DDR von A-Z, Band 1979

Häftlinge, Politische (1979)

 

 

Siehe auch die Jahre 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1975 1985


 

Die SED hat bislang stets geleugnet, daß es in der DDR pH. gibt. Bisher ist nur im Amnestiebeschluß des Staatsrats vom 6. 10. 1972 (Amnestie) der Begriff „politische Straftäter“ offiziell verwendet worden.

 

Tatsächlich sind in der SBZ/DDR seit 1945 immer wieder Menschen aus politischen Gründen inhaftiert worden. Es lassen sich folgende Gruppen unterscheiden:

 

1. Internierte: Nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen sind ca. 150.000 Deutsche mehr oder weniger willkürlich als „aktive Faschisten“ oder „Kriegsverbrecher“ in den früheren NS-Konzentrationslagern interniert worden. Etwa 70.000 dieser Häftlinge sind in diesen Lagern ums Leben gekommen. Bei der Auflösung der Konzentrationslager Anfang 1950 wurden die Überlebenden bis auf ca. 3.500, die der DDR-Justiz zur Aburteilung wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit übergeben wurden, aus der Haft entlassen.

 

2. SMT-Verurteilte: Sowjetische Militärtribunale (SMT) haben in den Jahren 1945–1955 eine nicht bekannte Zahl Deutscher wegen wirklicher oder angeblicher NS- oder Kriegsverbrechen oder als politische Gegner der KPD/SED verurteilt. Die Strafe betrug in der Regel 25 Jahre Zwangsarbeit. 1950 wurden 10.513 SMT-Verurteilte den Strafvollzugsorganen der DDR übergeben. Ca. 6.300 dieser Häftlinge wurden Anfang 1954, die übrigen ― bis auf wenige Ausnahmen ― 1955/56 aus den Strafanstalten der DDR entlassen.

 

3. In die Sowjetunion Deportierte: Von 1945 bis 1955 sind ca. 40.000 Internierte und SMT-Verurteilte in die Sowjetunion deportiert worden, wo sie zusammen mit den Tausenden als „Kriegsverbrecher“ verurteilten deutschen Kriegsgefangenen in sowjetischen Strafarbeitslagern untergebracht wurden. Mindestens 7.000 bis 10.000 Deportierte sind in der SU umgekommen. Bis auf 271 Häftlinge, die im Dezember 1955 den Strafvollzugsorganen der DDR übergeben wurden, sind die überlebenden Verurteilten, deren Zahl von der UdSSR im September 1955 mit 9.626 angegeben wurde, bis 1956 nach Deutschland entlassen worden.

 

4. Verurteilte Kriegsverbrecher: Von 1945 bis September 1971 sind nach Angaben des Generalstaatsanwalts der DDR 12.828 Personen wegen „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verurteilt worden, die meisten von ihnen — 12.147 — bis 1950. Zu diesen Verurteilten gehören auch die 3.500 Internierten, die Anfang 1950 bei der Auflösung der Konzentrationslager der DDR-Justiz übergeben und in den Waldheim-Prozessen im Frühjahr 1950 durch eigens zu diesem Zweck beim Landgericht Chemnitz gebildete Sonder-Strafkammern abgeurteilt wurden (Kriegsverbrecherprozesse). Die meisten Waldheim-Verurteilten wurden aufgrund eines Ministerratsbeschlusses vom 22. 12. 1955 aus der Haft entlassen.

 

5. Wegen Staatsverbrechen und Republikflucht verurteilte Häftlinge bilden seit 1956 den Hauptteil der pH. Ihre genaue Zahl ist nicht bekannt. In den Kriminalstatistiken der DDR fehlt darüber jeder Hinweis. Es kann jedoch aufgrund der von westlichen Stellen getroffenen Feststellungen angenommen werden, daß seit 1950 mehr als 120.000 Personen wegen dieser politischen Delikte verurteilt worden sind. Besonders hoch ist der Anteil der wegen Republikflucht Verurteilten, der seit 1961 ständig zugenommen hat und seit 1969 bei etwa 75 v. H. aller aus politischen Gründen Verurteilten liegt. Zugenommen hat seit 1976 die Zahl der wegen staatsfeindlicher Hetze und Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit im Zusammenhang mit Bemühungen um Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland Verurteilten.

 

6. Wirtschaftsverbrecher: Auch ein großer Teil der wegen Wirtschaftsverbrechen verurteilten Häftlinge muß zu den pH. gerechnet werden. Ihre Zahl ist ebenfalls nicht bekannt. Seit 1962 haben Wirtschaftsstrafsachen erheblich abgenommen.

 

Die Gesamtzahl der aus politischen Gründen inhaftierten Personen ist unbekannt. Nach Auflösung der Konzentrationslager stieg die Zahl der pH. Anfang der 50er Jahre bald wieder auf 20.000. 1962/63 gab es nach westlichen Schätzungen ca. 12.000 pH. Seit 1964 sind mehr als 15.000 pH. für materielle Gegenleistungen der Bundesregierung vorzeitig aus der Strafhaft in die Bundesrepublik Deutschland entlassen worden. Dadurch hat sich die Zahl der pH. auf durchschnittlich ca. 3.000 vermindert. Auch aufgrund der Amnestie vom 6. 10. 1972 sind mehr als 2.000 Häftlinge, darunter mehr als die Hälfte aus politischen Gründen Verurteilte, in die Bundesrepublik Deutschland entlassen worden.

 

Im Strafvollzug werden die pH. wie die aus kriminellen Gründen verurteilten Gefangenen behandelt. Kriminelle und pH. sind gemeinsam in den Strafanstalten untergebracht; nur in der StVA Cottbus befinden sich seit einigen Jahren fast ausschließlich wegen politischer Straftaten verurteilte Häftlinge. Die Mehrzahl der etwa 400 meist wegen Fluchthilfe verurteilten westdeutschen und West-Berliner Häftlinge sind streng getrennt von den Strafgefangenen aus der DDR in der Strafvollzugsanstalt Berlin-Rummelsburg untergebracht.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 501


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.