DDR von A-Z, Band 1979

Passierscheinabkommen (1979)

 

 

Siehe auch die Jahre 1965 1966 1969 1975 1985


 

Am 17. 12. 1963 wurde das erste P. von DDR-Staatssekretär Erich Wendt und dem West-Berliner Senatsrat Horst Korber unterzeichnet. Damit öffneten sich den West-Berlinern 28 Monate nach dem Bau der Mauer wieder, wenn auch personell und zeitlich begrenzt, die Übergänge zum Ostteil ihrer Stadt.

 

Am 22. 8. 1961 hatte die Regierung der DDR für West-Berliner eine Anordnung erlassen, die den Besuch Ost-Berlins von Aufenthaltsgenehmigungen abhängig machte, wie sie seit dem Herbst 1960 für Bürger der Bundesrepublik Deutschland vorgeschrieben waren. Die DDR verlangte die Einrichtung von Passierscheinstellen in den Westsektoren von Berlin. Ihr Versuch, derartige Büros am 26. 8. 1961 auf 2 S-Bahnhöfen zu eröffnen, wurde von der West-Berliner Polizei auf Weisung der Alliierten unterbunden.

 

Das P. wurde in 6tägigen, mehr als 30 Stunden dauernden, abwechselnd im Ost- und Westteil Berlins stattfindenden Gesprächen zwischen Korber und Wendt ausgehandelt. Die DDR war bemüht, der Übereinkunft den Charakter eines völkerrechtlichen Vertrages zu verleihen, während der Senat von Berlin darin nur eine Verwaltungsvereinbarung sah.

 

Das P. wurde „ungeachtet der unterschiedlichen politischen und rechtlichen Standpunkte“ von Staatssekretär Wendt „auf Weisung des Stellvertreters des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR“ und von Senatsrat Korber „auf Weisung des Chefs der Senatskanzlei, die [S. 796]im Auftrag des Regierenden Bürgermeisters von Berlin gegeben wurde“, unterzeichnet. Beide Seiten stellten ausdrücklich fest, daß „eine Einigung über gemeinsame Orts-, Behörden- und Amtsbezeichnungen nicht erzielt werden konnte“.

 

Bundesregierung und Senat betonten in einer gemeinsamen Stellungnahme zum P., daß „der Rechtsstatus von Berlin durch diese Vereinbarung nicht geändert wird und daß damit ebenfalls keinerlei Änderung der bisherigen Politik der Nichtanerkennung gegenüber dem Zonenregime verbunden ist“.

 

Das erste P. gestattete „Einwohnern von Berlin (West)“ den Besuch bei ihren „Verwandten in Berlin (Ost), in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik“, mit Passierscheinen in der Zeit vom 19. 12. 1963 bis 5. 1. 1964. Als Verwandtenbesuch galt „der Besuch von Eltern, Kindern, Großeltern, Enkeln, Geschwistern, Tanten und Onkeln, Nichten und Neffen sowie der Ehepartner dieses Personenkreises und der Besuch von Ehegatten untereinander“.

 

Zur Ausgabe der Passierscheine wurden in den West-Berliner Bezirken 12 Büros eingerichtet, in denen Angestellte der Ost-Berliner Post Anträge entgegennahmen und Passierscheine ausgaben. Die Bearbeitung der Anträge erfolgte in Berlin (Ost). Der Senat behielt sich in den Passierscheinstellen das Hausrecht vor.

 

Die Durchführung des P. erwies sich in den Tagen vor dem Weihnachtsfest 1963 zunächst als schwierig: Tausende von Antragstellern warteten in eisiger Kälte stundenlang vor den Passierscheinstellen. Neue Gespräche zwischen Korber und Wendt hatten zur Folge, daß die Zahl der in den Büros tätigen Ost-Berliner Postangestellten von 83 auf 260 erhöht wurde.

 

Nach offiziellen Angaben der DDR wurden insgesamt 1.318.519 Passierscheine für Besuche im Ostteil der Stadt ausgegeben, von denen 1.242.810 tatsächlich benutzt wurden. Zahlreiche West-Berliner passierten die Grenzen zwei- oder mehrmals, bevor die Übergänge in der Nacht vom 5. zum 6. 1. für sie erneut geschlossen wurden.

 

Das P. war in der öffentlichen Meinung des Westens umstritten. Während der Berliner Senat und die ihn tragenden Parteien, SPD und FDP, in den auf eindrucksvolle Weise erneuerten menschlichen Kontakten einen positiven Faktor und einen neuen Impuls für die westliche Deutschlandpolitik sahen, mehrten sich in den Reihen der CDU/CSU Stimmen, die in dem P. einen Schritt zur Aufwertung der DDR und zur Bestätigung einer Drei-Staaten-Konzeption sahen. Die DDR bemühte sich, das P. als „ein Stück Selbstbestimmungsrecht für Berlin (West)“ und einen Beweis für „die nicht zu bezweifelnde völkerrechtliche wie faktische Existenz“ der DDR zu bewerten (W. Ulbricht am 3. 1. 1964).

 

Korber und Wendt setzten ihre Gespräche im Januar 1964 fort. Nach schwierigen Verhandlungen gelang es ihnen, am 24. 9. 1964 ein zweites P. auf der Basis ihrer ersten Übereinkunft abzuschließen, durch das einige praktische Regelungen für die Ausgabe von Passierscheinen verbessert werden konnten. Noch zweimal — am 25. 11. 1965 und am 7. 3. 1966 — konnten diese Abmachungen erneuert werden. Dieses 3. und 4. P. wurden von der Seite der DDR nicht mehr von Staatssekretär Wendt, sondern von Staatssekretär Dr. Michael Kohl unterzeichnet.

 

Während der verschiedenen Besuchszeiträume, die in den P. festgelegt wurden, registrierte die DDR folgende Besucherzahlen:

 

 

Im Oktober 1964 konnte auf der Grundlage des 2. P. eine Passierscheinstelle für dringende Familienangelegenheiten (als solche galten Geburten, Eheschließungen, lebensgefährliche Erkrankungen und Sterbefälle) eröffnet werden, die auch nach dem Auslaufen des 4. P. bestehenblieb (vom April 1967 an arbeitete diese Härtestelle ohne Vereinbarung weiter); ihre Dienste nahmen mehrere hunderttausend West-Berliner bis 1971 in Anspruch.

 

Im Dezember 1964 verlangte die DDR einen verbindlichen Mindestumtausch von 3 DM je Person und Tag. Die Umtauschsumme wurde im Juli 1968 auf 5 DM erhöht. Kinder und Rentner wurden von der Verpflichtung, diesen Geldbetrag im Verhältnis 1:1 umzuwechseln, befreit.

 

Nachdem in den laufenden Verhandlungen der Passierscheinunterhändler immer wieder grundlegende politische Meinungsverschiedenheiten sichtbar geworden waren, scheiterten 1966 schließlich die Bemühungen des Senats von Berlin, ein neues, 5. P. für den Herbst und Winter jenes Jahres auszuhandeln. Abgesehen von jenen, die in dringenden Familienangelegenheiten nach Berlin (Ost) fahren konnten, blieb für die Masse der West-Berliner die Grenze für die folgenden 6 Jahre versperrt.

 

Ein Schreiben des Regierenden Bürgermeisters Schütz an den Vorsitzenden des Ministerrates, Stoph, vom 28. 2. 1968 blieb unbeantwortet. Im Frühjahr 1969 versuchte die DDR vergeblich, die Einberufung der Bundesversammlung nach Berlin (West) zu verhindern, indem sie Zugeständnisse in der Passierscheinfrage von einer Absage der Bundesversammlung abhängig machte.

 

Gespräche zwischen Senatsdirektor Horst Grabert und Staatssekretär Dr. Kohl am 26. 2. 1969 blieben ergebnislos.

 

Erst die im Viermächte-Abkommen über Berlin vom 3. 9. 1971 getroffenen Verfügungen über den Zutritt der West-Berliner zum Ostteil ihrer Stadt und zu den 14 [S. 797]DDR-Bezirken ermöglichten die Wiederaufnahme des Besuchs- und Reiseverkehrs, und zwar ab Ostern 1972 in weit größerem Umfang, als das aufgrund der personellen, zeitlichen und sachlichen Einschränkungen der P. bis dahin möglich gewesen war.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 795–797


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.