
Europapolitik der SED (1979)
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Gemeint ist damit in erster Linie die Politik gegenüber den nichtsozialistischen Staaten Westeuropas. Von einer „sozialistischen E.“ wird in der DDR erst seit 1973 gesprochen. Dies deutet darauf hin. daß die SED seit der internationalen Anerkennung der DDR als Folge der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages mit der Bundesrepublik Deutschland offenbar ihre „europäische Rolle“ neu zu definieren beabsichtigt. Bis zu diesem Zeitpunkt umfaßte ihre E. in erster Linie 2 außenpolitische Aktionsfelder, die funktional in engem Zusammenhang standen:
1. Das Konzept der KPdSU für ein „kollektives Sicherheitssystem“ in Europa (erstmalig 1954 formuliert) und ihre Vorschläge für die Einberufung einer europäischen Sicherheitskonferenz wurden von der SED-Führung vorbehaltlos unterstützt.
Auf den jährlichen Konferenzen des politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Paktes sowie auf den Außenminister-Konferenzen dieser Organisation haben die Vertreter der DDR wiederholt deutlich gemacht, daß es der SED vor allem darum ging, im Rahmen der Propaganda für eine europäische Sicherheitskonferenz die Bundesrepublik Deutschland als „Hauptstörenfried“ einer Entspannung in Europa darzustellen. Damit erklärt sich die damalige Haltung der DDR bezüglich eines Sicherheitssystems in Europa vor allem mit dessen Funktion im Rahmen der Deutschlandpolitik der SED.
2. Die Bundesrepublik Deutschland war der einzige Staat, der ausdrücklich den politischen und territorialen Status quo in Europa politisch in Frage stellte und damit von der SED als unmittelbare Gefahr für ihr Herrschaftssystem angesehen wurde. „Entlarvung der Aggressivität des westdeutschen Imperialismus“ bedeutete damit Ablehnung und Kampfansage gegenüber den deutschlandpolitischen Vorstellungen der Bundesrepublik Deutschland. Ferner ließ sich damit ständig auf die Notwendigkeit eines kollektiven Sicherheitssystems angesichts eines als potentiellen Angreifer bezeichneten NATO-Staates, der Bundesrepublik Deutschland, hinweisen.
Aus diesem Kontext bezogen alle in den 50er und. 60er Jahren an die Bundesrepublik Deutschland gerichteten Forderungen der SED ihre Berechtigung: völkerrechtliche Anerkennung der DDR;
völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und der innerdeutschen Grenze;
Anerkennung der Ungültigkeit des Münchner Abkommens („ex tunc“);
Verzicht der Bundesrepublik Deutschland auf Zugang zu Atomwaffen;
Auflösung aller ausländischen Militärstützpunkte in beiden deutschen Staaten;
Reduzierung der „Rüstungsetats“ beider deutscher Staaten;
Anerkennung von Berlin (West) als „besondere politische Einheit“ usw.
Mit dem Abschluß der Gewaltverzichtsverträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR sowie der VR Polen im Jahr 1970, der Unterzeichnung des Viermächte-Abkommens über Berlin, des Grundlagenvertrages 1972, der Aufnahme beider deutscher Staaten in die UNO 1973, dem Abschluß der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1975 und den seit 1973 andauernden Wiener Verhandlungen über einen ausgewogenen wechselseitigen Truppenabbau in Europa (unter Beteiligung von 12 NATO- und 7 Staaten des Warschauer Paktes einschließlich beider deutscher Staaten) haben sich die bis dahin von der Presse der SED vorgetragenen Begründungen für die E. der DDR verändert. Die Bundesrepublik Deutschland konnte nun nicht mehr zum „Hauptaggressor“ in Europa abgestempelt werden, da die DDR von ihr als gleichberechtigter Staat anerkannt worden war. Damit war eine überwiegend defensive Phase der E. der SED, in der es vor allem um Abwehr der Deutschlandpolitik Bonns ging, abgeschlossen.
Die Konturen einer neuen offensiven E. der DDR, die zu einem Ausbau der gewonnenen internationalen Positionen führen soll, erscheinen noch wenig deutlich; einige Widersprüche sind jedoch nicht zu übersehen: Trotz einer verstärkten „sozialistischen Integration“ in die von der UdSSR geführte „sozialistische Staatengemeinschaft“, die bisher schon zu einer weitgehend mit den Bündnispartnern abgestimmten Außenpolitik („koordinierten Außenpolitik“) geführt hat, sucht die SED ein neues Verhältnis zu den westeuropäischen Industriestaaten und damit auch einen neuen Standort gegenüber den westeuropäischen Einigungsbestrebungen im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft.
Die politische Realität der EG ― in der Propaganda der DDR als untauglicher Versuch des „Monopolkapitals“ zur Überwindung seiner inneren Widersprüche bezeichnet ― wird seit 1973 auch von der SED-Führung nicht mehr geleugnet. Sie kritisiert zwar das darin zum Ausdruck kommende Anwachsen des politisch-wirtschaftlich-militärischen Potentials Westeuropas; andererseits wird in diesem Zusammenhang in den Medien der DDR darauf hingewiesen, daß mit dieser Entwicklung eine größere Unabhängigkeit Westeuropas von den USA erreicht werden könne, d. h. faktisch die atlantischen Bindungen gelockert würden.
Will die SED vor allem wirtschaftlich und technologisch den Anschluß an das Niveau hochindustrialisierter Staaten halten bzw. gewinnen, wird sie ihren Widerstand gegen vertrauenschaffende Maßnahmen und die Errichtung neuer Strukturen einer die Blöcke übergreifenden [S. 341]europäischen Zusammenarbeit aufgeben müssen. Dies erfordert möglichst „normale“ staatliche Beziehungen zu allen europäischen Ländern. Jedoch sind hier Störungen unvermeidlich, wenn die SED in ihrer Außenpolitik den im Prinzip der Friedlichen Koexistenz ebenfalls enthaltenen andauernden ideologischen Klassenkampf nicht modifiziert, bzw. wenn sie ihre aus dem Prinzip des Proletarischen ➝Internationalismus erwachsenen Verpflichtungen zur „brüderlichen Hilfe“ gegenüber den kommunistischen Parteien Westeuropas über propagandistische Unterstützung ― etwa durch direkte Beteiligung an „revolutionären“ Aktionen dieser Parteien ― erfüllen würde.
Allerdings haben sich in diesem Bereich durch die Auseinandersetzungen mit den Parteien des Eurokommunismus neue Probleme für die E. der SED gerade in den letzten 3–4 Jahren ergeben. Aufgrund ihres besonderen Abhängigkeitsverhältnisses zur KPdSU muß die SED-Führung die Politik u. a. der KP Italiens, Spaniens und Frankreichs in wichtigen ideologischen und taktischen Positionen kritisieren, kann sich also auch nicht an Versuchen beteiligen, die Haltung des europäischen Kommunismus zu den westdeutschen Einigungsbestrebungen neu zu definieren.
Andererseits muß die DDR ihre Beziehungen zu Westeuropa weiter normalisieren, kommt also an einer zumindest stillschweigenden Akzeptierung der europäischen institutionalisierten Einigungsprozesse nicht vorbei. Ihre E. hat in diesem Balanceakt noch kein Gleichgewicht gefunden. Erschwerend wirkt sich dabei aus, daß die Hegemonialmacht UdSSR ihre eigenen europapolitischen Interessen auch dann als identisch mit denen der sozialistischen Staatengemeinschaft bezeichnen kann, wenn deren Interessen tatsächlich von den sowjetischen abweichen. Über eine derartige Kompetenz zur Zieldefinition verfügt die DDR nicht. Weichen ihre „nationalen“ Interessen von denen der übrigen Bündnispartner ab, kann sie sie nicht unter dem Deckmantel fortbestehender Interessenidentität weiter verfolgen.
Wenn die DDR als regionale Mittelmacht (schon aus außenhandelspolitischen Gründen) z. B. an einer stärkeren europäischen Zusammenarbeit interessiert ist, kann sie daher dieses Ziel nur verfolgen, wenn es auch tatsächlich einem sowjetischen Interesse dient. Eine „nationale“, von den Interessen der Führungsmacht UdSSR abweichende E. der SED ist somit nicht möglich.
In wichtigen, das Entspannungsklima in Europa berührenden Fragen hat die SED-Führung bisher allerdings auch deutlich gemacht, daß von ihr eine „nationale“, eigenständige E. auch nicht ansatzweise verfolgt wird.
In der Abwehr der politischen Folgen der auch von ihr 1975 unterzeichneten KSZE-Schlußakte von Helsinki sind ihre Interessen mit denen der KPdSU völlig identisch. Während der Belgrader Folgekonferenz 1977/78 hat sie zusammen mit den anderen Warschauer-Pakt-Staaten verhindert, daß im Abschlußkommuniqué die Menschenrechtsproblematik („Korb III“) überhaupt erwähnt wird.
Während der Wiener Abrüstungsverhandlungen trat die DDR genau wie die UdSSR für einen Truppenabbau unter Wahrung des bestehenden Kräfteverhältnisses und für eine Einbeziehung des nuklearen Streitkräftepotentials ein (der Westen will demgegenüber das bestehende Ungleichgewicht in den Landstreitkräften beseitigen).
Konflikte zwischen UdSSR und DDR sind jedoch dort angelegt, wo es um ein Arrangement mit der Wirtschaftsmacht der EG geht. Die UdSSR wird auch künftig schon aus globalen Interessen die Bildung eines starken politisch-wirtschaftlichen Staatenblocks an ihrer Westgrenze behindern bzw. bestenfalls eine punktuelle Zusammenarbeit zulassen. Welche Rolle der E. der SED in diesem Konzept zugedacht ist. läßt sich noch nicht eindeutig erkennen.
Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 340–341
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