
Betriebsgewerkschaftsorganisation (BGO) (1979)
Siehe auch die Jahre 1975 1985
Gewerkschaftliche Grundorganisation, die in allen Betrieben und Institutionen, in denen wenigstens 10 Mitglieder des FDGB beschäftigt sind, gebildet wird. (Die Gewerkschaftsmitglieder an allgemeinbildenden Schulen werden in Schulgewerkschaftsorganisationen [SGO] mit eigener Schulgewerkschaftsleitung [SGL], Gewerkschaftsmitglieder, die in Kleinbetrieben ohne eigene BGO arbeiten, in Ortsgewerkschaftsorganisationen [OGO] mit eigener Ortsgewerkschaftsleitung [OGL] zusammengefaßt. Aufbau, Leitung und Aufgaben entsprechen denen der BGO.)
Die BGO untergliedert sich in Anlehnung an die Betriebsstruktur (Produktionsprinzip) nach Brigaden, Schichten, Meisterbereichen, Produktions- bzw. Verwaltungsabschnitten usw. in Gewerkschaftsgruppen. An der Spitze der BGO steht die Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL). Sie wird alle 2½ Jahre (d. h. [S. 186]zweimal in einem Fünfjahrplan-Zeitraum) von der Mitgliederversammlung, in Großbetrieben von der Delegiertenkonferenz, direkt und geheim gewählt. Zahlenmäßige Größe (3–25 Mitglieder) und Wahlmodus werden in den jeweils vor den Wahlen veröffentlichten Wahlordnungen des FDGB-Bundesvorstandes festgelegt. Die sozialstrukturelle Zusammensetzung der BGL (Frauen-, Produktionsarbeiteranteil) soll möglichst der des Betriebes entsprechen. Die Zahl der für die Leitungsarbeit freigestellten BGL-Mitarbeiter ist gleichfalls von der Größe des Betriebes abhängig; überwiegend ist Gewerkschaftsarbeit jedoch ehrenamtlich; selbst in Großbetrieben sind außer dem BGL-Vorsitzenden nur wenige BGL-Mitglieder für ihre Leitungstätigkeit von ihrer Arbeit freigestellt.
In Betrieben mit mehr als 300 Gewerkschaftsmitgliedern werden als mittlere Leitungsebene in den einzelnen Betriebsabteilungen Abteilungsgewerkschaftsleitungen (AGL: 5–13 Mitglieder) gewählt. Die AGL organisieren in ihrem Bereich die Gewerkschaftsarbeit, sichern die Durchführung der Beschlüsse der BGL und halten die Mitgliederversammlung ab. Die Kandidatenaufstellung erfolgt auf Mitglieder- bzw. Vertrauensleutevollversammlungen. Die Kandidatenauswahl wird zwischen amtierender BGL und Betriebsparteileitung (BPL), der der BGL-Vorsitzende in aller Regel angehört, sowie mit den übergeordneten Gewerkschafts- und Parteileitungen vorher abgesprochen. Vorgeschlagene Kandidaten können von der Mitglieder- bzw. Vertrauensleutevollversammlung in offener Abstimmung mit Stimmenmehrheit abgelehnt werden; über die Reihenfolge der Kandidaten und den Abschluß der Kandidatenliste wird ebenfalls offen abgestimmt. Die Wahl erfolgt geheim, Streichungen und Hinzufügungen können vorgenommen werden. Gewählt sind die Kandidaten (in der festgelegten Reihenfolge des Wahlvorschlages), die mehr als 50 v. H. der Stimmen erhalten haben.
Die BGL bildet Kommissionen (K.), in denen ein BGL-Mitglied den Vorsitz führt und deren Angehörige berufen werden: K. Agitation und Propaganda; K. Arbeit. Lohn und Wettbewerb; K. Sozialpolitik; K. Kultur und Bildung; Rat für Sozialversicherung; Arbeitsschutz-K.; Finanz-K.; Rechts-K.; Ständige Produktionsberatung; Jugend-K. (in GO mit mehr als 30 Mitgliedern unter 25 Jahre); Neuereraktiv.
Der Frauenausschuß wird auf Frauenvollversammlungen gewählt; die Vorsitzende ist ebenfalls Mitglied der BGL. Je nach Größe und spezieller Problematik des Betriebes können weitere K. oder Arbeitsgruppen eingerichtet (z. B. für Feriendienst des FDGB, für die Zusammenarbeit mit den Schulen) oder die Aufgaben verschiedener K. zusammengefaßt werden. Bei den AGL finden sich gleichfalls K. und Arbeitsgruppen. Ihre Zahl ist jedoch rückläufig, selbst die Bildung von Ständigen Produktionsberatungen ist auf Abteilungsebene seit 1976 freigestellt. Die AGL haben offensichtlich Schwierigkeiten, genügend Mitglieder zu aktivieren, um über eine Wahlperiode arbeitsfähig zu bleiben.
Die K. und Ausschüsse sollen die Leitungen bei der Vorbereitung, Durchführung und Kontrolle von Beschlüssen unterstützen. Sie arbeiten im Auftrage und unter Leitung der BGL. Neuere Untersuchungen zeigen, daß 10–25 v. H. der K.-Mitglieder in die Tätigkeit der BGL effektiv einbezogen sind.
Eine Sonderstellung nehmen die Konflikt- und Revisions-K. ein. Die Konflikt-K. sind Teil des Systems der Rechtspflege; für die Wahl und die Qualifizierung ihrer Mitglieder und die Auswertung der Arbeitsergebnisse der Konflikts-K. sind die BGL verantwortlich (Gesellschaftliche Gerichte).
Die Revisions-K. werden zugleich mit den BGL gewählt; sie sind als Kontrollorgane der Gewerkschaftsmitglieder definiert und überprüfen das Finanzgebaren und das satzungsgemäße Arbeiten der Leitungen.
Es entspricht der Intention, möglichst viele Mitglieder aktiv in die Gewerkschaftsarbeit einzubeziehen, um einen ständigen Prozeß der Erziehung und Selbsterziehung in Gang zu setzen, wenn auch in der Gewerkschaftsgruppe (G.) mehrere Wahlfunktionen zu besetzen sind. Die G. soll etwa 10–30 Mitglieder haben; sie wird vom Vertrauensmann (zugleich Kassierer) geleitet. Sein Stellvertreter ist der Kulturobmann. Weitere Funktionäre der G. sind der Arbeitsschutzobmann, der Bevollmächtigte für Sozialversicherung und der Sportorganisator. Die Wahl aller G.-Funktionäre erfolgt grundsätzlich offen. Die G. soll monatlich und zu besonderen Anlässen (Plandiskussion, Übernahme von Wettbewerbsverpflichtungen usw.) außerhalb der Arbeitszeit zu Versammlungen zusammenkommen. Ihre Tätigkeit wird inhaltlich durch die Beschlüsse der BGL und AGL bestimmt, die wesentlich durch die Arbeit in der G. verwirklicht werden müssen und auf die die G. ihrerseits durch Kritik, Information und Vorschläge Einfluß nimmt.
Seit den FDGB-Wahlen 1976/77 sind die Jugendvertrauensleute keine Funktionäre der G. mehr. Sie werden nunmehr in den BGO (bis 30 jugendliche Mitglieder) bzw. in den AGO (mit mehr als 30 jugendlichen Mitgliedern) in offener Abstimmung auf Jugendversammlungen gewählt, kandidieren anschließend für die entsprechenden BGL bzw. AGL und werden dort Vorsitzende oder Mitglieder der Jugend-K.
Auf Mitglieder- bzw. Abteilungsversammlungen wird auf 30–50 Mitglieder ferner jeweils ein sog. Arbeiterkontrolleur gewählt. Als Gewerkschaftsfunktionäre arbeiten sie ehrenamtlich im Rahmen der Betriebs-K. und der in den Wohngebieten tätigen Volkskontrollausschüsse der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion. Im Unterschied zu allen anderen betrieblichen Gewerkschaftsfunktionären erfolgt ihre Wahl auf 5 Jahre, da die ihnen zugewiesenen Kontrollfunktionen gegenüber den Werkleitungen bzw. im betrieblichen und örtlichen Versorgungsbereich eine erst in längerer Tätigkeit zu erwerbende Kenntnis von rechtlichen Regelungen, Institutionen und Personen voraussetzen.
Bei den staatlichen Organen, bei den Banken, Sparkassen und Versicherungen sowie in den Bereichen Unterricht. Erziehung und Kunst werden keine Arbeiterkontrolleure gewählt.
Nach den Gewerkschaftswahlen 1976/77 ergab sich fol[S. 187]gendes statistisches Bild der GO: Es bestanden 45.974 GO mit 344.156 Mitgliedern in BGL, SGL und OGL. In deren rd. 100.000 K. waren 600.000 Mitglieder tätig: darunter 10.074 Frauenausschüsse (80.968 Mitglieder) und 5.971 Jugend-K. (40.597 Mitglieder, davon 17.978 auf Betriebs- bzw. Abteilungsebene gewählte Jugendvertrauensleute).
Auf mittlerer Leitungsebene bestanden 20.204 AGL mit 156.168 gewählten Funktionären.
Auf unterster Ebene, in den G., hatten 1.248.965 Mitglieder Funktionen übernommen; darunter: 277.875 Vertrauensleute. 260.560 Kulturobleute, 260.564 Bevollmächtigte der Sozialversicherung, 241.356 Arbeitsschutzobleute, 208.610 Sportorganisatoren. Die Revisionskommissionen der BGL, SGL, OGL und AGL (mit eigener Kassenführung) hatten 131.652 Mitglieder. Ferner wurden insgesamt 92.707 Arbeiterkontrolleure gewählt.
Bei der Bewertung dieser Angaben ist nicht nur zu berücksichtigen, daß die Wahl in eine Funktion nicht notwendig etwas über deren Ausübung besagt; vielmehr nimmt der einzelne Gewählte häufig mehrere Aufgaben wahr: BGL-Mitglieder und Gruppenfunktionäre sind in aller Regel zugleich in den K. der BGL und AGL tätig usw. Der FDGB spricht von 2,2 Mill. gewählten Funktionären auf Betriebsebene, davon 46,1 v. H. Frauen.
In der Tätigkeit der BGO. insbesondere ihrer BGL und deren Organe, sollen die im Arbeitsgesetzbuch der DDR (AGB, Arbeitsrecht) vorgesehenen Mitbestimmungs-, Mitgestaltungs- und Mitwirkungsrechte der Werktätigen verwirklicht werden. Inhalt und Möglichkeiten der Arbeit der BGO bzw. der BGL werden bestimmt durch die feste Einbindung in den durch den Demokratischen Zentralismus bestimmten Organisationszusammenhang des FDGB, den Primat der SED und die (durch das Prinzip der Einzelleitung, zentral vorgegebene bzw. entschiedene Produktionspläne, gesetzlich vorgeschriebenen Formen der Verwendung der betrieblichen Fonds bestimmte) Struktur und Funktionsweise des Betriebes. Die Tätigkeit der BGL richtet sich sowohl auf die optimale Erfüllung der wirtschaftlichen Aufgaben, die Einhaltung und Durchführung der staatlichen, gewerkschaftlichen und Parteibeschlüsse als auch innerhalb dieses Rahmens auf Vertretung der unmittelbaren Interessen der Gewerkschaftsmitglieder.
Zwar spricht das AGB der BGO und ihren Organen ausdrücklich die Aufgabe zu. „die Interessen der Werktätigen im Betrieb“ zu vertreten. Die Parteibeschlüsse, Planauflagen, rechtlichen Normen usw. gelten im marxistisch-leninistischen Verständnis jedoch als grundsätzlich nicht in Frage zu stellender Ausdruck der gesellschaftlichen Interessen der Werktätigen und beanspruchen von daher Vorrang vor den Interessen einzelner oder sozialer Gruppen.
Wenn auch die grundsätzliche Identität der verschiedenen Interessen postuliert wird, bleibt das Verfolgen der verschiedenen Ziele betrieblicher Gewerkschaftsarbeit konfliktreich.
Die BGL soll mit Hilfe der differenzierten Organisationsstruktur der BGO die Betriebsangehörigen in den Plandiskussionen mobilisieren und eine eigene Stellungnahme zum Betriebsplanentwurf erarbeiten; sie schließt jährlich den Betriebskollektivvertrag (BKV) mit Jugend- und Frauenförderungsplan. Planteil Förderung der Arbeits- und Lebensbedingungen) mit der Werkleitung ab und vereinbart Arbeitsschutz- und Prämienordnungen. Der BKV und andere Vereinbarungen werden zuvor der Mitgliederversammlung, in Großbetrieben der Vertrauensleutevollversammlung unterbreitet, der die BGL viertel jährlich einen Rechenschaftsbericht gibt. Auf der Grundlage des Betriebsplans und zu seiner Erfüllung organisiert die BGL den Sozialistischen Wettbewerb und unterstützt die Neuererbewegung. Sie setzt sich gegenüber der Werkleitung und ihren Mitgliedern für die Ausarbeitung und Einhaltung der Arbeitsnormen, der Lohn- und Prämiensysteme ein, die, auf generellen Vorgaben beruhend, leistungsstimulierend wirken sollen (Materielle Interessiertheit). Die Betriebsleiter sind zur laufenden Berichterstattung über Planerfüllung und -ablauf, über grundlegende Fragen der Entwicklung des Betriebes, über die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen usw. auf den Mitglieder- bzw. Vertrauensleutevollversammlungen verpflichtet; diesen Gewerkschaftsgremien ist ein Recht auf Information und Rechenschaftslegung zugesprochen worden.
Durch von ihr organisierte Formen der Massenschulung (Schulen der sozialistischen Arbeit), Wochenendkurse, Delegation zu Lehrgängen an Gewerkschaftsschulen unterstützt die BGL die Bildung sozialistischen Bewußtseins und soll zur Heranbildung neuer Kader beitragen (Kaderpolitik).
Die auf und nach dem VIII. Parteitag der SED zu beobachtende Betonung der Rolle des FDGB als Organisation der gesellschaftspolitisch entscheidenden Klasse hat auch zu einer Stärkung der Stellung der BGO. insbesondere der BGL. geführt. Das am 1. 1. 1978 in Kraft getretene Arbeitsgesetzbuch hat diese Veränderungen zusammengefaßt und in einzelnen Punkten weitergeführt. Der BGL-Vorsitzende hat nunmehr — wie der Parteisekretär — das Recht, an den Arbeitssitzungen der Leiter teilzunehmen und in die Betriebsunterlagen, einschließlich der Personalakten, Einsicht zu nehmen. Soweit Entscheidungen des Betriebsleiters zustimmungspflichtig sind, erhalten sie erst Rechtskraft, wenn die BGL eine entsprechende Entscheidung herbeigeführt haben. Das — bereits vorhandene — Recht der BGL zur Beschwerde über Betriebsleiter bei deren übergeordneten Wirtschaftsleitungen wurde deutlicher gefaßt. Das Prinzip der Einzelleitung gilt zwar weiter uneingeschränkt, jedoch hat die BGL gegenwärtig neben der BPL der SED und der Werkleitung eine rechtlich gestärkte Position und kann in den mannigfachen betrieblichen Entscheidungsprozessen nicht mehr übergangen werden.
Der Ausbau der Mitwirkungsrechte war verbunden mit einer Konzentration der entsprechenden Gremien in der Organisationsstruktur der BGO; die außerhalb stehenden Produktionskomitees (Ständige ➝Produktionsberatungen), Neuererräte usw. wurden aufgelöst. [S. 188]Abschluß, Änderung, Auflösung und Kündigung von Arbeitsverträgen bedürfen der Mitwirkung bzw. der Mitbestimmung der BGL. Die BGL gewährt Rechtsschutz, erzieht aber zugleich ihre Mitglieder zu Arbeitsmoral und -disziplin und zur Erfüllung ihrer arbeitsrechtlichen Verpflichtungen.
Erweitert wurde der Rechte- und Pflichtenkatalog der BGL in der betrieblichen Sozialpolitik. Arbeits- und Gesundheitsschutz, Qualifizierung und Weiterbildung der Werktätigen, kulturelle Betreuung (Kulturarbeit des FDGB). Versorgung mit Dienstleistungen, Konsumgütern und Wohnraum werden von der BGL innerhalb der im Plan gesetzten materiellen Grenzen mitgestaltet und sollen in Zukunft in ein zusammenhängendes und langfristiges Konzept gebracht werden.
In Zusammenarbeit mit den örtlichen Staatsorganen, insbesondere auch mit den Vertretern des FDGB in den Volksvertretungen, greift die Arbeit der BGL in die Wohngebiete über; sie soll dort die politische, soziale und kulturelle Betreuung mitübernehmen.
Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 185–188
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