionellen Wende. Die Gestaltung des „Entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus“ (ESS) mit dem „ökonomischen System des Sozialismus“ (ÖSS) als „Kernstück“ wurde zur wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Aufgabe der nächsten Jahre bestimmt. Wenngleich diese allgemeine Zielsetzung explizit nicht zugleich eine grundlegende Änderung des NÖS bedeutete, war damit zumindest programmatisch der Übergang zu einer veränderten Wirtschaftskonzeption eingeleitet. Wichtige monetäre Steuerungsinstrumente, die im NÖS eingeführt worden waren, gelangten in den Jahren 1968 bis 1970 erst zur vollen Wirksamkeit; der auch nach 1967 noch weiterentwickelte Rahmen eines die zentralen Planfestlegungen ergänzenden wirtschaftspolitischen Steuerungssystems blieb ebenfalls bestehen. Wichtige Änderungen erfolgten jedoch bei der Strukturpolitik.

 

Die wirtschaftliche Entwicklung der DDR hatte in den Jahren des NÖS — nach einer Phase der Stagnation zu Anfang der 60er Jahre — einen relativ konstanten Aufwärtstrend erlebt, so daß die neue Wendung überraschte. Allerdings war ein funktionierendes System der langfristigen Wirtschaftsplanung noch nicht gefunden worden. Ungelöst blieb vor allem das Problem, die unterschiedlichen ökonomischen Hebel und Steuerungsgrößen so zu kombinieren, daß eine annähernde Übereinstimmung zwischen volkswirtschaftlichen, gesamtstaatlichen, betrieblichen und individuellen Interessen bei Vorrang staatlicher Zielvorstellungen erreicht werden konnte. Damit blieb vorläufig auch das Problem einer „optimalen“ Verteilung der Entscheidungskompetenzen auf den verschiedenen Ebenen der Wirtschaftsorganisation ungelöst.

 

Zu den bis heute zu beobachtenden Auswirkungen des NÖS, die über den engeren Wirtschaftsbereich weit hinausgehen, zählt vor allem die stärkere Berücksichtigung, die moderne sozialwissenschaftliche und mathematisch-statistische Disziplinen und Methoden in Lehre, Forschung und gesellschafts- wie wirtschaftspolitischer Praxis fanden.

 

Ferner wurde das Ausbildungssystem im Hinblick auf eine stärkere Berufsdifferenzierung reformiert; neue Wissenschaftszweige (z. B. sozialistische Wirtschaftsführung; sozialistische ➝Leitungswissenschaft) entfalteten sich, und der Sachverstand gewann auf allen Produktions- und Leitungsebenen an Bedeutung. Das Gesamtsystem der DDR wurde von dieser Entwicklung betroffen, die in gewissem Maße dadurch charakterisiert ist, daß die Verwirklichung des NÖS auch von einem Wandel der SED begleitet war. Dieser Wandel fand vor allem in führungsstruktureller, parteiorganisatorischer (zeitweilige Umstrukturierung der Parteiorganisation nach dem Branchenprinzip) und ideologischer Hinsicht statt.

 

II. Ökonomisches System des Sozialismus (ÖSS)

 

 

Bezeichnung für die in den Jahren 1967–1970 vorherrschende Konzeption und die Maßnahmen zur Gestaltung des Wirtschaftssystems. Diese neue Bezeichnung spiegelte das Bestreben wider, die in der Formulierung Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft zum Ausdruck kommende Betonung der Funktionstüchtigkeit und ökonomischen Effizienz so zu ergänzen, daß die ideologischen Aspekte der Wirtschaftsreform und damit die Führungsrolle der Partei deutlicher hervorgehoben wurden. Die SED-Führung suchte damit zu verhindern, daß ihre Zuständigkeit auf Teilfunktionen (z. B. der generellen wirtschaftspolitischen Zielauswahl) reduziert wurde und sich mehr oder weniger rein ökonomische Orientierungen ausbreiteten.

 

Andererseits wurde an der durch das NÖS eingeführten Dezentralisierung von Entscheidungen in Form der — entsprechend unterschiedlicher Leitungsebenen — abgestuften Konkretisierungen einer zentral formulierten volkswirtschaftlichen Wachstumspolitik festgehalten. Die Grundidee des ÖSS wurde 1968 in Art. 9 der neuen DDR-Verfassung fixiert: „Das ökonomische System des Sozialismus verbindet die zentrale staatliche Planung und Leitung der Grundfragen der gesellschaftlichen Entwicklung mit der Eigenverantwortung der sozialistischen Warenproduzenten und der örtlichen Staatsorgane.“

 

a) Maßnahmen: Die seit 1963 in der Industrie gesammelten Erfahrungen und neuere wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse wurden jetzt auf andere Wirtschaftsbereiche (Landwirtschaft, Banken, Handel) und partiell auch auf den staatlichen Bereich (z. B. durch Einführung des „Prinzips der Eigenverantwortlichkeit von Städten, Gemeinden, örtlichen Vertretungen und Betrieben“) übertragen. Mit der [S. 633]Einführung eines an den Staatshaushalt abzuführenden Kapitalzinses (als Produktionsfondsabgabe, Handelsfondsabgabe) der Bodennutzungsgebühr insbesondere für den Entzug landwirtschaftlicher Bodenflächen für andere Nutzungen, des „fondsbezogenen“ Preistyps und einer Reihe von Maßnahmen zur Preisdynamisierung (Preissystem und Preispolitik) standen Instrumente bereit, die eine höhere Kapitalproduktivität und Kostensenkungen ermöglichten. Die Betriebe konnten über einen Teil des erwirtschafteten Nettoertrages relativ frei verfügen (Anwendung des „Prinzips der Eigenerwirtschaftung der Mittel“), was in Verbindung mit einer verbesserten betriebswirtschaftlichen Kostenrechnung (wirtschaftliche Rechnungsführung) und der Herstellung von Geschäftsbeziehungen zwischen Betrieben und Banken zu Leistungssteigerungen führte. Damit waren wichtige monetäre Steuerungsinstrumente in das Planungssystem eingefügt worden. Zu diesen zählte auch die Berücksichtigung des Exporterlöses der staatlichen Außenhandelsunternehmen im „einheitlichen Betriebsergebnis“.

 

Die Aktionsmöglichkeiten gerade der Betriebe, die volkswirtschaftlich wichtige Sortimente fertigten, verringerten sich allerdings wieder, als der Staatsrat am 22. 4. 1968 die Durchführung einer staatlichen Strukturpolitik beschloß. Darunter wurde die volkswirtschaftlich effiziente Gestaltung des Produktionsaufbaus, der Struktur der Sortimente, des Arbeitskräftepotentials, der Investitionsstruktur, der Kooperations- und Außenhandelsbeziehungen verstanden. Besonders nachteilig hatte sich bisher das immer noch sehr breite Erzeugnissortiment (kleine Produktionsserien, Zersplitterung der Forschung und Entwicklung, geringe Anpassungsfähigkeit an internationale Produktionsentwicklungen) ausgewirkt. Die vom Ministerrat am 16. 6. 1968 verabschiedete „Grundsatzregelung“ für die Jahre 1969 und 1970 rückte die weitere Qualifizierung der Wirtschaftsleitung (sozialistische Wirtschaftsführung) sowie vor allem die Konzentration der zentralen Planung auf „volkswirtschaftlich strukturenbestimmende Erzeugnisse, Erzeugnisgruppen, Verfahren und Technologien“ in den wirtschaftspolitischen Mittelpunkt. Erzeugnisse und Verfahren mit hoher wachstumspolitischer Bedeutung, in erster Linie chemische, elektrotechnische und elektronische Produkte sowie Erzeugnisse des Werkzeugmaschinenbaus und des Bauwesens, wurden mit Vorrang geplant. Da sie nach Art und Menge staatlich fixiert wurden, war die Produktion nunmehr vom Reformkonzept ausgeklammert. Auch die zwischenbetriebliche Kooperation sowie Forschung und Entwicklung wurden im Bereich strukturbestimmender Erzeugnisse besonders gefördert. Der Ministerrat gewann dabei an Planungskompetenz (zurück), insofern er das langfristige strukturpolitische Förderungsprogramm in einer „strukturpolitischen Konzeption“ festlegte. Für diese Aufgabe erwiesen sich makroökonomische Prognosen als ebenso wichtig wie die Einschätzung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts (wissenschaftlich-technische Revolution). Strukturpolitische Festlegungen fanden in den Jahresplänen 1969 und 1970 ihren Niederschlag. Der Perspektivplan wurde nun als das wichtigste wirtschaftspolitische Instrument angesehen. Er sollte nicht nur die Volkswirtschaft steuern und lenken, sondern umfassend das „Modell der Deutschen Demokratischen Republik als entwickeltes gesellschaftliches System eines sozialistischen Industriestaates gestalten“ (W. Ulbricht am 26. 9. 1968).

 

b) Abbruch und Auswirkung: Störungen der wirtschaftlichen Entwicklung in den Jahren 1969, insbesondere 1970, zeigten, daß die Kenntnisse über eine effiziente Wirtschaftsstruktur und die verfügbaren bzw. erforderlichen strukturpolitischen Planungsinstrumente noch zu gering waren. Als Folge der einseitigen Förderung der Produktion und Forschung in ausgewählten Wachstumsbranchen kam es zu Engpässen in den vorgelagerten Produktionsstufen und einigen Zweigen der Infrastruktur (z. B. Energiewirtschaft, Verkehrswesen, Bauwirtschaft), die sich im Herbst 1970 zu einer allgemeinen Wachstumskrise ausweiteten. Die Fortentwicklung des ÖSS, wie sie in dem vom Ministerrat am 15. 4. 1970 bestätigten Entwurf einer „Grundsatzregelung für die Gestaltung des ökonomischen Systems des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik im Zeitraum 1971–1975“, in umfangreichen Rechtsvorschriften und in Schulungsmaterialien der Arbeitsgruppe für die Gestaltung des ökonomischen Systems beim Präsidium des Ministerrates konzipiert worden war, wurde daher gestoppt. Nicht nur die Planansätze des Jahresplanes 1970, sondern auch die auf den ursprünglich erhofften Ergebnissen von 1970 basierende Konzeption des Perspektivplanes 1971–1975 mußten reduziert werden.

 

Damit war aus der Wachstumskrise und den Versorgungsschwierigkeiten eine Krise der Wirtschafts- und Planungspolitik geworden, die schließlich auch den Wechsel in der Position des 1. Sekretärs des Zentralkomitees der SED auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 beeinflußte.

 

Nach den Korrekturen der Plankennziffem folgten Ende Dezember 1970 mit dem „Beschluß über die Durchführung des ökonomischen Systems des Sozialismus im Jahre 1971“ bedeutsame Änderungen der Planungsmethoden, der indirekten Steuerungsinstrumente und des Leitungssystems in Richtung einer stärkeren Rezentralisierung, die eine neue Phase der Wirtschaftspolitik einleiteten.

 

Trotz dieses wirtschaftspolitischen Kurswechsels behielt die Erkenntnis ihre Gültigkeit, daß ein rascherer technischer Fortschritt und ein größeres Wirtschaftswachstum Änderungen der Wirtschaftsstruktur im Rahmen einer langfristigen Wirtschafts- und [S. 634]Strukturplanung notwendig machen. Waren die 50er Jahre durch den Aufbau eines Wirtschaftssystems gekennzeichnet, das sich am sowjetischen Modell orientierte, so brachten die 60er Jahre insofern einen Wechsel, als nunmehr eine längerfristige Wachstums- und Strukturpolitik betrieben wurde, die sich stark an DDR-spezifischen wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Ressourcen ausrichtete. Grundsätzlich unberührt von dem erneuten wirtschaftspolitischen Kurswechsel blieben auch die im NÖS bzw. ÖSS konzipierten und realisierten Rahmenelemente des indirekten volkswirtschaftlichen Steuerungsmechanismus: das Prinzip der Eigenerwirtschaftung der finanziellen Mittel durch Betriebe und VVB; ein verbessertes Vertragssystem mit Sanktionen bei Vertragsverletzungen; betriebswirtschaftliche Methoden der betrieblichen Kostenrechnung; ein zur Kreditvergabe gegen Zinszahlung befähigtes Bankensystem.

 

III. Wirtschaftswachstum durch Intensivierung und Rezentralisierung der Wirtschaftssteuerung

 

 

Der 1970 beginnende umfassende Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik bedeutete aber in entscheidenden Fragen der Planung und Leitung der Wirtschaft eine Rückkehr zur zentralen administrativen Wirtschaftssteuerung. Er bedeutete zudem eine Umformulierung der wirtschaftspolitischen Konzeption insofern, als

 

a) Wirtschaftswachstum zukünftig in erster Linie durch die Intensivierung der Produktions- und Leistungsprozesse erzielt und

 

b) der Konsum durch quantitativ und qualitativ erhöhte Warenbereitstellung und zusätzliche Einkommensübertragungen im Rahmen einer aktivierten Sozialpolitik gefördert werden soll.

 

Diese Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik fand ihren für den Zeitraum des laufenden Fünfjahrplans 1971–1975 verbindlichen Ausdruck in der auf dem VIII. Parteitag der SED formulierten „Hauptaufgabe“: „Die Hauptaufgabe des Fünfjahrplans besteht in der weiteren Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der sozialistischen Produktion, der Erhöhung der Effektivität, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität“ (Direktive des VIII. Parteitags der SED zum Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR 1971–1975).

 

Die Rezentralisierungsmaßnahmen wurden ergriffen, da das bisherige, noch im Ausbau befindliche System die Übereinstimmung von gesamtstaatlich-volkswirtschaftlichen Zielsetzungen und betrieblichen Interessen nicht in erforderlichem Maße herbeiführen konnte und darüber hinaus die volle Übereinstimmung von materieller und finanzieller Planung nicht gewährleistete. Ausmaß und Art der Rezentralisierung bestimmten der „Beschluß über die Durchführung des ökonomischen Systems des Sozialismus im Jahre 1971“ sowie die planmethodischen Regelungen für die Volkswirtschaftspläne 1972, 1973 und 1974. Die Zahl der den Betrieben vorgegebenen Plankennziffern wurde wieder erhöht. Darunter sind nunmehr für alle „wichtigen“ Erzeugnisse Mengenkennziffern, die es in den Jahren 1969/1970 nur noch für „strukturbestimmende“ Erzeugnisse und für besondere Investitions- und Exportaufgaben gegeben hatte. Die zuvor weithin eigenständige Investitionsplanung der Betriebe wurde zentralisiert. Alle Investitionen werden jetzt in Mengen- und Werteinheiten und in technisch-ökonomischen Kennziffern fixiert, womit zugleich eine aktive Kreditpolitik der Banken wieder unterbunden worden ist. Für die Aufnahme von betrieblichen Investitionsprojekten in den Plan wurde ein abgestuftes Genehmigungsverfahren, an dessen Spitze die Staatliche Plankommission für Neuinvestitionen ab 50 Mill. Mark Gesamtwert je Projekt zuständig ist, eingerichtet. Produktionseinstellungen und -Verlagerungen bedürfen ebenfalls der zentralen Zustimmung. Eine Vielzahl von Kennziffern regelt außerdem den Einsatz von Energie und Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffen und bestimmt die Fertigungsorganisation und die Beschäftigungsstruktur. Mit der Bilanzierungsverordnung vom 20. 5. 1971 wurde die Bilanzierung zur wichtigsten Planungsmethode. Gegenüberstellungen von Aufkommen und Bedarf für „alle volkswirtschaftlich entscheidenden Aufgaben, Verflechtungen und Proportionen“ werden zentral, d. h. von der Staatlichen Plankommission, dem Ministerrat und den Ministerien, durchgeführt. Von dem vor 1970 entwickelten „ökonomischen Hebel“ gelten unverändert lediglich die Produktionsfondsabgabe sowie ein Teil der Mittelbereitstellungen (Fondsbildung) von Betrieben und VVB weiter. Die Gewinnbildung und -Verwendung sowie die Kreditaufnahme unterliegt nun wieder der finanziellen Planung, die verstärkt auf betriebliche Kosteneinsparungen ausgerichtet wurde. Auch die Entwicklung des Preissystems zu einem aktiven Planungsinstrument wurde gestoppt. Die bestehenden, zum Teil verzerrten Preisrelationen wurden 1971 durch einen Preisstopp für fünf Jahre fixiert. Preisfestsetzungen für neue Erzeugnisse müssen von zentralen Institutionen (z. B. Amt für Preise) genehmigt werden.

 

Wirtschaftliches Wachstum soll seit dem VIII. Parteitag der SED im Jahre 1971 (15. 6.–19. 6.) vorrangig durch die intensive Nutzung der vorhandenen Produktionsanlagen und des vorhandenen Arbeitskräftepotentials erzielt werden: „Der Hauptweg, um den Umfang und die Qualität der gesellschaftlichen Produktion zu steigern, ist ihre Intensivierung und die Erhöhung der Effektivität“ (Direktive zum Fünfjahrplan 1971–1975). Die Produktionsanlagen [S. 635]sollen in erster Linie nicht mehr extensiv erweitert, sondern rationeller genutzt und die Arbeitsproduktivität erhöht werden. Mit dieser Konzeption wurden die Zielsetzungen der Technologiepolitik der ÖSS-Phase, die auf einen sprunghaften Fortschritt durch den Entwurf völlig neuer Technologien gerichtet waren, weitgehend zurückgenommen. Die Intensivierung des Wirtschaftsprozesses erfordert vor allem die Anwendung neuerer wissenschaftlicher Ergebnisse der Organisationswissenschaft, Betriebswirtschaftslehre, wirtschaftlichen Rechnungsführung, des Arbeitsstudiums sowie der Informationswissenschaft und der Industriesoziologie. Intensivierung heißt zudem, daß aufgrund einer größeren Mechanisierung und Automatisierung die Fertigungsvorbereitung gegenüber der Produktionsdurchführung an Bedeutung gewinnt. Die Maßnahmen der Intensivierung sind häufig mit denen der Rationalisierung identisch. Sie sind darauf gerichtet, Ergebnisse des wissenschaftlich-technischen Fortschritts schneller und umfangreicher zu nutzen. Schon Ende der 60er Jahre konnten in den immer wieder auftretenden Engpässen der technisch-wirtschaftlichen Entwicklung, wie der Überleitung wissenschaftlicher Resultate in die Praxis und ihre mehrfache Nutzung, gewisse Fortschritte erreicht werden. Ziel der Maßnahmen ist ferner die rationellere Verwendung und Nutzung der Rohstoffe und Energiearten, des Anlagevermögens sowie eine effizientere Arbeitskräftelenkung. Aufgrund der gegebenen Produktionsbedingungen, die durch Rohstoffarmut und den Mangel an zusätzlichen Arbeitskräften bestimmt werden, wurden folgende Aufgaben in den Vordergrund gerückt: die Weiterentwicklung bestehender Technologien und Verfahren sowie die Entwicklung neuer Materialarbeiten;

 

die erhöhte und effizientere Nutzung einheimischer Rohstoffe (z. B. Braunkohle im Energiesektor);

 

die Mechanisierung und Rationalisierung arbeitsintensiver Fertigungsabläufe;

 

die Erneuerung und umfassende Rationalisierung (Rekonstruktion) von Fertigungsstätten mit veralteten technischen Ausrüstungen.

 

Auf investitionspolitischem Gebiet bedeutet dies, daß das Anlagevermögen (Grundfonds) nur wenig erweitert werden kann, die Investitionen für den Ersatz und die Modernisierung dagegen erheblich erhöht und der bisher noch sehr hohe Anteil der Aufwendungen für die Instandhaltung und die Reparaturen gesenkt werden muß.

 

Die Veränderungen in der Planung und Leitung der VEB, Kombinate und VVB in der Zeit von 1970 bis 1974 sollen dazu beitragen, in den Mittelpunkt der betrieblichen Planung und Plandurchführung anstelle eines verbreiteten Expansionsstrebens stärker Kostensenkungen und die Aufdeckung von Produktivitäts- und Kapazitätsreserven zu stellen. Damit traten Probleme der Messung und Bewertung der betrieblichen Leistung stärker hervor, deren Lösung dadurch erschwert wurde, daß wirtschaftliche Kriterien in der Form der „ökonomischen Hebel“ — vor allem der dynamischen fondsbezogenen Preise — nach 1970 abgeschafft oder modifiziert wurden.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. Köln 1975: S. 629–635


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

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