DDR von A-Z, Band 1979

 

Rechtswesen (1979)

 

 

Siehe auch die Jahre 1953 1954 1956 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1975 1985

 

I. Sozialistische Rechtsauffassung und sozialistische Gerechtigkeit

 

 

Die Rechtsauffassung in der DDR leitet sich aus dem Marxismus-Leninismus, und damit besonders aus dem Dialektischen und Historischen Materialismus bzw. seiner Auffassung vom Wesen des Rechts ab. Danach kann das Recht nur als eine von verschiedenen gesellschaftlichen Erscheinungen im Bereich des über der ökonomischen Basis liegenden Überbaus verstanden werden; es wurzelt in den materiellen Lebensverhältnissen und kann nicht aus sich selbst abgeleitet werden: „Recht und Gesetz besitzen keinen Ewigkeitswert. Auf jeder ihrer Entwicklungsstufen bringt die menschliche Gesellschaft das ihr eigene Recht und die ihr eigenen Rechtsanschauungen hervor, die von den Interessen der jeweils herrschenden Klasse bestimmt sind“ („Recht und Gesetz in der DDR“ in Schriftenreihe „Aus erster Hand“, Berlin [Ost] 1972, S. 7). Damit wird das Recht definierbar als der „zum Gesetz erhobene Wille der herrschenden Klasse“ (so schon — gegenwärtig allerdings in der Sowjetunion wie in der DDR und den anderen sozialistischen Staaten nicht mehr anerkannt — Wyschinski im Jahre 1938); daraus folgte für Ulbricht 1959: „der zum Gesetz erhobene Wille der Arbeiterklasse, die im Bündnis mit den werktätigen Bauern und den anderen werktätigen Schichten der Bevölkerung die Macht ausübt“. Mit dieser Erkenntnis sei eine klare Abgrenzung von der der bürgerlichen Rechtswissenschaft eigenen Vorstellung von einem über den Klassen und Staaten stehenden Recht gewonnen worden.

 

Durch Art. 1 der Verfassung der DDR von 1968 wird klargestellt, daß der sozialistische Staat instrumentalen Charakter in den Händen der Arbeiterklasse unter Führung der SED besitzt. In konsequenter Weiterentwicklung des Gedankens vom Recht als zum Gesetz erhobenen Willen der herrschenden Klasse wird das sozialistische Recht der DDR zum „Ausdruck der Macht der herrschenden Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten, die sie durch ihr Hauptinstrument, den Staat, verwirklicht … Das sozialistische Recht stellt ein Instrument des sozialistischen Staates dar, mit dessen Hilfe die Gesellschaft durch die Arbeiterklasse und ihre marxistisch-leninistische Partei geführt wird“ (Arlt/Stiller, „Entwicklung der sozialistischen Rechtsordnung in der DDR“, Staatsverlag, Berlin [Ost] 1973). Schon im Rechtspflege-Erlaß des Staatsrats vom 4. 4. 1963 (GBl. I, S. 21) war in der darin gesetzlich gegebenen Rechtsdefinition der Instrumentalcharakter des sozialistischen Rechts herausgestellt worden. Hier wurde das Recht bezeichnet als „ein wichtiges Instrument unseres Staates, um die gesellschaftliche Entwicklung zu organisieren und das sozialistische Zusammenleben der Menschen, die Beziehungen der Bürger zueinander und zu ihrem Staat zu regeln“. Der Unterschied zwischen anderen Mitteln staatlicher Machtausübung und dem Instrument „Recht“ wird in der Normativität des Rechts gesehen, also seinem für alle Bürger verpflichtenden Inhalt. In diese Normativität einbegriffen seien das Setzen von Zielen und Bewertungskriterien für das Verhalten. Dafür seien jedoch in erster Linie die von der Arbeiterklasse und ihrer Partei artikulierten Ziele, Bedürfnisse und Werte maßgebend, die das in der jeweiligen Entwicklungsetappe Notwendige ausdrückten, um der kommunistischen Gesellschaftsphase näherzukommen. Dies kommt auch in der gegenwärtig neuesten Definition des sozialistischen Rechts zum Ausdruck: „Das sozialistische Recht ist das System allgemein verbindlicher Normen, die den letztlich von den sozialistischen Produktionsverhältnissen bestimmten staatlichen Willen der Arbeiterklasse und der von ihr geführten [S. 894]Werktätigen ausdrücken, vom Staat festgelegt oder sanktioniert oder garantiert werden — wenn nötig, auch mit staatlichem Zwang — und als Instrument (Regulator) die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse mit dem Ziel der Errichtung des Sozialismus und Kommunismus fördern und schützen“ (Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie“, Lehrbuch Berlin [Ost], 1975, Bd. 1, S. 356).

 

Wenn entsprechend dieser Betrachtung nur das Rechtens sein kann, was dem Willen der Arbeiterklasse und ihrer Partei entspricht, und wenn der Wille dieser Partei auf die Erreichung des sozialistisch-kommunistischen Endzustandes gerichtet ist, kann im Bereich der Rechtsordnung auch nur das Bestand und Gültigkeit haben, also „gerecht“ sein, was zu diesem Endziel hinzuleiten in der Lage ist.

 

Als Ausgangspunkt und Maßstab für die Bestimmung der „wahren“ Gerechtigkeit wird stets nur das Interesse der Arbeiterklasse und der diese Klasse führenden marxistisch-leninistischen Partei gesehen. Damit wird die sozialistische Gerechtigkeit als ein Mittel zur Erreichung bestimmter gesellschaftlicher Zustände verstanden. Wesentliches Mittel, um die in diesen Gerechtigkeitsforderungen zum Ausdruck kommenden Ziele zu erfüllen, sei das sozialistische Recht. Damit wird die Gerechtigkeit einerseits zum Zweck im Hinblick auf das Recht, das Mittel zur Erreichung der gesetzten Ziele ist; sie wird andererseits auch Mittel zur Bewertung des Rechts, und zwar insofern, als das bestehende Recht danach als gerecht oder ungerecht beurteilt wird, ob es bestimmten Zielsetzungen noch entspricht oder nicht.

 

Es besteht bei dieser Betrachtung von Recht und Gerechtigkeit also sowohl eine Einheit wie eine Verschiedenheit zwischen beiden Kategorien, und Widersprüche zwischen ihnen werden nicht für unmöglich gehalten (vgl. Gollnick/Haney in: Staat und Recht, 1968, H. 4, S. 580 ff.). Wenn in der Rechtswissenschaft auch darauf hingewiesen wird, daß das Recht nicht mehr nur als Instrument zur Beherrschung der Gesellschaft durch die Partei der Arbeiterklasse verstanden werden dürfe, sondern daß es einem allgemeinen Konsens der großen Mehrheit der Bevölkerung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft entsprechen solle (so P. E. Nedbailo, „Einführung in die allgemeine Theorie des Staates und des Rechts“, Berlin [Ost] 1972, S. 13), so erscheint doch diese Auffassung mehr als eine Zukunftsvision denn als eine Darstellung der realen Situation. Zum anderen muß bedacht werden, daß das Recht Instrument der „Führung“ der Gesellschaft bleiben kann, auch wenn es nicht mehr nur Instrument zur „Beherrschung“ der Gesellschaft ist, sondern einen gewissen Konsens der Bevölkerung genießt.

 

II. Die Funktion der Rechtsprechung

 

 

Der Auffassung vom Wesen des sozialistischen Rechts und vom Verhältnis zwischen sozialistischem Recht und Gerechtigkeit entspricht die der Rechtsprechung, also der Anwendung des sozialistischen Rechts, in § 3 des Gerichtsverfassungsgesetzes gestellte Aufgabe: „Die Rechtsprechung und die damit verbundene Tätigkeit der Gerichte haben zur Lösung der Aufgaben der sozialistischen Staatsmacht bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft beizutragen.“ Da als Grundlage der Sozialistischen ➝Demokratie die Ausübung der ungeteilten Staatsgewalt durch die Volksvertretungen unter Führung der SED verstanden und demzufolge die „bürgerliche“ Lehre von der Gewaltenteilung abgelehnt wird, ist die Rechtspflege Teil der einheitlichen Staatsgewalt, ist Rechtsprechungstätigkeit eine besondere Form staatlicher Tätigkeit. Dabei wird Rechtsprechung als „die von den Gerichten unter den gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen vorgenommene Prüfung und Entscheidung von Rechtsverletzungen und Konflikten auf dem Gebiete des Arbeits-, Zivil-, Familien - und Strafrechts“ verstanden (Verf. Kommentar, II, S. 441). Schwerpunkt in der Rechtsprechungstätigkeit ist nicht unbedingt die Konfliktentscheidung, sondern vielmehr die Erforschung der Konfliktursachen und das Hinwirken auf deren Beseitigung. Im Rechtspflege-Erlaß des Staatsrats vom 4. 4. 1963 wurde ebenso wie in den daran anschließenden neuen Gesetzen (z. B. Gerichtsverfassung; Strafrecht; Strafverfahren) die Erziehungsfunktion der Rechtsprechung besonders deutlich herausgestellt. Es obliegt der Rechtsprechung, „das sozialistische Staats- und Rechtsbewußtsein der Bürger zu festigen und ihre gesellschaftliche Aktivität, Wachsamkeit und Unduldsamkeit gegen jegliche Rechtsverletzungen zu erhöhen“ (§ 3 GVG).

 

Neben der Erziehungsfunktion der Rechtsprechung kommen in dem mit „Aufgaben der Rechtsprechung“ überschriebenen § 3 GVG auch die anderen beiden dem Recht schon von Lenin zuerkannten Funktionen zum Ausdruck: die Zwangs- oder Unterdrückungsfunktion (Schutzfunktion für die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung) und die wirtschaftlich-organisatorische Funktion. (Ähnlich auch Art. 90 der Verfassung, in der Fassung vom 7. 10. 1974.)

 

In diesem Sinne wird das sozialistische Recht bezeichnet als „ein wichtiger Hebel zur Erfüllung der auf dem VIII. Parteitag (der SED) gestellten Hauptaufgabe“, dessen Durchsetzung „der weiteren Festigung des Staats- und Rechtsbewußtseins der Bürger und der Erhöhung ihrer gesellschaftlichen Aktivität, Wachsamkeit und Unduldsamkeit gegen Rechtsverletzungen“ und dessen Anwendung „dem Schutz unserer sozialistischen Gesellschaft vor Angriffen im[S. 895]perialistischer Kräfte“ dient. In diesen Ausführungen des Justizministers Heusinger (Neue Justiz, 1974, H. 7, S. 191) kommen die der Rechtsprechung immanenten drei Funktionen zum Ausdruck.

 

III. Rechtsquellen

 

 

In der Verfassung vom 6. 4. 1968 in der Fassung vom 7. 10. 1974, trägt der Abschnitt IV die Überschrift „Sozialistische Gesetzlichkeit und Rechtspflege“. Nach dem einleitenden Art. 86 sind „die sozialistische Gesellschaft, die politische Macht des werktätigen Volkes, ihre Staats- und Rechtsordnung die grundlegende Garantie für die Einhaltung und die Verwirklichung der Gerechtigkeit, Gleichheit. Brüderlichkeit und Menschlichkeit“. Da „politische Macht des werktätigen Volkes“ nach Art. 1 und 2 der Verfassung den Führungsanspruch der SED impliziert, gehört damit auch die Suprematie der SED zu diesen Garantien für die Einhaltung und Verwirklichung der Verfassung. Dokumente und grundlegende Beschlüsse der SED bilden nicht nur die wichtigste Grundlage für das Verständnis und die Auslegung der Verfassung; sie stellen darüber hinaus „verbindliche Grundlagen jeder Rechtsanwendung“ dar (Heusinger, a. a. O.). Damit wird die bereits seit langem gültige Feststellung bestätigt, daß das sozialistische Recht nicht von der marxistisch-leninistischen Partei zu trennen ist (Petzold in: Staat und Recht, 1961, H. 4, S. 658); die Beschlüsse der SED gewinnen in der Praxis vor allem in der Forderung nach Wahrung der Sozialistischen Gesetzlichkeit an Bedeutung.

 

In den weiteren Verfassungsbestimmungen des IV. Abschnitts werden behandelt: die Gerichtsorganisation (Gerichtsverfassung), die Stellung des Obersten Gerichts, die an einen Richter zu stellenden Voraussetzungen, die Wahl der Richter, Schöffen und Mitglieder der Gesellschaftlichen Gerichte, die Stellung der Staatsanwaltschaft. Für das Strafrecht gelten nach Art. 99 die Grundsätze „nulla poena sine lege“ und „nullum crimen sine lege“; Art. 100 regelt die Zulässigkeit der Untersuchungshaft. Die Grundsätze, daß niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf und daß Ausnahmegerichte unstatthaft sind, sind ebenso Verfassungsinhalt wie die Gewährung des rechtlichen Gehörs vor Gericht und des Rechts auf Verteidigung (Strafverfahren; Verteidiger). Neu gegenüber der alten Verfassung ist die in Art. 104 vorgesehene Möglichkeit der Haftung des Staates für Schäden, die einem Bürger durch ungesetzliche Maßnahmen von Mitarbeitern der Staatsorgane zugefügt werden. Das in Ausführung hierzu ergangene Staatshaftungsgesetz vom 12. 5. 1969 (GBl. I, S. 34) läßt allerdings die Verwaltung in eigener Sache entscheiden; es ist dem Geschädigten nicht möglich, den ihm vom Staat zugefügten Schaden gerichtlich geltend zu machen (Staatshaftung).

 

Bereits 1952 war der größte Teil der freiwilligen Gerichtsbarkeit aus der Justiz herausgelöst und auf verschiedene Verwaltungsbehörden übertragen worden. So ging das gesamte Grundbuchwesen auf die Abt. Kataster bei den Räten der Kreise über. Gegenwärtig sind in Grundbuchangelegenheiten die Räte der Bezirke, Abt. Liegenschaftsdienst, zuständig, die Außenstellen bei den Räten der Kreise haben. Die Vormundschaftssachen sind den Abt. Volksbildung, Referat Jugendhilfe und Heimerziehung, bei den Räten der Kreise zugewiesen worden. Die Führung des Vereinsregisters war zunächst den Volkspolizeikreisämtern übertragen worden und ging durch VO vom 9. 11. 1967 (GBl. II, S. 861) — jetzt ersetzt durch die VO vom 6. 11. 1975 (GBl. I. S. 723) — für Vereinigungen auf Kreisebene auf den Rat des Kreises, für Vereinigungen auf Bezirksebene auf den Rat des Bezirks und für Vereinigungen, deren Tätigkeit sich über mehrere Bezirke oder über das Gebiet der gesamten DDR erstreckt, sowie für Vereinigungen von internationaler Bedeutung oder Vereinigungen von Bürgern anderer Staaten in der DDR auf das Ministerium des Innern über. Das Handelsregister wird bei den Abt. Örtliche Wirtschaft der Räte der Kreise, das Genossenschaftsregister beiden Abt. Handel und Versorgung. Land- und Forstwirtschaft und Örtliche Wirtschaft, das Geschmacksmusterregister beim Amt für Erfindungs- und Patentwesen, das Binnenschiffsregister bei den Wasserstraßendirektionen Berlin (Ost) und Magdeburg und das Seeschiffsregister beim Wasserstraßenhauptamt Rostock geführt. Die Nachlaßsachen und andere Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit sind dem Staatlichen Notariat übertragen worden.

 

Der ersten Justizreform im Jahre 1952 waren eine zweite (1958) und eine dritte Reform (1963) gefolgt. Letztere hatte als Schwerpunkte zunächst die Durchsetzung des Prinzips des demokratischen Zentralismus im Bereich der Rechtspflege (s. Ziffer IV. A.) und die Einführung der gesellschaftlichen Gerichtsbarkeit sowie die Schaffung neuer Gesetze: Familiengesetzbuch (Familienrecht) vom 20. 12. 1965 (GBl. I, 1966, S. 1), Strafgesetzbuch (Strafrecht) vom 12. 1. 1968 (GBl. I, S. 1) in der Fassung der Änderungsgesetze vom 19. 12. 1974 (GBl. I, S. 13) und vom 7. 4. 1977 (GBl. I, S. 100), Strafprozeßordnung (Strafverfahren) vom 12. 1. 1968 (GBl. I, S. 49) in der Fassung vom 7. 4. 1977 (GBl. I, S. 102), Gesetz über den Strafvollzug vom 12. 1. 1968 (GBl. I, S. 109), neu geregelt durch Gesetz vom 7. 4. 1977 (GBl. I, S. 109), Gesetz zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten vom 12. 1. 1968 (GBl. I, S. 101), VO über die Verfolgung von Verfehlungen vom 1. 2. 1968 (GBl. II, S. 89), Gesetz über die gesellschaftlichen Gerichte vom 11. 6. 1968 (GBl. I, S. 229), Gesetz über Eintragung und Tilgung im Strafregister vom 11. 6. 1968 (GBl. I, [S. 896]S. 237) in der Fassung vom 7. 4. 1977 (GBl. I, S. 102). Die Arbeiten zur Schaffung eines sozialistischen Zivilgesetzbuchs und einer Zivilprozeßordnung (Zivilrecht) wurden mit der Verabschiedung dieser Gesetze durch die Volkskammer am 19. 6. 1975 abgeschlossen (GBl. I, S. 465 und 533). Auf arbeitsrechtlichem Gebiet wurde das aus dem Jahre 1961 stammende „Gesetzbuch der Arbeit“ mit Wirkung vom 1. 1. 1978 durch das Arbeitsgesetzbuch (AGB) ersetzt (Arbeitsrecht).

 

II. Grundsätze für die Rechtsprechung

 

 

A. Der Demokratische Zentralismus

 

 

Art. 47 Verf. erklärt die auf der Grundlage des Demokratischen Zentralismus verwirklichte Souveränität des werktätigen Volkes zum tragenden Prinzip des Staatsaufbaus. Dieses von Lenin zunächst nur für die kommunistische Partei entwickelte Prinzip wurde später auf den Staat übertragen und gilt heute auch für die Rechtspflegetätigkeit der Gerichte. Es bedeutet zunächst einmal die Wählbarkeit aller Richter (Art. 95 Verf., § 5 GVG) sowie die Verantwortlichkeit der Gewählten gegenüber den sie wählenden Volksvertretungen, die dann zu Maßnahmen bis zur Abberufung führen kann (Richter). Neben dieser „horizontalen“ Verantwortlichkeit besteht auch eine „vertikale“. Hier hat es mit der Änderung und Ergänzung der Verfassung vom 7. 10. 1974 und dem neuen Gesetz über die Gerichtsverfassung Schwerpunktverschiebungen gegeben. Neben dem Obersten Gericht als dem höchsten Organ der Rechtsprechung (§ 36 GVG) ist, wie schon vor 1963, das Ministerium der Justiz wieder „Zentrales Leitungsorgan“ für die Anleitung und Kontrolle der Bezirks- und Kreisgerichte geworden.

 

Der Staatsrat ist zwar nach Art. 74 Verf. Aufsichtsorgan über die Verfassungsmäßigkeit und Gesetzlichkeit der Tätigkeit des Obersten Gerichts geblieben, hat jedoch die Befugnis, Erlasse und Beschlüsse mit rechtsverbindlicher Wirkung herauszugeben und die Verfassung wie die Gesetze verbindlich auszulegen, verloren. Trotz der horizontalen und vertikalen Bindungen und Verantwortlichkeiten beinhalten Art. 96 Verf. und § 5 Abs. 2 GVG den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit. Die Unabhängigkeit wird darin gesehen, daß andere Staatsorgane nicht berechtigt sein sollen, auf einen Richter mit dem Ziel einzuwirken, ihn im Einzelfall zu einer bestimmten Entscheidung zu veranlassen. Schon diese Garantie erscheint angesichts der Stellung und Anleitungsbefugnis durch Justizministerium und Oberstes Gericht (§§ 20, 21 GVG) fragwürdig. Eine persönliche Unabhängigkeit des Richters wird überhaupt nicht angestrebt; es wird vielmehr eine unverzichtbare Bindung des Richters an den Willen des werktätigen Volkes und der SED postuliert.

 

B. Zulässigkeit des Rechtsweges

 

 

Die Gerichte verhandeln und entscheiden alle Straf-, Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen, soweit nicht durch Gesetz oder andere Rechtsvorschriften die Zuständigkeit anderer Organe begründet ist. Andere Angelegenheiten verhandeln und entscheiden die Gerichte, wenn es durch Gesetz oder andere Rechtsvorschriften bestimmt wird (§ 4 GVG). Zu solchen „anderen Angelegenheiten“ gehören die Streichung von der oder die Nichtaufnahme in die Wählerliste. Dem davon betroffenen Bürger steht gegen die Entscheidung des Rates der Stadt oder der Gemeinde der Einspruch an das Kreisgericht zu. Praktische Bedeutung hat die Eröffnung dieses Rechtsweges nicht. Der Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten ist außer in Straf-, Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen eröffnet für bestimmte vermögensrechtliche Streitigkeiten zwischen landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften oder Wohnungsbaugenossenschaften und deren Mitgliedern. ferner in Warenzeichen- und Patentrechtsstreitigkeiten. Es besteht nur das System der ordentlichen Gerichte, in das die Arbeitsgerichtsbarkeit eingefügt ist. Sondergerichtsbarkeiten (Verfassungs-, Verwaltungs-, Sozial-, Finanzgerichte) gibt es nicht. Der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten ist in Fällen dieser Art nicht zulässig. Für Streitfälle aus Wirtschaftsverträgen zwischen oder mit sozialistischen Betrieben besteht eine spezielle Zuständigkeit vor den staatlichen Vertragsgerichten, die jedoch auch im Rechtsverständnis der DDR nicht ausschließlich als Organe der Rechtsprechung, sondern ebenso als solche mit wirtschaftsleitenden und wirtschaftspolitischen Funktionen gesehen werden. Gegenüber dem Staat besteht auch bei Staatshaftungsansprüchen aus Art. 104 Verf. kein Rechtsweg zu den Gerichten; der rechtsuchende Bürger bleibt auf den innerbehördlichen Verwaltungsweg angewiesen, evtl, auf den Versuch, die Staatsanwaltschaft im Wege der Gesetzlichkeitsaufsicht (Staatsanwaltschaft) für seinen Fall zu interessieren.

 

C. Teilnahme der Bürger an der Rechtspflege

 

 

Nach Art. 87 Verf. wird die Gesetzlichkeit durch die Einbeziehung der Bürger und ihrer Gemeinschaften in die Rechtspflege und in die gesellschaftliche und staatliche Kontrolle über die Einhaltung des sozialistischen Rechts gewährleistet. In allen erstinstanzlichen zivil-, straf-, familien- (ehe-) und arbeitsrechtlichen Streitigkeiten, die vor den staatlichen Gerichten der DDR zur Austragung kommen, wirken neben den Berufsrichtern Schöffen mit. Nur in erstinstanzlichen Strafverfahren vor dem Obersten Gericht ist das nicht der Fall. Die Kammern für Straf-, Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen bei den Kreisgerichten, die für die erstinstanzlichen Sachen zuständigen Senate der Bezirksgerichte und der Se[S. 897]nat für Arbeitsrechtssachen beim Bezirksgericht sind mit 1 Richter als Vorsitzendem und 2 Schöffen besetzt. Der Senat für Arbeitsrechtssachen des OG entscheidet mit 1 Oberrichter, 1 weiteren Richter und 3 Schöffen. Den Berufungssenaten der Bezirksgerichte und den sonstigen Senaten des Obersten Gerichts gehören keine Schöffen an. In der Militärgerichtsbarkeit sind Militär-Schöffen tätig. Schöffen sind auch in den Rechtsauskunftsstellen der Kreisgerichte tätig. Die Schöffen sollen an 2 Wochen im Jahr an der Rechtsprechung des Gerichts teilnehmen. Berufliche oder materielle Nachteile dürfen einem Schöffen durch Ausübung des Amtes nicht entstehen; Verdienstausfall wird entschädigt.

 

Die Schöffen werden für die Dauer der Wahlperiode der jeweiligen Volksvertretung gewählt; die Wahlen wurden letztmalig im Zusammenhang mit den Wahlen zu den Kreistagen, Stadtverordnetenversammlungen, Stadtbezirksversammlungen und Gemeindevertretungen am 19. 5. 1974 durchgeführt (Beschluß des Staatsrats vom 25. 2. 1974, GBl. I, S. 101), und zwar in Versammlungen der Werktätigen, die in Vorbereitung dieser Wahlen stattfanden. Gewählt wurden 48.104 Schöffen der Kreisgerichte, davon 47,9 v. H. Frauen (Neue Justiz 1974, H. 19, S. 572), für die dieselben gesetzlichen Voraussetzungen wie für das Richteramt gelten: „Schöffe kann nur sein, wer dem Volk und seinem sozialistischen Staat treu ergeben ist und über ein hohes Maß an Wissen und Lebenserfahrung, an menschlicher Reife und Charakterfestigkeit verfügt.“

 

Gewählt werden kann jeder Bürger, der das Wahlrecht besitzt, mit Ausnahme von Richtern, Staatsanwälten, Mitarbeitern der Untersuchungsorgane und Rechtsanwälten. Die Anzahl der für jedes Kreis- und Bezirksgericht zu wählenden Schöffen wird vom Minister der Justiz bestimmt, die Zahl der Arbeitsrechts-Schöffen beim OG setzt der Präsident des OG fest. So wie die Richter können auch die Schöffen aus verschiedenen Gründen (vgl. § 53 GVG) vorzeitig aus ihrem Amt abberufen werden, und zwar die Schöffen am Obersten Gericht auf Vorschlag des Staatsrates durch die Volkskammer, die Schöffen an den Bezirks- und Kreisgerichten auf Vorschlag des Direktors des Gerichts von der zuständigen Volksvertretung. Für die Schöffen gelten dieselben Grundpflichten wie für die Richter (§ 45 GVG). Eine Schöffen-Kartei soll Aufschluß über ihre Beteiligung an der Rechtsprechung, der Schulung und der politischen Massenarbeit geben.

 

Nach der Rundverfügung des Ministers der Justiz vom 20. 1. 1978 haben die Direktoren der Kreis- und Bezirksgerichte sicherzustellen, daß die Schöffen ihre Funktion als gleichberechtigte Richter voll wahrnehmen können. Dem Direktor obliegt die Leitung der Schöffentätigkeit; er hat dafür zu sorgen, daß die Arbeit ein Höchstmaß an Effektivität verspricht und eine reibungslose Koordination z. B. durch Schöffenkonferenzen stattfindet. Die Schöffen werden in Schöffenkollektiven zusammengefaßt. Die Kollektive sind Bindeglieder zwischen Gericht und Betrieben und ermöglichen wechselseitige Informationen. Sie setzen sich aus Schöffen verschiedener Kreisgerichte und des Bezirksgerichts zusammen und werden durch einen Vorsitzenden geleitet. Ihre Aufgabe besteht insbesondere darin, den gerichtlichen Einsatz der Schöffen mitzugestalten, an der Kontrolle der gerichtlichen Entscheidungen im Wohngebiet oder Betrieb mitzuwirken, gewerkschaftliche Rechtskonferenzen durchzuführen, Arbeitskollektiven bei der Vorbereitung auf die Mitwirkung bei gerichtlichen Verfahren zur Seite zu stehen. Beim Direktor eines jeden Kreisgerichts wird ein Schöffenaktiv gebildet. Es setzt sich aus Vorsitzenden von Schöffenkollektiven und einzelnen befähigten Schöffen zusammen und wird von einem Schöffen geleitet. Der Kreisgerichtsdirektor oder dessen Stellvertreter bereitet mit dem Vorsitzenden die Beratungen des Aktivs vor. Das Schöffenaktiv ist ein den Kreisgerichtsdirektor beratendes und unterstützendes Organ bei der Leitung der Schöffentätigkeit. Es soll sich u. a. mit der Rechtsprechung und ihrer Wirksamkeit befassen und den Direktor des Kreisgerichts bei Analysen der Rechtsprechung unterstützen, Erfahrungsberichte der Schöffenkollektive auswerten, Vorschläge für die inhaltliche und organisatorische Durchführung von Schulungen der Schöffen unterbreiten und Schöffenkonferenzen vorbereiten.

 

Weitere Formen der Mitwirkung der Bürger an der Rechtspflege gibt es in den „Vertretern der Kollektive“, gesellschaftlichen Anklägern und Verteidigern ausschließlich im Strafverfahren, ebenso in der Übernahme einer gesellschaftlichen Bürgschaft. Nicht mehr nur Mitwirkung an der Rechtsprechung der staatlichen Gerichte, sondern ausschließlich eigene Verantwortlichkeit ist den Bürgern in der Tätigkeit der gesellschaftlichen Gerichte übertragen.

 

D. Öffentlichkeit der Verhandlung

 

 

§ 10 GVG bringt den Grundsatz der Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung zum Ausdruck; dadurch soll eine Erziehungswirkung auf alle Bürger ausgeübt und die Kontrolle der Rechtsprechung durch die Werktätigen ermöglicht werden. Gleichwohl wird der Grundsatz der Öffentlichkeit häufig durchbrochen, und sogar in den großen Schauprozessen war nur ein bestimmter und ausgesuchter Kreis von Zuhörern zugelassen. Das OG rechtfertigte diese Praxis. Wenn an Prozessen „vor allem Werktätige teilnehmen, die aufgrund ihrer beruflichen oder gesellschaftlichen Stellung mit dem Gegenstand des Verfahrens besonders verbunden sind, dann ist die Öffentlichkeit des Verfahrens gewahrt, selbst wenn durch die Teilnahme ausschließlich solcher Zuhörer andere Interessenten nicht mehr zugelassen werden [S. 898]können“ (Neue Justiz, H. 22/1955, S. 686). Bestimmte Strafsachen werden grundsätzlich nicht öffentlich verhandelt (Strafverfahren), während der Grundsatz der Öffentlichkeit — trotz der Möglichkeit, sie auszuschließen — uneingeschränkt in ehe- und familienrechtlichen Verfahren praktiziert wird.

 

E. Gerichtskritik

 

 

Nach § 19 GVG hat ein Gericht durch begründeten Beschluß Kritik zu üben, wenn es bei der Durchführung eines Verfahrens Rechtsverletzungen in der Tätigkeit anderer Staatsorgane, wirtschaftsleitender Organe, von Kombinaten, Betrieben, Einrichtungen, Genossenschaften oder gesellschaftlichen Organisationen feststellt. Die Gerichtskritik kann sich sowohl auf Rechtsverletzungen wie auf solche Umstände erstrecken, die Rechtsverletzungen begünstigen. Der Leiter des kritisierten Organs oder die Leitung der von der Kritik betroffenen gesellschaftlichen Organisation sind verpflichtet, gegenüber dem Gericht binnen 2 Wochen zur Gerichtskritik Stellung zu nehmen. Das dem kritisierten Staatsorgan übergeordnete Organ ist vom Gericht über die Gerichtskritik schriftlich zu informieren (§ 19 StPO). Durch die verstärkte und richtige Anwendung der Gerichtskritik sollen die gesellschaftlichen Kräfte im Kampf gegen Gesetzesverletzungen und zur Beseitigung von Mängeln mobilisiert werden (Rechtspflege-Erlaß des Staatsrates vom 4. 4. 1963). Mit der Gerichtskritik soll dazu beigetragen werden, daß alle Staats- und Wirtschaftsorgane und die gesellschaftlichen Organisationen ihre Verantwortung für die konsequente Durchsetzung von Disziplin und Ordnung, für die Überwindung von Gleichgültigkeit gegenüber den Verletzungen der Gesetzlichkeit und der Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens wahrnehmen (Neue Justiz, 1964, H. 10, S. 292). Ein eine Gerichtskritik enthaltender Beschluß kann weder mit einem ordentlichen Rechtsmittel noch mit der Kassation angefochten werden.

 

Beklagt wird, daß „das Mittel der Gerichtskritik noch zu wenig benutzt wird, um die Gesetzlichkeit zu festigen und Ursachen und Bedingungen von Straftaten und anderen Rechtsverletzungen zu beseitigen“ (Neue Justiz, 1974, H. 4, S. 115). Es wird jedoch aus anderen Veröffentlichungen deutlich, daß die Gerichte ihre zunächst festzustellende Scheu vor der Gerichtskritik mehr und mehr überwunden haben und zunehmend von dieser Möglichkeit der Einwirkung auf das Verantwortungsbewußtsein der Funktionäre und Bürger Gebrauch machen (vgl. „Neue Justiz“ 1976, H. 20, S. 613 ff.).

 

F. Weitere Grundsätze

 

 

Weitere Grundsätze, die für die DDR-Justiz von Bedeutung und zum Teil durch die Verfassung garantiert werden, sind:

 

Keine Strafe ohne Gesetz, Verbot rückwirkender Strafgesetze (Art. 99 Verf.), Anordnung der Untersuchungshaft durch den Richter (Art. 100 Verf.) Strafverfahren, Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 Verf.) Gerichtsverfassung, Recht auf Verteidigung (Art. 102 Verf., § 13 GVG) Verteidiger, Zulässigkeit der Kassation gerichtlicher Entscheidungen (§ 16 GVG) und das Tätigwerden der Gesellschaftlichen Gerichte (Art. 92 Verf., §§ 1, 2 GVG).

 

V. Die Organe der Rechtsprechung und ihr Tätigkeitsfeld

 

 

Über die Organisation der staatlichen Gerichtsbarkeit in der DDR, den Instanzenzug und die im Sinne des demokratischen Zentralismus eingebauten Leitungsmaßnahmen gibt das nebenstehende Organisationsschema Aufschluß (Gerichtsverfassung; Richter). Herausgelöst aus dem Justizapparat und in eine selbständige, unmittelbar der Volkskammer und dem Staatsrat unterstehende Behörde umgewandelt wurde die Staatsanwaltschaft, die im Hinblick auf die von ihr auszuübende Gesetzlichkeitsaufsicht in Anlehnung an das sowjetische Vorbild als „Hüter der sozialistischen Gesetzlichkeit“ bezeichnet wird. Justizverwaltung, Kaderpolitik und Vorbereitung der Gesetzgebung liegen in Händen des Ministeriums der Justiz, das auch die Aufsicht über die Rechtsanwaltschaft und das Notariat wahrnimmt. Eine Standesorganisation oder eigene Ehrengerichtsbarkeit gibt es für die Rechtsanwaltschaft nicht. Für alle Justizfunktionäre, die der SED angehören — das sind, soweit erkennbar, über 90 v. H. aller Richter und alle amtierenden Staatsanwälte —, gilt wie für jedes andere Parteimitglied das Statut der SED (Abschn. I, Ziff. 2 g des Statuts). Damit ist es der SED immer möglich, unmittelbar auf die Rechtsprechung einzuwirken und vor allem die Schwerpunkte der Rechtsprechung zu bestimmen.

 

Die größte Bedeutung in der gesamten Rechtsprechung kommt dem Strafrecht zu, das durch das Strafgesetzbuch vom 12. 1. 1968 (GBl. I, S. 1) in der Fassung der Änderungsgesetze vom 19. 12. 1974 (GBl. I, S. 13) und vom 7. 4. 1977 (GBl. I, S. 100) eine neue materielle Grundlage erhielt. Auf dem Gebiet des politischen Strafrechts war, nachdem durch Beschluß der Sowjetregierung vom 20. 9. 1955 alle „Gesetze, Direktiven und Befehle des Alliierten Kontrollrats als überflüssig erachtet werden und auf dem Gebiet der DDR ihre Gültigkeit verlieren“, bis zum 1. 2. 1958 fast ausschließlich Art. 6 der alten Verfassung angewandt worden, der die sog. Boykott-, Kriegs- und Mordhetze für strafbar erklärte. Das neue Strafgesetzbuch faßt die politischen Straftatbestände in den ersten beiden Kapiteln des Besonderen Teils zusammen (Aggressionsverbrechen; Staatsverbrechen).

 

[S. 899]

 

 

Mit Inkrafttreten des neuen Strafrechts trat eine Differenzierung der Rechtsverletzungen in Straftaten, Verfehlungen und Ordnungswidrigkeiten ein. Verfehlungen und Ordnungswidrigkeiten zählen nicht zu den Straftaten. Einheitlich werden allen Straftaten folgende Merkmale zuerkannt: 1. Gesellschaftswidrigkeit (bei Vergehen) und Gesellschaftsgefährlichkeit (bei Verbrechen), 2. die moralisch-politische Verwerflichkeit, 3. die Strafrechtswidrigkeit und 4. die Strafbarkeit oder strafrechtliche Verantwortlichkeit vor einem gesellschaftlichen Organ der Rechtspflege. Das neue StGB weist ein differenziertes Strafensystem auf. Es behielt die Todesstrafe bei. Außerhalb des StGB geregelte Straftatbestände wurden durch das Anpassungsgesetz vom 11. 6. 1968 (GBl. I, S. 242) an das Strafensystem des StGB angepaßt. Der in § 1 Abs. 4 EGStGB enthaltenen Verpflichtung, eine Zusammenstellung aller geltenden Straftatbestände außerhalb des StGB im Gesetzblatt zu veröffentlichen, ist der Minister der Justiz mit einer kurzen Bekanntmachung vom 21. 6. 1968 (GBl. II, S. 405) nachgekommen. Er weist auf die im Anpassungsgesetz enthaltenen Bestimmungen hin. Das bedeutet, daß es außerhalb des StGB und des Anpassungsgesetzes keine Straftatbestände mehr gibt.

 

Von besonderer Bedeutung für die Strafpolitik waren zunächst die Beschlüsse des Staatsrates vom 30. 1. 1961 (GBl. I, S. 3) und vom 24. 5. 1962 (GBl. I, S. 53) „über die weitere Entwicklung der Rechtspflege“, nach denen die richtig differenzierte Strafe vom Grad der Gesellschaftsgefährlichkeit und von der persönlichen Einstellung des Täters zur „Arbeiter-und-Bauern-Macht“ abhängig sein sollte. In dem Bemühen, den verbindlichen Weisungen des Staatsrates zu folgen, stellten die Gerichte bei der Beurteilung krimineller Delikte häufig fest, daß es sich bei den Angeklagten nicht um „Feinde der Arbeiter-und-Bauern-Macht“ handele, und verhängten milde Strafen. Da dies in unverständlichem Ausmaß auch bei der Bestrafung von Gewalt- und Sexualverbrechen erfolgte, mußte das Plenum des OG in einem Beschluß vom 30. 6. 1963 anordnen, daß die Strafpolitik gegenüber derartigen Verbrechen wieder erheblich härter werden müsse und daß im Regelfall die Freiheitsstrafe als härteste staatliche Zwangsmaßnahme zu verhängen sei. Eine gleichartige Anleitung wurde hinsichtlich der Bestrafung von Rückfalltätern erlassen. Die Folge dieser Beschlüsse und Anleitungen war, daß im zweiten Halbjahr 1963 die Strafen ohne Freiheitsentziehung und die Übergabe von Strafsachen an die Konfliktkommissionen zurückgingen, während die Verurteilungen zu Freiheitsstrafen wieder zunahmen. Der Präsident des OG, Toeplitz, bezeichnete diese Entwicklung als negativ (Neue Justiz, 1964, H. 11, S. 321), rügte „einige überspitzte Bestrafungen bei Sexualdelikten“ und orientierte damit wieder mehr auf die Verhängung von Strafen ohne Freiheitsentziehung, vor allem aber auf eine noch stärkere Einschaltung der gesellschaftlichen Gerichte. Aus diesen verschiedenen, sich z. T. widersprechenden Anordnungen wird deutlich, welchen Schwankungen die Strafpolitik in der DDR unterworfen ist.

 

Für die Durchführung des Strafverfahrens war bis zum 30. 6. 1968 die im Zuge der 1. Justizreform erlassene Strafprozeßordnung vom 2. 10. 1952 gesetzliche Grundlage, seit 1. 7. 1968 ist es die Strafprozeßordnung vom 12. 1. 1968 (GBl. I, S. 49). Nach der Richtlinie Nr. 22 des Plenums des OG vom 14. 12. 1966 (GBl. II, 1967, S. 17) muß das Strafverfahren so gestaltet werden, „daß das Verständnis [S. 900]der gesellschaftlichen Kräfte für die Entscheidung des Gerichts erhöht und ihre Initiative zur bewußten Umgestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung gefördert werden“. Darum soll die Bevölkerung zur bewußten und aktiven Mitwirkung im Strafverfahren herangezogen werden. Dies bringt nunmehr § 4 StPO zum Ausdruck, so daß die Richtlinie Nr. 22 aufgehoben werden konnte.

 

Auf zivilrechtlichem Gebiet (Zivilrecht) galten bis zum 1. 1. 1976 noch das Bürgerliche Gesetzbuch und die Zivilprozeßordnung, beide allerdings mit erheblichen Ausnahmen und Einschränkungen. Ein neues, sozialistisches Zivilgesetzbuch (ZGB) und eine neue Zivilprozeßordnung (ZPO) wurden von der Volkskammer am 19. 6. 1975 verabschiedet (GBl. II, S. 465 und 533). Der Regelungsbereich des als Versorgungsrecht begriffenen ZGB beschränkt sich auf zivilrechtliche Beziehungen zwischen Bürgern und Betrieben einerseits und zwischen Bürgern untereinander andererseits; die Auffassung vom einheitlichen Zivilrecht konnte sich damit in der DDR nicht durchsetzen. Die ZPO regelt das gerichtliche Verfahren in Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen in Übereinstimmung mit dem Gerichtsverfassungsgesetz. An die Stelle der Art. 7 bis 31 EGBGB trat die Regelung des Kollisionsrechts im Rechtsanwendungsgesetz vom 5. 12. 1975 (GBl. I, S. 748).

 

Nachdem auf dem Gebiet des Familienrechts zunächst lediglich das Kontrollgesetz Nr. 16 (Ehegesetz vom 20. 2. 1946) durch die VO über Eheschließung und Eheauflösung vom 24. 11. 1955 ersetzt worden war, wurde das gesamte Familienrecht mit Wirkung vom 1. 4. 1966 durch das Familiengesetzbuch der DDR (FGB) vom 20. 12. 1965 (GBl. I, 1966, S. 1) neu geregelt und damit neben zahlreichen anderen gesetzlichen Bestimmungen auch das 4. Buch des BGB aufgehoben.

 

Das Arbeitsrecht soll der Verwirklichung der Hauptaufgabe in ihrer Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik dienen, d. h. „der weiteren Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der sozialistischen Produktion, der Erhöhung der Effektivität, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität“. So werden die Aufgaben des Arbeitsrechts in § 1 des neuen Arbeitsgesetzbuchs der DDR vom 16. 6. 1977 (GBl. I, S. 185) beschrieben. Gegenüber dem durch dieses Gesetz aufgehobenen Gesetzbuch der Arbeit vom 12. 4. 1961 (GBl. I, 5. 27) läßt es das Bemühen um konkretere Regelungen erkennen und enthält eine Reihe von sozialen Verbesserungen sowie Bestimmungen, die der Erhöhung der Rechtssicherheit dienen sollen. Unverändert geblieben ist bei der Behandlung arbeitsrechtlicher Streitigkeiten, daß in Betrieben und Verwaltungen, in denen Konfliktkommissionen bestehen, zunächst diese zuständig sind. Erst gegen einen Beschluß der Konfliktkommission ist Einspruch beim zuständigen Kreisgericht möglich (Gesellschaftliche Gerichte).

 

Das Wirtschaftsrecht wird als ein „wichtiges Instrument zur Gestaltung des ökonomischen Systems des Sozialismus und der wissenschaftlichen sozialistischen Wirtschaftsführung“ bezeichnet (Staat und Recht, H. 4, 1968, S. 595). Ebenso wie das gesamte sozialistische Recht soll gerade das Wirtschaftsrecht eine aktive Funktion ausüben und Instrument zur Beherrschung ökonomischer und anderer gesellschaftlicher Prozesse sein. Es soll als „hocheffektives Instrument der Steuerung und Regelung ökonomischer Prozesse“ erkannt und angewendet werden.

 

Das bislang für die Praxis geschaffene System wirtschaftsrechtlicher Regelungen wird als entwicklungsbedürftig und noch keineswegs vollendet angesehen. Begonnen wurde mit der Schaffung von Grundsatzregelungen über die Rechtsstellung von Wirtschaftsorganen.

 

Darüber hinaus wurde für internationale Wirtschaftsverträge und damit zusammenhängende Rechtsverhältnisse das Gesetz über Internationale Wirtschaftsverträge (GIW) vom 5. 2. 1976 (GBl. I, S. 61) erlassen. Gefordert wird, daß ein lückenloses wirtschaftsrechtliches Gesamtregelungssystem geschaffen und ständig der weiteren ökonomischen Entwicklung angepaßt wird.

 

Am Ende aller Bemühungen auf wirtschaftsrechtlichem Gebiet wird neben der dann geschaffenen Grundsatzregelung die Aufhebung der wirtschaftsrechtlichen Bestimmungen stehen, die vor dem Neuen ökonomischen System erlassen wurden, sowie der heute noch (formell) geltenden Bestimmungen aus der Zeit vor 1945 (z. B. Aktiengesetz von 1937).

 

Bei ihrer Rechtsprechungstätigkeit haben die Gerichte ihr besonderes Augenmerk darauf zu richten, daß einmal im Straf- oder Zivilprozeß die entstandenen Konflikte in der Gesellschaft aufgedeckt werden und daß zum anderen in allen geeigneten Fällen im Anschluß an ein gerichtliches Verfahren eine gesellschaftliche Erziehung einsetzt, die gegebenenfalls vom Gericht organisiert werden muß. Um die Wirksamkeit der Rechtsprechung auf das Bewußtsein der Bürger zu erhöhen, sollen die Gerichte bei allen geeigneten Verfahren den Gewerkschaftsleitungen, Leitungen der FDJ, Betriebsleitungen, Ausschüssen der Nationalen Front und anderen Organen, Einrichtungen und Kollektiven, die von der Angelegenheit berührt werden, Nachricht über die stattfindende Verhandlung geben und solche Verhandlungen unmittelbar in den Betrieben, Genossenschaften und Einrichtungen durchführen. Vertreter von sozialistischen Betrieben, Hausgemeinschaften und anderen Kollektiven der Werktätigen sollen im [S. 901]Strafprozeß zur Teilnahme an der Hauptverhandlung geladen werden.

 

Im Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen und ihre Organe vom 12. 7. 1973 (GBl. I, S. 313) wird festgestellt, daß die örtlichen Volksvertretungen — die Bezirks- und Kreistage, Stadtverordneten- und Stadtbezirksversammlungen und Gemeindevertretungen - eine hohe Verantwortung für den Schutz der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung, des sozialistischen Eigentums sowie der Rechte der Bürger tragen. Sie haben für die strikte Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit, für die Festigung der Sicherheit und Ordnung im Territorium zu sorgen und hierzu die Kontrolle auszuüben. Um dieser Aufgabe nachkommen zu können, sind die Bezirks- und Kreistage ebenso wie die Räte der Bezirke und Kreise berechtigt, von den Gerichten und der Staatsanwaltschaft Auskünfte und Informationen zu verlangen. Die Richter sind zur Berichterstattung vor den örtlichen Volksvertretungen über die Erfüllung ihrer Pflichten zur Durchsetzung der sozialistischen Gesetzlichkeit und zur gesellschaftlichen Wirksamkeit der Rechtsprechung verpflichtet. In dieser gesetzlichen Regelung zeigt sich eine Konkretisierung des im Art. 87 der Verfassung enthaltenen Grundsatzes, daß die Gesetzlichkeit durch die Einbeziehung der Bürger und ihrer Gemeinschaften in die Rechtspflege und in die gesellschaftliche und staatliche Kontrolle über die Einhaltung des sozialistischen Rechts gewährleistet wird.

 

W. Rosenthal


 

Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 893–901


 

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Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

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