
Revisionismus (1975)
Siehe auch die Jahre 1953 1954 1956 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1979 1985
Die Revision des etablierten Marxismus, wie er Ende des 19. Jahrhunderts vor allem von Karl Kautsky und Franz Mehring in der deutschen Sozialdemokratie vertreten wurde, fand in Eduard Bernstein (1850–1932), und vor allem in seinem erstmals 1899 erschienenen Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“, ihren schärfsten Verfechter. Bernstein ging — im Unterschied zu Kautsky und Mehring — von einer Evolution der historischen Entwicklung aus; für ihn war der Klassenkampf nicht die allein bewegende Kraft in der Geschichte. Folgerichtig lehnte er den historischen Determinismus ab und betonte eine unabhängige Entwicklung von „Basis“ und „Überbau“. Für ihn zählten allein die empirisch nachweisbaren Fakten in Wirtschaft und Gesellschaft und nicht die mit Hilfe der Dialektik zu findende „Totalität“ der Gesellschaft. Bernstein sah einen engen Zusammenhang zwischen den Zielen der historischen Entwicklung und den Mitteln, diese Ziele zu erreichen. Er stellte mit diesem Konzept die philosophischen (Dialektik), die ökonomischen (Akkumulations-, Krisen- und Werttheorie) und die historischen (Klassenkampf, Revolution) Elemente der Lehren des späten Marx (und Engels) in Frage.
In der politischen Praxis besonders der Gewerkschaften schlug sich der R. als „Reformismus“ nieder. Der Reformismus durchdrang weitgehend die Parteien der II. und III. (sozialistischen) Internationale und bestimmte den von diesen Gruppen einzuschlagenden Weg allmählicher Reformen der kapitalistischen Industriegesellschaften.
Die neueren Revisionen des Marxismus-Leninismus entstanden auf dem Hintergrund der politisch-ideologischen Entwicklung in der Sowjetunion. Bereits Lenin hatte sich in seinem Kampf gegen die Menschewiki (1903) von den humanistischen Elementen in der Lehre von Marx und Engels entfernt. Später behauptete auch Stalin, auf dem Boden eines „schöpferischen Marxismus“ zu stehen. Lenin und Stalin und in ihrem Gefolge politische Führer der Sowjetunion wie auch der Ostblockstaaten bezeichneten als R. jene systematische Kritik am Marxismus-Leninismus, die die „opportunistische Reaktion bestimmter kleinbürgerlich bzw. bürgerlich beeinflußter Schichten in der Arbeiterbewegung“ in der Phase des Übergangs vom Konkurrenzkapitalismus zum Monopolkapitalismus darstelle. „Objektiv“ sei der marxistische R. deshalb heute als „Antisowjetismus“ und generell als „Antikommunismus“ zu begreifen. Seine klassenindifferente, lediglich auf Marx und nicht auf Lenin zurückgreifende Humanismuskonzeption begünstige die antikommunistische Konvergenzthese, also die Annahme einer gegenseitigen Annäherung von kapitalistischen und sozialistischen Industriegesellschaften. Aus dieser Konzeption leite der R. den sog. demokratischen Sozialismus ab, der im Widerspruch zum wissenschaftlichen Sozialismus von Marx, Engels und Lenin stehe.
Eine wissenschaftliche Definition des R. ist vor allem deshalb schwierig, weil in der Geschichte des Marxismus stets ein Marxist den „Revisionisten“ eines anderen darstellt. So bezichtigt etwa Georg Lukács (1885–1971) sowohl Bernstein wie Kautsky des R., und er selbst wurde von den Vertretern eines dogmatischen Marxismus-Leninismus wiederholt als „Revisionist“ kritisiert.
Nach dem XX. Parteitag der KPdSU (Februar 1956), der eine scharfe Kritik am Stalinismus (Personenkult) einleitete, nimmt die Kritik am Marxismus-Leninismus und der nach den Grundsätzen des demokratischen Zentralismus aufgebauten Partei in den osteuropäischen Staaten, einschließlich der DDR, zu. Wie in Polen vor allem Leszek Kolakowski, in der ČSSR Ivan Dubsky, Milan Prucha, Ota Šik, Antonin Liehm, Ivan Švitak, Karel Kosík und Eduard Goldstücker, so traten in der DDR u. a. Ernst Bloch, Wolfgang Harich und Robert Havemann für einen „humaneren Sozialismus“ ein. Bloch verlor daraufhin 1957 seinen Lehrstuhl in Leipzig und floh 1961 in die Bundesrepublik Deutschland, Harich forderte im Juli 1956 in 16 Thesen die Demokratisierung von Partei und Staat sowie eine Weiterentwicklung der marxistischen Theorie in der DDR. Im März 1957 wurde er zu 10 Jahren Haft verurteilt. Die Wirtschaftswissenschaftler Fritz Behrens und Arne Benary kritisierten den bürokratischen Zentralismus in der Wirtschaftspolitik. Sie verfochten u. a. die in Jugoslawien versuchte Produzentenselbstverwaltung. Beide wurden von der SED gemaßregelt. Havemann wurde in den Jahren 1964–1966 aller seiner Ämter enthoben. In allen seit 1956 — und nach dem XXII. Parteitag der KPdSU (1961) — auftretenden revisionistischen Strömungen lassen sich einige Konstanten feststellen. Es sind dies: die Kritik am etablierten marxistisch-leninisti[S. 730]schen Dogma und dem bestehenden Parteiapparat mit dem Monopol der Machtausübung; damit verbunden eine kritisch-utopische Vision einer besseren, menschlicheren Gesellschaft und der Rückgriff auf die europäische philosophische Tradition; die Aufnahme neuerer, im Westen entwickelter, besonders sozialphilosophischer und soziologischer Denkrichtungen; schließlich der Versuch, eine umfassende historisch-kritische Theorie von Mensch und Gesellschaft zu entwerfen. Diese Strukturelemente des modernen R. treten, in der einen oder anderen Form, sowohl in der Philosophie, der Wirtschaftswissenschaft als auch in der Literatur zutage. In diesem Sinn sind auch Schriftsteller wie Peter Huchel und Hans Mayer sowie die in der DDR Anfang der 60er Jahre bisweilen noch gedruckten Jean-Paul Sartre, Louis Aragon und Ernst Fischer als Revisionisten anzusehen. Ihre Arbeiten sind in der DDR seit Mitte der 60er Jahre nicht mehr erhältlich.
Nach der Unterdrückung des R. wandte sich die SED-Führung seit Ende der 60er Jahre der Kritik des Sozialdemokratismus wie des Maoismus zu. Nach wie vor gilt jedoch der R., wie die Moskauer „Internationale Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien“ im Jahre 1969 erklärte, als der ideologische Hauptfeind. Abweichungen.
Fundstelle: DDR Handbuch. Köln 1975: S. 729–730
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