DDR von A-Z, Band 1979

Notstandsgesetzgebung (1979)

 

 

Siehe auch die Jahre 1966 1969 1975 1985


 

Die N. umfaßt die normativen Grundlagen für Maßnahmen auf dem zivilen Sektor zur Vorbereitung einer Auseinandersetzung unter Einsatz militärischer Gewalt und regelt den Verteidigungszustand. Das Verteidigungsgesetz vom 20. 9. 1961 (GBl. I. S. 175) enthält auch die grundlegenden Bestimmungen für Maßnahmen auf dem zivilen Sektor. Die staatlichen Organe werden verpflichtet, die Bevölkerung und das gesellschaftliche, persönliche und private Eigentum unter Mitwirkung der Bürger vor den Auswirkungen feindlicher Angriffe zu schützen und den geschädigten Bürgern allseitig zu helfen. Die Bürger werden verpflichtet, die staatlichen Organe bei der Erfüllung dieser Aufgaben zu unterstützen. Die Volkswirtschaft muß so geplant und geleitet werden, daß die materiellen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Verteidigung jederzeit gesichert sind.

 

Die Bevollmächtigten der Dienststellen und Einheiten der Nationalen Volksarmee und der anderen Bedarfsträger dürfen notwendige Erhebungen über Sachen. Grundstücke, Betriebe und Werkstätten aller Eigentumsformen durchführen, die für Zwecke der Verteidigung oder den Schutz der Bevölkerung in Anspruch genommen werden sollen. Sie können den Leistungspflichtigen Auflagen erteilen, die sichern, daß die Sachen oder Grundstücke sich im Falle der Anforderung in dem verlangten Zustand befinden. Bei Grundstücken kann die Auflage erteilt werden, daß Veränderungen der Oberfläche unterlassen oder in einer bestimmten Weise vorgenommen werden. Im Interesse der Verteidigung können Grundstücke, wenn sie nicht durch Kauf zu erwerben sind, gegen Entschädigung in Volkseigentum überführt werden. Damit erlöschen alle Rechte an den Grundstücken. Sofern die eigenen Objekte für die Unterbringung der bewaffneten Kräfte nicht ausreichen, sind die Besitzer von geeigneten Räumlichkeiten verpflichtet, in der ihnen möglichen Weise Unterkunft zu gewähren. Festzulegen, wer Unterkunft zu gewähren hat, ist Sache der örtlichen Räte auf Ersuchen der Leiter der Dienststellen und Einheiten der Nationalen Volksarmee und der anderen bewaffneten Organe.

 

Für die Vorbereitung zu persönlichen Dienstleistungen sind die arbeitsfähigen Bürger durch die Räte der Kreise zu erfassen. Sie können zur Vorbereitung auf persönliche Dienstleistungen, die Spezialkenntnisse erfordern, entsprechend ausgebildet werden. Grundstücke, moto[S. 766]risierte Transportmittel und Straßenbaumaschinen sind auf Ersuchen des Ministers für Nationale Verteidigung für die Dauer von Übungen der bewaffneten Kräfte aus dem Volkseigentum zur Verfügung zu stellen. Nach Vereinbarung mit den örtlichen Räten können auch Grundstücke anderer Eigentumsformen für militärische Übungen benutzt werden, wenn die vorhandenen Übungsplätze nicht ausreichen. Auf Antrag der Leiter der Dienststellen und Einheiten der Nationalen Volksarmee darf im Interesse der Verteidigung der Zutritt zu bestimmten Gebieten für ständig oder für die Dauer von Übungen und Transporten von den Dienststellen der Deutschen Volkspolizei verboten oder von einer Sondergenehmigung abhängig gemacht werden. Der Aufenthalt in diesen Gebieten kann ganz oder teilweise untersagt werden.

 

Die nach dem Verteidigungsgesetz der Nationalen Volksarmee zustehenden Leistungen können auch zugunsten der Streitkräfte der verbündeten Staaten in Anspruch genommen werden. Einzelheiten dazu regelt die VO über die Inanspruchnahme von Leistungen im Interesse der Verteidigung und des Schutzes der Deutschen Demokratischen Republik vom 16. 8. 1963 (GBl. II, S. 667). Eine Entschädigungsverordnung zum Verteidigungsgesetz vom 16. 8. 1963 (GBl. II, S. 674) sieht für Aufwendungen und Vermögensnachteile, die im Zusammenhang mit Dienst- oder Sachleistungen entstehen, bestimmte Entschädigungen vor, deren Höhe sich nach dem Zeitwert oder nach preisrechtlichen Bestimmungen richtet.

 

Für die Zivilverteidigung gilt das Gesetz vom 16. 9. 1970 (GBl. I, S. 289), das das Luftschutzgesetz vom 11. 2. 1958 (GBl. I, S. 121) ablöste. Danach ist die Zivilverteidigung, die als untrennbarer Bestandteil der Landesverteidigung bezeichnet wird, ein System staatlicher und gesellschaftlicher Maßnahmen, deren Organisierung die Durchführung komplexer Aufgaben auf allen Gebieten des staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens erfordert. Als Aufgabe der Zivilverteidigung wird bezeichnet, den Schutz der Bevölkerung, der Volkswirtschaft, der lebensnotwendigen Einrichtungen und der kulturellen Werte vor den Folgen von militärischen Aggressionshandlungen, insbesondere vor den Wirkungen von Massenvernichtungsmitteln, zu organisieren. Sie hat Maßnahmen durchzuführen, die der Aufrechterhaltung des staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens dienen, sowie die durch militärische Aggressionshandlungen hervorgerufenen Schäden und Störungen des friedlichen Lebens der Bürger und der sozialistischen Gesellschaft zu beheben oder zu mildern. Die Zivilverteidigung hat gleichzeitig den Katastrophenschutz zu gewährleisten.

 

Das Zivilverteidigungsgesetz stellt sich als ein Ermächtigungsgesetz für den Staatsapparat dar. Die zentrale staatliche Führung der Zivilverteidigung obliegt dem Vorsitzenden des Ministerrates. In seinem Auftrage wird die unmittelbare Vorbereitung und Durchführung aller Maßnahmen der Zivilverteidigung durch den Leiter der Zivilverteidigung der DDR geleitet. Auf Vorschlag des Vorsitzenden des Ministerrates wurde zunächst der Minister des Inneren, der gleichzeitig Chef der Deutschen Volkspolizei ist (Ministerium des Innern), als Leiter der Zivilverteidigung durch den Ministerrat bestätigt und von dessen Vorsitzendem berufen. Seit Ende 1977 ist der Minister für Nationale Verteidigung Leiter der Zivilverteidigung. Die Zivilverteidigung hat eine aus hauptberuflich Tätigen sowie Wehrpflichtigen bestehende Organisation. Der Dienst in der Zivil-Verteidigung ist Wehrersatzdienst (AO des Nationalen Verteidigungsrates der DDR über den Dienst in der Zivilverteidigung vom 1. 1. 1977 — GBl. I, S. 365). In den Bezirken, Kreisen, Städten, Stadtbezirken und Gemeinden sind die Vorsitzenden der örtlichen Räte (Bezirk; Kreis; Gemeinde) Leiter der Zivilverteidigung. Die Leiter der Zivilverteidigung haben die Generalvollmacht, alle erforderlichen Maßnahmen zur Verwirklichung der Aufgaben der Zivilverteidigung und des Katastrophenschutzes anzuordnen und ihre Durchführung zu sichern. Sie sind insbesondere befugt, allen Staats- und Wirtschaftsorganen. Betrieben, Einrichtungen und Genossenschaften, unabhängig von deren Unterstellungsverhältnis, sowie Bürgern Weisungen und Auflagen zu erteilen, die im Interesse der einheitlichen komplexen Vorbereitung und Durchführung der Zivilverteidigung und des Katastrophenschutzes im jeweiligen Territorium sowie zur Beseitigung oder Milderung der Folgen von Aggressionshandlungen bzw. Katastrophen erforderlich sind.

 

Weisungen, die in den Produktions- bzw. Arbeitsprozeß eingreifen, ergehen nach vorheriger Abstimmung mit dem zuständigen Leiter. Weisungen gegenüber Dienststellen, Betrieben und Einrichtungen des zentral geleiteten Verkehrswesens, der Deutschen Post (Post- und Fernmeldewesen), der Wasserwirtschaft, des Bauwesens (Bauwirtschaft) und der Energiewirtschaft können grundsätzlich nur mit Zustimmung der Leiter der zuständigen übergeordneten Organe erteilt werden. Gegenüber den bewaffneten Organen besteht ein Weisungsrecht nicht. Die örtlichen Volksvertretungen haben grundsätzliche Beschlüsse zur Gewährleistung der Maßnahmen der Zivilverteidigung in ihrem Territorium zu fassen. Sie organisieren im Zusammenwirken mit den in der Nationalen Front vereinten gesellschaftlichen Organisationen die aktive Mitwirkung der Bürger bei der Gewährleistung ihres Schutzes sowie die Durchführung von Maßnahmen, die der Aufrechterhaltung des staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens bei Katastrophen und im Verteidigungszustand dienen. Die Leiter von Staatsorganen und Wirtschaftseinheiten sind für Organisierung der Zivilverteidigung in ihren Bereichen verantwortlich.

 

Die Bevölkerung ist verpflichtet, aktiv an der Vorbereitung und Durchführung der Maßnahmen der Zivilverteidigung mitzuwirken. Das schließt die Teilnahme an der Ausbildung und den Übungen der Zivilverteidigung, an der Organisierung von Schutzmaßnahmen sowie an der Durchführung von Rettungs- und Hilfeleistungsmaßnahmen ein. Zur Lösung von Aufgaben der Zivilverteidigung kann eine Dienstpflicht eingeführt [S. 767]werden, die die im Verteidigungsgesetz vorgesehene Luftschutzdienstpflicht obsolet gemacht hat, da sie diese einschließt. Zum Dienst im Rahmen der Zivilverteidigung können Bürger vom vollendeten 16. bis zum vollendeten 65. Lebensjahr, bei Frauen bis zum vollendeten 60. Lebensjahr herangezogen werden.

 

Über den Verteidigungszustand hat nach Art. 52 der Verfassung grundsätzlich die Volkskammer zu beschließen. Im Dringlichkeitsfall ist der Staatsrat berechtigt, einen entsprechenden Beschluß zu fassen. Der Vorsitzende des Staatsrates verkündet den Verteidigungszustand. Die Verkündung ist an keine Form gebunden. Wann über den Verteidigungszustand beschlossen werden soll, hatte bereits vor Erlaß der Verfassung Art. 4 des Verteidigungsgesetzes festgelegt. Danach kann der Staatsrat — die Volkskammer wird in diesem Zusammenhang nicht erwähnt — den Verteidigungszustand erklären a) im Falle der Gefahr, b) bei Auslösung eines Angriffes gegen die DDR und c) in Erfüllung internationaler Bündnisverpflichtungen (Warschauer Pakt).

 

Das Verteidigungsgesetz legt auch die weitreichenden Folgen der Verkündung des Verteidigungszustandes fest. Danach kann der Staatsrat für die Dauer des Verteidigungszustandes die Rechte der Bürger und die Rechtspflege in Übereinstimmung mit den Erfordernissen der Verteidigung abweichend von der Verfassung regeln. Während des Verteidigungszustandes können von den Werktätigen auf allen Gebieten erhöhte Arbeitsleistungen gefordert werden. Jeder arbeitsfähige Bürger kann außerdem während des Verteidigungszustandes zu persönlichen Dienstleistungen auch außerhalb seines Wohnsitzes herangezogen werden, wenn es für die Verteidigung oder zum Schutz der Bevölkerung notwendig ist. Für die Dauer des Verteidigungszustandes kann der Ministerrat die Ausgestaltung der Arbeitsrechtsverhältnisse und die Arbeitsbedingungen abweichend vom Arbeitsgesetzbuch (Arbeitsrecht) regeln oder andere staatliche Organe damit beauftragen. Abweichend von den bestätigten Volkswirtschafts- und Staatshaushaltsplänen dürfen im Interesse der Verteidigung notwendige Umstellungen in der Produktion der gesamten Volkswirtschaft und der Verwendung der staatlichen Mittel vorgenommen sowie besondere Maßnahmen zur Leitung der Betriebe und für die Verteilung und für den Verbrauch von Rohstoffen und Erzeugnissen ergriffen werden.

 

Von gesellschaftlichen Organisationen, Genossenschaften, Personenvereinigungen und Bürgern können hinsichtlich der in ihrem Eigentum oder Besitz befindlichen beweglichen Sachen und Grundstücke folgende Leistungen angefordert werden: a) Ausführung, Unterlassung oder Duldung von Veränderungen; b) Unterlassung des Gebrauchs; c) Überlassung zur teilweisen oder vollständigen Nutzung oder zu Eigentum des Volkes. Von Betrieben und Werkstätten, die nicht Volkseigentum sind, können ebenfalls Dienstleistungen angefordert werden. Während des Verteidigungszustandes können die Leiter der Dienststellen und Einheiten der Nationalen Volksarmee und der anderen bewaffneten Organe in dringenden Fällen den Besitzern geeigneter Objekte die Unterkunftspflicht unmittelbar auferlegen. Das Recht des Verteidigungszustandes zeichnet sich dadurch aus, daß 1. eine Unterscheidung zwischen einem inneren und einem äußeren Notstand nicht gemacht wird. Die Gefahr, welche den Beschluß über den Verteidigungszustand rechtfertigt, braucht nicht „drohend“ zu sein und kann auch aus dem Inneren kommen, 2. das Organ, welches das Vorliegen der Voraussetzungen feststellt, im „Dringlichkeitsfalle“ identisch ist mit dem Organ, dem die erhöhten Befugnisse während des Verteidigungszustandes zuwachsen, und 3. diesem Organ, dem Staatsrat, die Kompetenz zur Verfassungsänderung oder -durchbrechung ausdrücklich erteilt ist. Ob in Anbetracht seines seit dem VIII. Parteitag zu beobachtenden Funktionsverlustes der Staatsrat diese Befugnisse allerdings wirklich ausüben kann, ist schlüssig nicht zu beantworten.

 

Art. 73 der Verfassung der DDR (unverändert in der Fassung vom 7. 10. 1974) schreibt vor, daß der Staatsrat „die Landesverteidigung mit Hilfe des Nationalen Verteidigungsrates organisiert“, dessen Vorsitzender seit dem 24. 6. 1971 der Erste Sekretär des ZK der SED. E. Honecker, ist. (Von 1960 bis zu seiner Ablösung im Juni 1971 wurde diese Funktion auch von W. Ulbricht, dem damaligen Vorsitzenden des Staatsrates, wahrgenommen.)

 

Dem NVR. sind im Falle des Notstandes alle bewaffneten und Sicherheitsorgane, die gesamte Zivilverteidigung und das Rote Kreuz unterstellt. Ihm unterstehen sog. operative „Einsatzleitungen“, die in allen 14 Bezirken sowie Berlin (Ost) und in allen 263 Stadt- und Landkreisen der DDR existieren.

 

Der Art. 18 des Stationierungsvertrages vom 12. 3. 1973 zwischen der DDR und der UdSSR enthält besondere Notstandsregelungen im Zusammenhang mit den in der DDR stationierten sowjetischen Truppen.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 765–767


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.