DDR von A-Z, Band 1979

Psychoanalyse (1979)

 

 

Der Begriff der P. besitzt mehrere Bedeutungsdimensionen: eine allgemeine psychologische Theorie, die menschliches Verhalten erklären will; eine psychotherapeutische Methode (Psychotherapie) zur Heilung von Neurosen; eine von bestimmten psychologischen Grundannahmen ausgehende Kultur- und Gesellschaftstheorie mit universalem Erklärungsanspruch. Diese Kultur- und Gesellschaftstheorie ist im 20. Jh. u. a. von Erich Fromm, Karin Horney, Erik H. Erikson, Herbert Marcuse in den USA, von Alexander Mitscherlich in der Bundesrepublik Deutschland ausgebaut worden. Sie wird von den Vertretern des Marxismus-Leninismus in der DDR scharf bekämpft.

 

In der DDR stand man, ebenso wie in der Sowjetunion, der P. lange Zeit ablehnend gegenüber. Erst seit einigen Jahren bahnt sich hier ein Wandel an. Heute ist das Verhältnis zu den Erkenntnissen der P. als ambivalent zu bezeichnen. Zwar wird der theoretische Anspruch Sigmund Freuds, des eigentlichen Begründers und Hauptvertreters der P., als überzogen und ideologisch falsch in der DDR auch heute noch zurückgewiesen und die Mehrdeutigkeit des Begriffs P. vor allem ihm angelastet; weiterhin wird die These Freuds, daß Neurosen auf den ins Unbewußte verdrängten Konflikten beruhen und von dort aus „komplexe“ Fehleinstellungen des Verhaltens verursachen, nicht als allgemein menschliches, sondern als spezifisch gesellschaftliches Phänomen vor allem des gehobenen Wiener Bürgertums am Ausgang des 19. Jh. gedeutet. Damit sei diese Konzeption für sozialistische Gesellschaften irrelevant. Andererseits käme Freud das „historische Verdienst“ zu. die Bedeutung des Unbewußten für menschliches Verhalten entdeckt zu haben. Die Vertreter der Neo-P. (K. Horney) hätten überdies die Einseitigkeiten der klassischen P. vermieden, indem sie als Konfliktursachen auch soziale Konflikte in Rechnung stellten.

 

Die Auseinandersetzung mit den Hypothesen und Erklärungsmodellen der verschiedenen Schulen der P. hat in der DDR erst seit kurzem in voller Breite begonnen. „Die Auseinandersetzung marxistisch orientierter Psychologen mit der Psychoanalyse erfolgt auf mehreren Ebenen: auf der philosophischen, auf der formalen, wissenschaftstheoretischen. auf der psychologietheoretischen und auf der empirischen. Dabei vermeiden sie die Einseitigkeiten der behavioristischen Kritiker der Psychoanalyse und die Bewertungsvorurteile religiöser und romantischer Psychoanalyse-Gegner“ (Wörterbuch der Psychologie. Hrsg. Günter Clauß u. a., Leipzig 1976, S. 412).


 

Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 869


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.