
Atomenergie (1979)
Siehe auch die Jahre 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1975 1985
Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der A. begannen Ende 1955. Zentrum der Kernforschung ist das „Zentralinstitut für Kernforschung“ mit Sitz in Rossendorf bei Dresden. Nach der Auflösung des beim Ministerrat errichteten „Amt für Kernforschung und Kerntechnik“ untersteht es seit dem 1. 5. 1963 der Akademie der Wissenschaften der DDR. Direktor des Instituts ist gegenwärtig Prof. Dr. G. Flach. Die Hauptarbeitsgebiete des Instituts betreffen: Fragen der Kernphysik, Radiochemie sowie Kernenergie. Das Institut ist Leitinstitut für die gesamte Kernforschung in der DDR. Es arbeitet eng mit entsprechenden wissenschaftlichen Einrichtungen in der Sowjetunion zusammen, in der auch ein großer Teil des wissenschaftlichen Nachwuchses — nach vorbereitendem Studium in Dresden — eine zusätzliche Ausbildung erhält.
Außerdem ist die DDR Mitglied des „Vereinigten Instituts für Kernforschung“. Diesem 1956 gegründeten Forschungsinstitut mit Sitz in Dubna (UdSSR) gehören alle RGW-Länder sowie die Mongolei, Vietnam und Nordkorea an. Es soll die wissenschaftliche Zusammenarbeit auf dem Gebiet der theoretischen und experimentellen Kernphysik ermöglichen. Die Finanzierung des Instituts erfolgt durch die Mitgliedsländer. Leitendes Organ ist das „Komitee der Bevollmächtigten Regierungsvertreter“, in das jedes Land einen Vertreter entsendet. Über die Forschungsarbeiten entscheidet ein wissenschaftlicher Rat.
Mit Unterstützung der Sowjetunion wurden in Rossendorf 1957 und 1962 die ersten Forschungsreaktoren in Betrieb genommen. 1958 erhielt das Institut aus der UdSSR ein Zyklotron mit 120 t Magnetgewicht. Einen Protonenbeschleuniger — er arbeitet nach dem Prinzip eines elektrostatischen Generators mit Ionenumladung (Tandem) und kann Protonen Energien bis 10 Mill. Elektronen-Volt verleihen — lieferte die UdSSR 1972. Innerhalb von 20 Jahren wurde die Leistung des Rossendorfer Forschungsreaktors schrittweise von 2 Megawatt (MW) auf 8 MW erhöht. Die zum Betrieb benötigten Uran-25-Brennstäbe mit einem Anreicherungsgrad von 36 v. H. wurden von der UdSSR geliefert. Gegenwärtig stellen Arbeiten zur Neutronensteuerung einen wesentlichen Teil seiner Nutzung dar. Die wichtigste Arbeit des Forschungsreaktors ist die Produktion radioaktiver Nuklide. Die auch für den Export bestimmte Produktion erreichte 1977 einen Wert von über 8 Mill. Mark.
Rund 50 v. H. der Produktion des Rossendorfer Instituts an radioaktiven Präparaten werden exportiert. Das Isotopenlieferprogramm des Binnen- und Außenhandelsunternehmens Isocommerz GmbH in Berlin (Ost) enthält eine Vielzahl radioaktiver und stabiler Isotope für die Forschung sowie für medizinische und technische Zwecke.
Eine weitere Forschungsstätte ist das Zentralinstitut für Hochenergiephysik der Akademie der Wissenschaften der DDR in Zeuthen. Fakultäten für Kerntechnik entstanden an der Technischen Hochschule in Dresden sowie an den Universitäten Leipzig, Rostock, Jena und Berlin (Ost). Darüber hinaus gründete die Kammer der Technik einen „Arbeitskreis Kernpraxis“, der Kurse und Vorträge veranstaltet.
Kerntechnische Anlagen werden im „VEB Kombinat Kernenergetik“ entwickelt und projektiert. Er ist gleichzeitig Leitbetrieb für den Bau kerntechnischer Anlagen.
Das besondere Interesse der Atomenergieforschung gilt der Ausnutzung von Atomenergie für die Erzeugung von Elektrizität. Das ständige Zurückbleiben der Stromerzeugung hinter dem steigenden Bedarf erforderte nach eigenen Angaben bereits 1970 Atomkraftwerke mit einer Gesamtkapazität von 3.000 MW. Ende 1957 wurde nördlich von Berlin bei Rheinsberg (Mark) der Bau des ersten Atomkraftwerks mit einer Leistung von 70 MW begonnen. Der von der UdSSR gelieferte Druckwasserreaktor nahm 1966 seinen Betrieb auf, 1971 wurde er auf eine Leistung von 75 MW aufgestockt. Den spaltbaren Kernbrennstoff liefert die UdSSR. Dieses Atomkraftwerk trägt jedoch nur teilweise zur Energieversorgung bei; es dient darüber hinaus Ausbildungs- und Forschungszwecken.
Das erste rein industriell genutzte Atomkraftwerk entsteht gegenwärtig in Lubmin bei Greifswald. Entscheidend für die Standortwahl waren das im Greifswalder Bodden vorhandene Kühlwasserreservoir sowie die Tatsache, daß die Nordbezirke keine Rohstoffgrundlage für Kohlekraftwerke besitzen.
Die Endkapazität des Kernkraftwerks Nord (KKW Nord) — offizielle Bezeichnung: VEB Kernkraftwerke Greifswald/Rheinsberg „Bruno Leuschner“ — soll 3.520 MW betragen. Mit dem Bau des Werkes wurde 1967 begonnen, im Dezember 1973 nahm der erste, ein Jahr später der zweite Reaktorblock seinen Probebetrieb auf. Es handelt sich um von der Sowjetunion gelieferte Druckwasserreaktoren (Wasser-Wasser-Energiereaktor WWER 440) vom Typ Nowo-Woronesh. Jeder von ihnen betreibt zwei 220-MW-Turbinen und wird im Gleichgewichtsbetrieb mit Urandioxyd beschickt, das auf einen 3,5-v. H.-Gehalt an spaltbarem Uran 235 angereichert ist. Der Jahresverbrauch eines Reaktors beträgt 14 t Uranbrennstoff: er wird von der UdSSR geliefert.
Ende 1977 hatte die Kernenergie einen Anteil an der gesamten installierten Stromerzeugungskapazität der DDR von etwas über 5 v. H. (Bundesrepublik Deutschland: 7 v. H. bzw. 7.025 MW). Der Ausbau der Kernenergie soll weiter vorangetrieben werden. Im Fünfjahrplan 1976–1980 sollen ein Viertel (ca. 1.250 MW) aller in Betrieb genommenen Kraftwerkskapazitäten auf Kernenergiebasis arbeiten. Dabei dürfte zunächst das KKW Nord weiter ausgebaut werden (1978 ist die Inbetriebnahme eines dritten 440-MW-Blocks erfolgt). Darüber hinaus hat die DDR im März 1974 mit der Sowjetunion den Bau eines weiteren Kernkraftwerks im Bezirk Magdeburg vereinbart. In diesem Werk in der Nähe von Stendal sollen erstmals 1000-MW-Blöcke installiert werden. Die Gesamtkapazität wird voraussichtlich ebenfalls 3.500 MW betragen. Mit der Inbetrieb[S. 86]nahme der ersten Blockeinheiten kann jedoch erst in den 80er Jahren gerechnet werden.
Frühestens in der ersten Hälfte der 90er Jahre werden neben den z. Z. eingesetzten thermischen Reaktoren auch „schnelle Brutreaktoren“ in der DDR genutzt. Ihr Vorteil besteht darin, daß sie mehr spaltbares Material erzeugen, als sie für ihren Betrieb benötigen.
Kontroverse Diskussionen über die Sicherheit von Atomkraftwerken werden in der DDR in der Öffentlichkeit nicht geführt. Vielmehr wird in der Presse ihre Umweltfreundlichkeit betont und das Sicherheitsproblem als grundsätzlich gelöst betrachtet. Die Problematik beider Aspekte wird in diesem Zusammenhang als wesentlich weniger kompliziert als z. B. bei Kohlekraftwerken oder in der chemischen Industrie dargestellt. Hinsichtlich der Aufbewahrung radioaktiver Abfälle heißt es, daß die hochaktiven Brennstoffe wieder zurück in die Sowjetunion geliefert werden. Abfälle mittlerer und schwacher Radioaktivität sollen dagegen in einem Salzbergwerk in der DDR gelagert werden.
Die DDR ist Mitglied der „Internationalen Wirtschaftsvereinigung für Ausrüstungen und Apparaturen zur Nutzung der Atomenergie“ („Interatominstrument“) sowie der internationalen Wirtschaftsvereinigung „Interatomenergo“, beide Organisationen im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe.
Interatominstrument (gegründet im Februar 1972) hat die Aufgabe, Forschung, Entwicklung, Konstruktion und Produktion auf dem Sektor des kerntechnischen Gerätebaus zu koordinieren bzw. Spezialisierungsvereinbarungen herbeizuführen. Ferner soll sie Normen vereinheitlichen und den Lizenzaustausch organisieren. 1977 wurde von den Mitgliedsländern ein erster multilateraler Spezialisierungsvertrag geschlossen. Dieses Abkommen regelt die Aufteilung der Produktion von 26 Geräten, deren Anteil rd. 20 v. H. des Intrablockhandels an kerntechnischen Geräten entspricht. Danach spezialisiert sich die DDR u. a. auf die Produktion von Dosimetern für medizinische Zwecke.
Die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Kernkraftwerkebaus zu koordinieren ist Aufgabe von „Interatomenergo“. Diese im Dezember 1973 von den europäischen RGW-Ländern und Jugoslawien gebildete Wirtschaftsvereinigung soll als Generallieferant für Anlagen und Ausrüstungen für Kernkraftwerke fungieren sowie die Ersatzteilversorgung und die Ausbildung von Fachkräften sichern.
Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 85–86