
Grundrechte, Sozialistische (1979)
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Die SG. werden aus den ideologischen Prämissen des Marxismus-Leninismus abgeleitet. Nach ihnen stimmen die gesellschaftlichen und die persönlichen Interessen im Sozialismus grundsätzlich überein. Diese Interessenharmonie wird gegenwärtig allerdings nicht mehr als eine absolute in dem Sinn angesehen, daß gelegentliche Interessenkonflikte persönlicher Art völlig ausgeschlossen wären. Die SG. werden als weitgehend verwirklichte Aufgabe betrachtet; an ihrer Vervollkommnung wird unablässig gearbeitet. Der einzelne soll sich freiwillig in die sozialistische Gesellschaft einordnen; dabei soll die Freiwilligkeit durch erzieherische Einwirkung gefördert werden. Letztlich muß aber jeder Interessenkonflikt zugunsten der gesellschaftlichen Interessen gelöst werden, deren jeweiliger Inhalt von der SED-Führungskraft ihres Erkenntnismonopols verbindlich interpretiert wird. Vor diesem ideologischen Hintergrund wird die soziale Funktion der SG. sichtbar. Sie sollen der Vergesellschaftung des Menschen dienen, die Integration des Individuums in das Kollektiv bewirken und den einzelnen zum Einsatz für die von der SED festgelegten Aufgaben des sozialistischen Aufbaus mobilisieren.
Die Grundrechtsdogmatik hat die allgemeinen ideologischen Aussagen in bezug auf die Integrations- und Mobilisierungsfunktion der SG. präzisiert. Im einzelnen hat sie folgende Thesen entwickelt:
1. Die Grundrechte (G.) sind zwar subjektive Rechte, aber keine Rechte gegen den Staat. Sie sollen keine „Freiheit vom Staat“, sondern eine „Freiheit zum Staat“ gewähren, die inhaltlich auf der „Einsicht in die Notwendigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung“ beruht.
2. G. und Grundpflichten bilden eine untrennbare Einheit. Dies bedeutet, daß eine allgemeine Verpflichtung besteht, von den SG. zum Wohle der sozialistischen Gesellschaft aktiv Gebrauch zu machen. Auf diese Weise werden die G. von Betätigungsmöglichkeiten in Betätigungszwänge umgedeutet.
3. Die SG. gewinnen ihren Inhalt aus ihrer gesellschaftlichen Zweckbestimmung. Somit bilden die von der SED verbindlich festgelegten gesellschaftlichen Interessen die immanente Schranke aller G. Dies bedeutet für die Freiheit der Meinungsäußerung etwa folgendes: „Für antisozialistische Hetze und Propaganda, im besonderen für ideologische Diversion des imperialistischen Gegners, kann es in der sozialistischen Gesellschaft keine Freiheit geben, weil diese gegen die Freiheit gerichtet sind, die sich die Werktätigen im Sozialismus errungen haben“ (Staatsrecht der DDR. Lehrbuch, Berlin [Ost] 1977, S. 203).
Diese SG.-Konzeption ist mit der im Völkerrecht vorherrschenden Idee angeborener und unveräußerlicher, sich allein aus der Würde des Menschen herleitender Menschenrechte schon deshalb nicht vereinbar, weil sie die G. als Bürgerrechte betrachtet, deren Geltungsgrundlage das staatlich gesetzte Recht ist. Trotzdem hat die DDR, wie die anderen Staaten des sowjetischen Hegemonialbereichs, die beiden UN-Menschenrechtskonventionen vom 19. 12. 1966 - den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (in Kraft seit 23. 3. 1976) und den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (in Kraft seit 3. 1. 1976)-, denen die klassische Menschenrechtsauffassung zugrunde liegt, am 14. 1. 1974 ratifiziert (GBl. II, S. 58 bzw. 106). Hiernach ist die DDR völkerrechtlich verpflichtet, die im erstgenannten Pakt aufgeführten Menschenrechte und Grundfreiheiten zu achten und allen Menschen in ihrem Herrschaftsbereich zu gewährleisten sowie schrittweise alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die volle Verwirklichung der im zweiten Pakt genannten Rechte zu erreichen. Die DDR behauptet, diese Verpflichtungen bereits erfüllt zu haben. Die Bezeichnung der SG. als Menschenrechte hält sie mit der Begründung für möglich, daß die SG. „in besonderer Weise zum Ausdruck bringen, daß der Mensch im Mittelpunkt aller gesellschaftlichen und staatlichen Bemühungen steht“ (Staatsrecht der DDR, a. a. O., S. 184).
Die einzelnen SG. sind in der Verfassung von 1968 niedergelegt, die anläßlich der Verfassungsrevision von 1974 insofern keine Änderungen erfahren hat. An ihrer Spitze steht ein allgemeines Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsrecht, zu dessen Gewährleistung in Art. 21 Abs. 2 verschiedene Formen der politischen Partizipation aufgeführt werden (Wahlen, Mitwirkung am staatlichen und gesellschaftlichen Leben, Rechenschaftspflicht der staatlichen und wirtschaftlichen Organe, Willensäußerung mittels der gesellschaftlichen Organisationen, Eingaben. Volksabstimmungen). Alle übrigen G. können aus diesem grundlegenden Teilhaberecht abgeleitet werden und besitzen im Verhältnis zu ihm geringere Bedeutung.
Den zweiten Komplex bilden die sozialen G., zu denen die Rechte auf Arbeit (Art. 24), auf Bildung und Teilnahme am kulturellen Leben (Art. 25, 26), auf Freizeit und Erholung (Art. 34). auf Schutz der Gesundheit und Arbeitskraft (Art. 35), auf Fürsorge (Art. 36) und auf Wohnraum (Art. 37) gehören. An die Verkündung dieser G. schließt sich jeweils eine Aufzählung von materiellen Garantien an, deren Realitätsgehalt von der Leistungsfähigkeit und Leistungswilligkeit des Staates abhängt. Der rechtliche Gehalt dieser G. ergibt sich aus den Einzelregelungen des Arbeits-, Sozial-, Kultur- und Wohnungsrechts. Ein Streikrecht existiert nicht.
Von den Freiheitsrechten stehen die politischen Rechte an erster Stelle: die Freiheit der Meinungsäußerung, der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens (Art. 27), die Versammlungsfreiheit (Art. 28) und die Vereinigungsfreiheit (Art. 29). Alle diese Rechte stehen unter einem Verfassungsvorbehalt, der sich praktisch in den allgemein gehaltenen Bestimmungen des politischen Strafrechts und in den durch Sondergesetze festgelegten Einschränkungen auswirkt.
Die persönlichen Freiheitsrechte umfassen die Freiheit der Persönlichkeit (Art. 30), das Post- und Fernmelde[S. 499]geheimnis (Art. 31), die Freizügigkeit innerhalb des Staatsgebiets der DDR (Art. 32), die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 37 Abs. 3), die Gewissens- und Glaubensfreiheit (Art. 20 Abs. 1 Satz 2) sowie das Recht, sich zu einem religiösen Glauben zu bekennen und religiöse Handlungen auszuüben (Art. 39 Abs. 1). Eine Auswanderungsfreiheit ist nicht vorgesehen. Die meisten dieser G. stehen unter einem Gesetzesvorbehalt, so daß ihr aktueller Umfang hauptsächlich den einschlägigen Vorschriften des Straf-, Strafprozeß-, Polizei-, Unterbringungs- und Sicherheitsrechts zu entnehmen ist.
Die justiziellen G. sind außerhalb des G.-Katalogs geregelt. In diesen Zusammenhang gehören das Prinzip „nulla poena sine lege“, das Schuldprinzip und das Verbot rückwirkender Strafgesetze (Art. 99), das „Habeas-corpus-Prinzip“ (Art. 100), der Grundsatz des gesetzlichen Richters und das Verbot von Ausnahmegerichten (Art. 101), der Anspruch auf rechtliches Gehör und das Recht auf Verteidigung (Art. 102). Die Einzelheiten ergeben sich aus dem Strafprozeß- und Gerichtsverfassungsrecht (Strafrecht; Gerichtsverfassung).
Schutzrechte persönlicher Natur sind der Anspruch der DDR-Bürger auf Rechtsschutz bei Aufenthalt außerhalb der DDR und das Auslieferungsverbot (Art. 33). Ausländern kann aus politischen Gründen Asyl gewährt werden (Art. 23 Abs. 3). Zu erwähnen sind auch das Eingaberecht (Art. 103) und die Staatshaftung (Art. 104). Schutzcharakter haben auch verschiedene Einrichtungsgarantien. Zu ihnen zählen die Institute von Ehe. Familie und Mutterschaft, die zusammen mit dem Mutter- und Kinderschutz sowie dem Erziehungsrecht der Eltern gewährleistet werden (Art. 38). Außerhalb des G.-Teils werden das persönliche Eigentum, das Erbrecht, das Urheber- und Erfinderrecht garantiert (Art. 11). Freilich unterliegen diese Vermögensrechte starken Einschränkungen.
Der Gleichheitsgrundsatz ist für alle G. maßgebend. Als besondere Ausprägungen der allgemeinen Rechtsgleichheit werden ein Differenzierungsverbot hinsichtlich bestimmter Merkmale (Nationalität, Rasse, weltanschauliches und religiöses Bekenntnis, soziale Herkunft und Stellung) ausgesprochen und die Gleichberechtigung von Mann und Frau festgelegt (Art. 20).
Neben den G. statuiert die Verfassung Grundpflichten. Diese werden in der Regel als Korrelat zu bestimmten G. formuliert. Dies ist der Fall bei der Verwirklichung des allgemeinen Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsrechts (Art. 21 Abs. 3), der Pflicht zum Dienst und zu Leistungen für die Verteidigung der DDR (Art. 23 Abs. 1), der Pflicht zur Arbeit (Art. 24 Abs. 2), der Schulpflicht und der Pflicht zum Erlernen eines Berufs (Art. 25 Abs. 4) sowie bei der Erziehungspflicht der Eltern (Art. 38 Abs. 4). Gelegentlich werden auch außerhalb des G.-Katalogs selbständige Grundpflichten festgelegt, wie z. B. die Pflicht, das sozialistische Eigentum zu schützen und zu mehren (Art. 10 Abs. 2).
Im Schrifttum der DDR wird zwischen politischen, ideologischen, ökonomischen und juristischen Garantien der G. unterschieden. Unter politischen Garantien versteht man das bestehende politische System, namentlich die führende Rolle der SED. Mit ideologischen Garantien bezeichnet man die Verbindlichkeit der marxistisch-leninistischen Weltanschauung. Die ökonomischen Garantien werden in der vorhandenen Wirtschaftsordnung erblickt, wobei das sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln und das System der Leitung und Planung der Volkswirtschaft besonders hervorgehoben werden. Den juristischen Garantien wird die geringste Aufmerksamkeit gewidmet. Ein spezifischer G.-Schutz ist nicht vorgesehen. Eine Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit besteht nicht. Die Möglichkeiten des Rechtsschutzes sind im wesentlichen auf Eingaben und Beschwerden innerhalb der aktiven Verwaltung beschränkt.
In Ermangelung eines effektiven Rechtsschutzes spielen die SG. in der Rechtspraxis keine Rolle. Ihre Bedeutung liegt vornehmlich auf propagandistischem Gebiet. In der Rechtsprechung werden die G.-Artikel der Verfassung selten herangezogen und dann auch nur beiläufig erwähnt.
Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 498–499
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