DDR von A-Z, Band 1979

 

Soziologie und Empirische Sozialforschung (1979)

 

 

Siehe auch die Jahre 1969 1975 1985

 

I. Begriff und Funktionen

 

 

Mit erheblicher Verspätung gegenüber der UdSSR und anderen Ländern des Ostblocks ist die S. in der DDR erstmals auf dem VI. Parteitag der SED im Ja[S. 997]nuar 1963 parteioffiziell positiv erwähnt und im Programm der SED als „Lehre von der Leitung und Entwicklung der Gesellschaft“ bestimmt worden. Damit setzte die SED auch die Institutionalisierung der S. in Gang. Während in der UdSSR seit 1958 eine Gesellschaft für S. besteht und in Polen seit 1956 empirisch-soziologische Forschungen durchgeführt werden, waren in der DDR größere ideologische und politische Schwierigkeiten zu überwinden, ehe sich S. und ES. neben dem Historischen und Dialektischen Materialismus als eigenständige Disziplinen etablieren konnten — war doch in der DDR die S. jahrelang besonders heftig als Werkzeug des „staatsmonopolistischen Kapitalismus und Imperialismus“ angegriffen worden. Jedoch auch nach ihrer Institutionalisierung als marxistisch-leninistische S. blieb die S. unter scharfer Kontrolle der Wissenschaftsfunktionäre der SED. Sie hat in erster Linie Informationen über die Entwicklung der DDR-Gesellschaft für die SED-Führung auf den verschiedenen Ebenen der Hierarchie sowie für eine differenziertere Agitation und Propaganda bereitzustellen. Diese Entwicklung wurde auf dem VI. Parteitag eingeleitet. Damals hatte Kurt Hager, Mitglied des Politbüros und Leiter der Ideologischen Kommission beim Politbüro, darauf hingewiesen, daß „durch soziologische Massenforschungen zu grundlegenden und umfassenden Problemen unserer gesellschaftlichen Entwicklung … ein wichtiger Beitrag zur politischen Führungs- und Leitungstätigkeit der Partei und des Staates geleistet“ wird. Und Horst Taubert, langjähriger Sekretär des Wissenschaftlichen Rats für Soziologische Forschung bei der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, hatte bereits 1967 unmißverständlich gefordert: „Die Aufgaben- und Zielstellung jeglicher soziologischer Forschung besteht darin, durch die komplexe Analyse komplexe soziale Erscheinungen, Prozesse und Bereiche, Triebkräfte und Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Handelns und Verhaltens bestimmter sozialer Gruppen, Klassen und Schichten aufzudecken und die hierbei gewonnenen Erkenntnisse für die wissenschaftliche Führungstätigkeit nutzbar zu machen.“ Auch die offiziellen Thesen zu „Charakter und Aufgaben der marxistisch-leninistischen Soziologie in der DDR“ von 1970 bestätigen — auch im Jahre 1978 — diese Grundausrichtung der S. in der DDR.

 

Bis in die Gegenwart hinein ist im Kreise der marxistisch-leninistischen Soziologen umstritten, ob S. und Historischer Materialismus identisch sind bzw. wie die marxistisch-leninistische S. vom Historischen und Dialektischen Materialismus unmißverständlich abzugrenzen ist (vgl. dazu im einzelnen: „Grundlagen der marxistisch-leninistischen Soziologie, Hrsg. G. Aßmann und R. Stollberg, Berlin [Ost] 1977, S. 11 ff.).

 

Die vorherrschende Auffassung nicht nur in der DDR, sondern auch in der UdSSR ist, daß der Historische Materialismus eine „allgemein-soziologische Theorie“ sei, neben der eine Reihe von Spezialsoziologien und empirischen Forschungsmethoden und -techniken besteht. Der Historische Materialismus wird nach wie vor als „Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen der Gesellschaft“ begriffen. Als solche ist er sowohl Gesellschaftsphilosophie wie S. Durch diese identifizierende Einbettung in den Historischen Materialismus wird die marxistisch-leninistische S. zu einer Art Universalwissenschaft. Als solche fußt sie auf der im Historischen Materialismus enthaltenen theoretischen „Reproduktion des Ganzen der Gesellschaft“. Dabei spielt der in Anlehnung an das Marxsche Begriffsgerüst gewonnene Begriff der „sozioökonomischen Formation“ bzw. der Begriff der „ökonomischen Gesellschaftsformation“ eine zentrale Rolle. Von ihm werden auch die marxistischen Grundkategorien der „Produktivkräfte“, „Produktionsverhältnisse“ usw. abgeleitet. Andererseits hat die marxistisch-leninistische S. in den letzten Jahren, wenn auch zunächst nur zögernd, zahlreiche Begriffe aus der westlichen S. (u. a. die Begriffe „Gruppe“, „Rolle“, „Sozialstruktur“, „soziale Schicht“. „Mobilität“, „soziales Handeln“, „Interaktion“, „System“, „Subsystem“ usw.) übernommen. Daraus resultieren zahlreiche, bis heute nicht gelöste methodologische Probleme (vgl. dazu auch V.).

 

In der Reflexion dieser grundsätzlichen Problematik haben sich in der DDR genuine Ansätze einer allgemeinen soziologischen Theorie, allerdings zu begreifen als philosophische Theorie der Gesellschaft, herausgebildet. In dieser marxistischen S. tritt die erkenntnistheoretische und methodologisch-methodische Dimension stärker hervor als in jener Spielart, die sich mehr oder minder mit dem Historischen Materialismus identifiziert. Den Grundgedanken jeder materialistischen Erkenntnistheorie kennzeichnet etwa Erich Hahn, der führende soziologische und sozialphilosophische Theoretiker in der DDR, durch deren Voraussetzungsgebundenheit und durch die spezifischen Verbindungen zwischen Subjekt und Objekt der Erkenntnis. Das Subjekt der Erkenntnis gehört stets auch der Gesellschaft, die es erkennen will. an. Das Subjekt der soziologischen Erkenntnis ist damit stets soziales Subjekt und für Hahn ― eindeutig festgelegt ― in erster Linie die „Arbeiterklasse“ in der DDR. Das Objekt der Erkenntnis ist, in allgemein gehaltener Formulierung, die „materielle Außenwelt“, genauer: die je geschichtlich gewordene Gesellschaft. Eine derart konzipierte Gesellschaft ist in ihrer Materialität der „übergreifende Bestimmungsgrund“ soziologischer Erkenntnis.

 

Diese Grundannahmen implizieren die von Lenin im Rückgriff auf Marx behauptete Abbildfunktion der Erkenntnis. Die objektive Realität wird im erken[S. 998]nenden Bewußtsein abgebildet. Die Abbildtheorie ist von zentraler Bedeutung für die marxistisch-leninistische S., kennzeichnet sie doch die spezifische Verbindung von Subjekt und Objekt. Das Subjekt ist — gerade durch die bewußte Abbildung der in der objektiven Realität, d. h. unabhängig von ihm, sich abpielenden Prozesse — in diese Realität und dadurch in den sozialen Gesamtzusammenhang, in die „Praxis“ eingebunden.

 

Allerdings bestehen zwischen Subjekt und Objekt, dem komplexen Charakter der gesellschaftlichen Wirklichkeit gemäß, noch weitere Beziehungen. Hier ist u. a. die Stellung des Menschen im Produktionsprozeß zu erwähnen, die nach marxistischer Auffassung vor allem durch die Produktionsweise oder, etwas weiter gefaßt, die „materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse“ bestimmt wird. Die Produktionsweise ist, schon bei Marx, charakterisiert durch die menschliche Arbeit. Der Mensch ist in der und durch die Arbeit gleichermaßen Subjekt und Objekt in der Gesellschaft. Das Bewußtsein seiner Arbeit gibt ihm als Homo creator immer stärker die Möglichkeit, den Objektcharakter seiner Existenz zu überwinden. Die erkenntnistheoretische Beziehung zwischen Subjekt und Objekt weist damit auf ontologische, philosophisch-weltanschauliche, soziologische, historische und psychologische Fragestellungen zurück. Diese umfassende Konzeption impliziert die Ablehnung jeder Trennung von Subjekt und Objekt.

 

Objektive Realität erscheint für den marxistischen Soziologen vor allem als „gesellschaftliche Praxis“. Sie schließt durchaus die Gewinnung von Erfahrung mit Hilfe von Beobachtung und Experiment in sich ein. Soziologische Erkenntnis und Forschung müssen jedoch stets als „Glied und Mittel der sozialen Erfahrung der Gesellschaft insgesamt“ begriffen werden. Sie können sich nicht auf eine partikulare Erfahrung, die von dem historisch-gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang abstrahiert, berufen.

 

Für eine derart begriffene marxistisch-leninistische S. ergeben sich die soziologischen Kategorien sowohl aus ihrer Genesis, ihrem historischen Entwicklungszusammenhang, wie aus der geschichtsphilosophisch eindeutig einzuordnenden Wirklichkeit der DDR-Gesellschaft und aus Verallgemeinerungen von Ergebnissen der ES. in dieser Gesellschaft.

 

Noch Anfang der 70er Jahre war von Seiten marxistischer Soziologen darauf hingewiesen worden, daß bestimmte Begriffe der „bürgerlichen“ S. (wie etwa „soziale Kontrolle“ und „Sozialprestige“) in der DDR nicht anwendbar sind, da die DDR-Gesellschaft von der der Bundesrepublik Deutschland völlig verschieden sei und da die gesellschaftlichen Grundlagen dafür weitgehend fehlen. Inzwischen hat man diesen Vorbehalt fallengelassen (vgl. weiter u.). Andererseits habe die ES. Begriffe wie „sozialistische Gemeinschaftsarbeit“, die in der sozioökonomischen Wirklichkeit aufgrund bestimmter realer Prozesse und Erfahrungen in der DDR nachweisbar sind, auf den Historischen Materialismus beziehen und damit — auch unter Verwendung von Erkenntnissen aus den westlichen Sozialwissenschaften — konkretisieren können.

 

Die Grundfunktionen der marxistisch-leninistischen S. im theoretischen Bereich können wie folgt zusammengefaßt werden: 1. hat die marxistisch-leninistische S. dazu beizutragen, das Gesellschaftliche ➝Bewußtsein insbesondere der Arbeiterklasse in der DDR zu stärken (weltanschaulich-ideologische Funktion); 2. hat die marxistisch-leninistische S., indem sie sich auf die Grundaxiome des Historischen und Dialektischen Materialismus stützt, ein eigenes Kategoriensystem (in das durchaus Begriffe der westlichen S. eingehen können) zu entwickeln; 3. hat sie das „Wesen“ des sozialen Ganzen zu erfassen. Die Gesellschaft soll als System wechselseitig aufeinander wirkender Elemente begriffen werden; 4. hat die marxistisch-leninistische S. alle Spezialsoziologien in einem einheitlichen Wissenschaftssystem zu integrieren (Integrationsfunktion); 5. hat sie die methodologischen Grundlagen für empirisch-soziologische Untersuchungen bereitzustellen (Anwendungsfunktion).

 

Diesen theoretischen Funktionen entsprechen bestimmte praktische Aufgaben. Allgemein können diese Aufgaben dahingehend definiert werden, daß die S. zusammen mit anderen Gesellschaftswissenschaften die wissenschaftlichen Grundlagen für die Planung und Leitung der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung der DDR zu schaffen hat. Im einzelnen soll sich die marxistisch-leninistische S. gegenwärtig wie auch schon in den späten 60er Jahren dementsprechend folgenden Untersuchungsgebieten zuwenden: den „sozialen und ideologischen Bedingungen und Triebkräften der Qualifizierung der Werktätigen in der wissenschaftlich-technischen Revolution“; den „sozialen Problemen der Entwicklung und Leitung der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit in der wissenschaftlich-technischen Revolution“; der „Entwicklung der Einstellung der Werktätigen zur Arbeit“; der „Entwicklung des Verhältnisses von geistiger und körperlicher Arbeit in der wissenschaftlich-technischen Revolution“; der „Veränderung der Sozialstruktur der DDR als Ergebnis des umfassenden Aufbaus des Sozialismus“. Die Begriffsbestimmung der marxistisch-leninistischen S. sowie die Festlegung ihrer Funktionen und Aufgabenbereiche zeigen deutlich, daß auch die SED sich bestimmter neuer, aus der westlichen S. entlehnter sozialwissenschaftlicher Denkformen und Methoden bedienen muß, um das komplizierter gewordene Gesellschaftssystem in der DDR, vor allem die zahlreichen durch die hohe soziale Mobilität verursachten Konflikte, überhaupt noch überschauen und analysieren zu können. Politisch-so[S. 999]ziale Planung und Kontrolle, Informationen über Einzelbereiche der Gesellschaft, Rationalisierung und Integration der auseinanderfallenden Teile des ideologischen Dogmas des Marxismus-Leninismus: alle diese Probleme sollen mit Hilfe der S. und ES. effektiver gelöst werden.

 

II. Entwicklungsgeschichte

 

 

Obwohl die marxistisch-leninistische S. als eigenständige Disziplin noch jung ist, sind bereits vor den gleichsam offiziellen Gründungsjahren (1963/64) soziologische, sozialpsychologische und sozialgeschichtliche Arbeiten in Gang gesetzt worden. Etwa seit 1954 sind Überlegungen zu einer eigenständigen marxistisch-leninistischen S., die sich vom Historischen Materialismus unterscheidet, in der DDR angestellt worden. Die zunächst besonders von Jürgen Kuczynski vertretene Konzeption spezieller soziologisch-historischer „Gesetze“, die von den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Historischen Materialismus abzuheben sind, ist nach 1963 Allgemeingut der marxistisch-leninistischen S. in der DDR geworden. Seit 1958 sind zahlreiche empirische sozialpsychologische und sozial pädagogische Arbeiten auf dem Gebiet der empirischen Jugendforschung durchgeführt worden. Bereits seit 1961 wurde die Kritik an der westlichen („bürgerlichen“) S. erheblich intensiviert. Sie erfüllte und erfüllt im Prozeß der Herausbildung einer marxistisch-leninistischen S. in der DDR verschiedene Aufgaben: Einmal wird die westliche S. als „Apologetik des Kapitalismus“ abgewertet. Im Zuge dieser abwertenden Kritik werden jedoch wesentliche Begriffe, Fragestellungen und Methoden der westlichen S. übernommen. Die Kritik hat also nicht nur Abwehr-, sondern auch Orientierungs- und Selbstverständigungsfunktion für die Soziologen in der DDR. Diese — in den letzten drei Jahren verstärkt nachweisbare — Orientierungsfunktion wird u. a. erkennbar, wenn die zweite, erweiterte Auflage des „Wörterbuches der marxistisch-leninistischen Soziologie“ (1977) mit der ersten Auflage von 1969 verglichen wird. Bereits ein Blick in das Stichwortverzeichnis zeigt, daß in der zweiten Auflage eine Fülle von soziologischen, z. T. technisch-methodischen Fachbegriffen aus der westlichen S. aufgenommen wurde, die in der ersten Auflage noch fehlten. Dazu gehören u. a. folgende Begriffe: „Ähnlichkeitskoeffizienten“, „Befragung“, „Bildungssoziologie“, „soziale Funktion“, „Entscheidung“, „Indikator“. „Informationsfluß“, „Klassifikation“, „Koordinierung“, „soziale Kontrolle“, „Macht“, „soziale Position“, „Referenzgruppe“, „taxonische Verfahren“, „Testverfahren“, „Verifikation“, „Wertfreiheit“.

 

Schließlich soll die Kritik an der westlichen S. dazu dienen, das ideologische Dogma des Marxismus-Leninismus vor „revisionistischen“ Interpretationen zu schützen (Machtsicherungsfunktion). Seit 1963/64 hat sich die S. auf zahlreichen Gebieten schnell entwickelt. Studien zu Grundproblemen der marxistisch-leninistischen S. wurden ebenso vorangetrieben wie der Ausbau einiger Spezialsoziologien: z. B. der S. der sozialen Gruppen und Schichtung, der Industrie- und Betriebs-S., der Organisations-S., der Medizin-S., der Jugend-S., der Religions-S. sowie der S. der Kultur. Kunst und Literatur. Ferner haben sich die Soziologen in der DDR seit Anfang der 70er Jahre verstärkt der ES., d. h. methodologischen und methodischen Problemen, zugewandt. Methodologisch-methodischen Fragen der S. wird auch im Rahmen des zentralen Forschungsthemas („Sozialstrukturforschung“, „Erforschung der sozialen Struktur der Arbeiterklasse“) für den Perspektivzeitraum 1976–1980 erhebliche Aufmerksamkeit gewidmet. Dies ist auf dem „2. Kongreß für marxistisch-leninistische Soziologie in der DDR“ (1974) festgelegt worden.

 

III. Zur Organisation

 

 

Seit den Jahren 1963/64 sind z. T. mehrere Lehrstühle bzw. Lektorate für S. an den Universitäten und Technischen Hochschulen der DDR geschaffen worden. Inzwischen sind an allen Universitäten und Technischen Hochschulen der DDR, z. T. auch an Ingenieur- und Fachschulen, Lehrstühle bzw. Dozenturen für S. eingerichtet worden. In Lehre und Forschung waren 1978 rd. 250–350 Soziologen in der DDR tätig (nicht eingerechnet sind dabei marxistisch-leninistische Sozialphilosophen. Vertreter des Marxismus-Leninismus sowie Sozialpsychologen, Medizinsoziologen, Sozialhygiene-Forscher und soziologisch interessierte Staats- und Wirtschaftswissenschaftler). Jedoch auch an den direkt von der SED kontrollierten Institutionen (der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, der Parteihochschule „Karl Marx“ beim ZK der SED, dem Zentralinstitut für Sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK der SED, der Hochschule für Ökonomie „Bruno Leuschner“ und der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR) ist die S. in dieser oder jener Form vertreten. Dasselbe gilt u. a. für die Akademie der Wissenschaften der DDR (AdW). An ihr ist Anfang 1978 das „Institut für Soziologie und Sozialpolitik“ (Direktor: Prof. Dr. G. Winkler) gegründet worden.

 

Gemäß den im „Zentralen Forschungsplan der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften“ ausgewiesenen „Forschungskomplexen“ und „Hauptforschungsrichtungen“ organisieren der „Wissenschaftliche Rat für Fragen der Sozialpolitik und Demographie“ sowie der „Wissenschaftliche Rat für soziologische Forschung“ bei der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED sämtliche soziologischen Forschungsvorhaben, die in der DDR für die Jahre 1976–1980 geplant worden sind. Dabei stehen im Vordergrund: Die Sozial[S. 1000]strukturforschung für die DDR-Bevölkerung, insbesondere die Erforschung der „Entwicklung der Arbeiterklasse, ihres Charakters und ihrer Struktur“; die Analyse der „Entwicklung der Klasse der Genossenschaftsbauern im Zusammenhang mit der weiteren Ausprägung der materiell-technischen Basis und der sozialistischen Produktionsverhältnisse auf dem Lande“; die Erforschung der sozialen „Bedingungen und Hauptrichtungen der Annäherung der Klasse der Genossenschaftsbauern, der sozialistischen Intelligenz und anderer sozialer Schichten an die Arbeiterklasse“. Ferner gehören zu den zentral gesteuerten Hauptforschungsrichtungen: Probleme der „theoretischen Grundfragen der Sozialpolitik im Sozialismus“; der „Einfluß der Sozialpolitik auf die Entwicklung der Klassen- und Bevölkerungsstruktur sowie der sozialistischen Lebensweise, insbesondere Probleme der Befriedigung der Bedürfnisse der Werktätigen und der Planung sozialer Prozesse“; „Analyse spezifischer Bedürfnisse der Familie, der werktätigen Frauen, der Jugendlichen sowie der älteren Bürger“ (vgl. Einheit, 30. Jg., H. 9/1975, S. 1042 ff., hier bes. S. 1058 f.).

 

Neben den obengenannten Formen der Institutionalisierung sind „soziologische Labors“ in einer Reihe von Großbetrieben, Kombinaten und VVB eingerichtet worden. Hier arbeiten Wissenschaftler, Wirtschaftsfunktionäre und „Arbeiterforscher“ z. T. in Kooperation mit soziologischen Instituten in nahe gelegenen wissenschaftlichen Einrichtungen an Industrie- und betriebssoziologischen Fragestellungen.

 

Im Jahre 1961 wurde unter Vorsitz von Prof. Dr. H. Scheier eine „Sektion Soziologie bei der Vereinigung Philosophischer Institutionen der DDR“ gegründet. Der 1965 geschaffene „Wissenschaftliche Rat und Nationalkomitee für Soziologische Forschung an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED“ (Vorsitzender seit 1971: Prof. Dr. R. Weidig) nimmt vor allem folgende Aufgaben wahr: Förderung und Ausbau des S.-Studiums an Universitäten, Hochschulen, Fachhoch- und Fachschulen; Ausarbeitung eines Programms zur Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses; Abstimmung der Forschungsprogramme der einzelnen Institutionen; Organisation und Vorbereitung von Konferenzen; Organisierung der internationalen Zusammenarbeit und des Erfahrungsaustausches mit Soziologen in Ost und West. Die Sektion S. wurde im Jahre 1963 als „nationale Vertretung der Soziologen in der DDR“ in die International Sociological Association (ISA) aufgenommen. Schon am IV. ISA-Weltkongreß in Mailand und Stresa (1959) nahmen Soziologen aus der DDR teil, seit dem VI. Weltkongreß (Evian, 1967) besuchten sie diese ISA-Großveranstaltung regelmäßig. Die ca. 20 Beiträge, die anläßlich des VI. Weltkongresses in dem Sammelband „Soziologie und Wirklichkeit“ veröffentlicht wurden, spiegeln die Vielfalt der soziologischen Diskussion in der DDR wider. Neben dem Verhältnis von Sozialismus und S. sowie von Philosophie bzw. Ökonomie und S. werden die sozialen Konsequenzen des technischen Fortschritts und der „wissenschaftlich-technischen Revolution“ thematisiert; neben rechts- und militärsoziologischen Studien stehen jugend- und familiensoziologische, schul-, bildungs-, kultur-, arbeits- und betriebssoziologische sowie agrarsoziologische Untersuchungen. Eine Reihe recht interessanter medizin- und sportsoziologischer Analysen runden das Bild ab. Noch stärker traten Soziologen aus der DDR auf dem VII. Weltkongreß für S. in Varna (Bulgarien, 1970) hervor. Auch diesmal beeindruckte die Breite der in der DDR geführten Diskussion und der dort in Angriff genommenen Forschungen. An dem VIII. ISA-Weltkongreß (Toronto, 1974) nahm eine 12köpfige Soziologendelegation aus der DDR unter der Leitung von R. Weidig. an dem IX. ISA-Weltkongreß (Uppsala, 1978) eine 10köpfige Soziologendelegation aus der DDR unter der Leitung von H. Taubert teil.

 

In der DDR haben bisher zwei nationale soziologische Kongresse stattgefunden (1969, 1974). Besonders zum bzw. nach dem „2. Kongreß für marxistisch-leninistische Soziologie in der DDR“ wurde eine Reihe einschlägiger Arbeiten publiziert. Dazu gehören: „Lebensweise, Kultur, Persönlichkeit. Materialien vom 2. Kongreß der marxistisch-leninistischen Soziologie in der DDR“, Berlin (Ost) 1975; „Soziologische Probleme der Klassenentwicklung in der DDR“. Berlin (Ost) 1975; „Aktivität. Schöpfertum, Leitung und Planung“, Berlin (Ost) 1975. Eine eigene soziologische Fachzeitschrift existiert in der DDR bisher nach wie vor nicht. Soziologische Abhandlungen erscheinen vor allem in der „Einheit“, der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“ und der „Wirtschaftswissenschaft“. Seit Mitte der 60er Jahre gibt es eine Schriftenreihe „Soziologie“, die vom Wissenschaftlichen Rat für Soziologische Forschung am IfG betreut wird. Bis Ende 1978 sind in dieser Schriftenreihe rd. 20 Bände, überwiegend zu Fragen der Arbeits-, Industrie- und Betriebssoziologie, zur Analyse der Sozialstruktur in der DDR und zur Rolle der Arbeiterklasse sowie zur Methodologie und Methodik der S. erschienen. Gelegentlich sind soziologische Studien in der Taschenbuchreihe „Unser Weltbild“ sowie u. a. in der „Wissenschaftlichen Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin“ (Ost) zu finden. Neuerdings (seit etwa 1974) erscheinen soziologische Arbeiten auch als größer angelegte Monographien außerhalb von Schriftenreihen.

 

IV. Spezialsoziologien

 

 

Auch in der DDR existiert indessen, im Zuge der Ausdifferenzierung der S., eine Reihe von Spezial-S. [S. 1001]Nicht alle diese Spezial-S., sondern lediglich eine Auswahl kann im folgenden berücksichtigt werden.

 

A. Soziologie der Gruppen und der sozialen Schichtung; Sozialstrukturforschung

 

 

In enger Verbindung mit der Sozialpsychologie sowie der Arbeits- und Berufspsychologie versucht die Gruppen-S., Gesetzmäßigkeiten des Zusammenhanges zwischen der sozialökonomischen Klassen- und Schichtstruktur der Gesellschaft sowie der Beschäftigten-, Berufs- und Bildungsstruktur herauszuarbeiten. Die soziale Gruppe wird dabei als Grundelement der einzelnen Strukturen und Organisationen angesehen. Auch die marxistisch-leninistischen Soziologen gehen davon aus, daß Gruppen durch bestimmte Verhaltensweisen zu charakterisieren sind. Im einzelnen werden formelle und informelle Gruppen unterschieden (vgl. unten Industrie- und Betriebs-S.). Die marxistisch-leninistische Gruppen- in Verbindung mit der Schichtungsanalyse betrachtet allerdings soziale Gruppen unter dem Gesichtspunkt ihrer gesamtgesellschaftlichen Wirksamkeit, nicht so sehr als Einheiten in Einzelbereichen von Wirtschaft und Gesellschaft.

 

Nach wie vor stehen zwei Spezialaspekte im Vordergrund des Interesses: einmal das Gesamtsystem der Leitbilder und Normen der verschiedenen sozialen Gruppen in der Gesellschaft; zum anderen die Fluktuation von Arbeitskräften. Letztere wird nicht nur unter dem Aspekt eines Industriebetriebes oder -Zweiges gesehen, sondern vor allem hinsichtlich der durch sie bedingten Probleme der sozialen Mobilität. Diese Probleme betreffen die Gesellschaft als Ganzes und weisen weit über Einzelprobleme der „industriezweigbestimmten“ Produktion hinaus.

 

Die Sozialstrukturforschung in der DDR konzentriert sich seit etwa 1974 auf drei Bereiche: einmal auf die z. T. empirisch vorgenommenen Analysen der „Strukturentwicklung der Arbeiterklasse“ nicht mehr nur in einigen ausgewählten Betrieben, sondern im gesamten Feld der „sozialistischen Großindustrie“ sowie der Mittel- und Kleinbetriebe; zweitens auf die Herausarbeitung von Typen formaler und informeller sozialer Strukturen in der DDR-Gesellschaft, wobei auch hier die Erforschung von Verhaltensweisen der Arbeiter im Vordergrund steht, dieses Mal jedoch die Analyse ihres „geistig-ideologischen Profils“. Drittens werden sowohl die Unterschiede zwischen Arbeitern und Angehörigen der Intelligenz wie auch sich aufgrund „gleicher Grundinteressen“ vermeintlich oder wirklich herausbildende Ähnlichkeiten zwischen diesen Klassen und Schichten thematisiert. Damit verbunden ist der Versuch einer soziologischen Standortbestimmung der verschiedenen Gruppen der Intelligenz in der DDR-Gesellschaft.

 

Die politisch-ideologischen Aspekte der der Sozialstrukturforschung zugrunde liegenden Annahmen sind deutlich: Es wird von einer ständig fortschreitenden Egalisierung, einer ständigen Annäherung der Klassen und Schichten in der DDR-Gesellschaft bei gleichzeitiger „Höherentwicklung“ der Arbeiterklasse ausgegangen. Politisch-ideologisch orientiert ist die Sozialstrukturforschung auch insofern, als der u. a. von dem britischen Soziologen T. Bottomore vorgetragenen These vom Anwachsen der sozialen Ungleichheit in sozialistischen Gesellschaften einerseits, der Pluralisierung und Nivellierung der Sozialstruktur in den westlich-kapitalistischen Gesellschaften andererseits wirksam entgegengetreten werden soll.

 

In der marxistisch-leninistischen S. in der DDR wird angenommen, daß eine sinnvoll durchgeführte Sozialstrukturforschung zwar die Prozesse der Wissenschaftlich-technischen Revolution und die sich daraus ergebenden Erscheinungen, den sozialen Wandel, zur Kenntnis zu nehmen hat. daß eine empirisch vorgehende Sozialstrukturanalyse jedoch stets von der marxistisch-leninistischen Lehre von den Klassen auszugehen habe. Die bekannteren Soziologen, die sich in der DDR mit der Untersuchung der Sozialstruktur bzw. der Arbeiterklasse als dem wichtigsten Teilgebiet der Sozialstrukturforschung beschäftigen, sind R. Weidig, M. Lötsch, S. Grundmann, H. G. Meyer und H. Taubert.

 

B. Industrie- und Betriebssoziologie (IBS)

 

 

In enger Verbindung mit der S. der Gruppe und der sozialen Schichtung steht die IBS. Ihr Arbeitsfeld sind die einzelnen Industriebetriebe, Produktionszweige, die Landwirtschaftsbetriebe sowie die Gesamtindustrie als Teilsystem der Gesellschaft. Wie alle Spezialsoziologien in der DDR ist auch die IBS von bestimmten Axiomen des Historischen Materialismus abhängig. Es gehört zu den Grundaxiomen der IBS, daß sich wesentlich in den Industriebetrieben die ideologischen Prozesse des Wachstums der Arbeiterklasse wie die „Entwicklung ihrer politischen Organisiertheit“ vollziehen. Weiterhin ist vor allem ihr „Praxis“-Bezug, ihre „produktive Funktion“, hervorzuheben. Auch die IBS arbeitet mit dem Konzept der formellen und informellen Gruppen im Betrieb. Formelle Gruppen sind, nach K. Braunreuther, einem lange Jahre führenden Industrie- und Betriebssoziologen, Gruppen, „die dem Betriebszweck dienen“, und zwar als „rechtlich oder traditionell legitimierte und dann gesellschaftlich anerkannte Einheiten“. Als Beispiele werden Neuerergruppen, jedoch auch Gruppen der SED, des FDGB, der FDJ sowie anderer Massenorganisationen im Betrieb herangezogen. Von den formellen werden informelle Gruppen unterschieden, deren Einfluß auf das Produktionsziel des Betriebes positiv, negativ oder ambivalent sein kann und von der IBS zu erfassen gesucht wird.

 

Die marxistisch-leninistische IBS wendet den Grup[S. 1002]pen im Betrieb besonders deshalb Aufmerksamkeit zu, weil sie die Grundeinheiten des Kommunikationsnetzes eines Betriebes darstellen und weil sich in ihnen Entscheidungen vollziehen. Die IBS untersucht ferner: soziale Verhaltensweisen sowie soziale Rollen und Positionen einzelner und von Gruppen; das Betriebsklima; die Fluktuation und Disponibilität von Arbeitskräften; das Verhältnis zwischen älteren und jüngeren Arbeitern und Funktionären; die Autoritätsstruktur im Betrieb; die Motive menschlichen Handelns; die „Arbeitsfreude“; Rationalisierungsprobleme.

 

Neuerlich wird dem Zusammenhang der Verhaltensweisen von Arbeitskollektiven im Betrieb mit technisch-organisatorischen Fragen, die vor allem durch die wissenschaftlich-technische Revolution bedingt sind, erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt. Weiterhin geht man in der IBS davon aus, daß sie mitwirken kann, wissenschaftlich abgesicherte Annahmen für eine effektive Leitung und Kontrolle sozialer und gruppendynamischer Prozesse in den Betriebskollektiven zu erarbeiten.

 

Der Aufgabenbereich der IBS geht allerdings über diese Forschungsbereiche noch hinaus: Die Auswirkungen der sozialen Verhältnisse und der Beziehungen der Menschen im Betrieb auf das Zusammenleben in den Wohngebieten, auf die Freizeitgestaltung usw. werden z. T. ebenfalls mitberücksichtigt.

 

Es ist nicht zu übersehen, daß die IBS in der DDR zur wichtigsten Einzeldisziplin unter den Spezialsoziologien geworden ist. Dies gilt um so mehr, als arbeitspsychologische und sozialpsychologische Fragestellungen in die IBS eingegangen sind und als ein legitimer Bestandteil dieses Forschungszweiges angesehen werden. Der arbeitspsychologische und sozialpolitische Einschlag ist besonders deutlich an folgenden Themen, die im Rahmen empirischer Untersuchungen auf dem Gebiet der IBS gegenwärtig eine große Rolle spielen, zu erkennen: Arbeitsplatzmerkmale, Erleichterung der Arbeit, Arbeitszufriedenheit, Arbeitsfreude, Arbeitszeitprobleme, Bedingungen des Arbeitsschutzes u. a. m. (Psychologie; Arbeitspsychologie; Sozialpsychologie).

 

C. Agrarsoziologie (AS)

 

 

Die AS analysiert die ideologisch-politischen, kulturellen und sozialen Verhältnisse in der Landwirtschaft im allgemeinen, im sozialistischen Dorf insbesondere. Wie andere Teilsoziologien hat auch die AS die Aufgabe der Analyse der Verhaltensweisen, der sozialistischen ➝Lebensweise und Lebensformen sowie des Wandels der Organisationsformen der (landwirtschaftlichen) Produktion. Dabei wird, entsprechend den Lehrsätzen von Marx bzw. des Historischen Materialismus von der gesetzmäßigen Annäherung der beiden Grundklassen, Arbeiter und Bauern, und der immer stärkeren Überwindung der Unterschiede zwischen Stadt und Land ausgegangen. Den vielfältigen soziologischen und sozialpsychologischen Problemen bei den für die DDR angenommenen Verflechtungen im Zuge der sich herausbildenden „Agrar- und Industriekomplexe“ widmet man erhöhtes Interesse. Großer Wert wird dabei, jedenfalls programmatisch, auf die enge Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen, so z. B. der Agrargeschichte, der Agrarökonomie, der Medizin sowie der Sozialpsychologie gelegt. Das immer erneut betonte Ziel der marxistisch-leninistischen AS ist es, den Prozeß einer industrieähnlichen Produktion in der Landwirtschaft und besonders in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) nicht nur zu erklären, sondern aktiv mitzugestalten. Dabei geht man in der AS-Forschung von dem Grunddatum aus, daß gegenwärtig etwa 25 v. H. der Bevölkerung der DDR in ländlichen Gemeinden mit unter 2.000 Einwohnern wohnen. Schließlich werden Probleme des sozialen Wandels und der Mobilität auf dem Lande untersucht: Wie beeinflußt der Wandel der Beschäftigtenstruktur die sozialstrukturelle Zusammensetzung einerseits, den Wandel der sozialen Funktionen der Produktionsgenossenschaften andererseits? (Landwirtschaftliche Betriebsformen.)

 

Schwerpunkte der Forschung liegen bei einer Reihe von Mitgliedern des „Problemrats“ für „Soziologische Probleme der Entwicklung der Klasse der Genossenschaftsbauern und der sozialistischen Lebensweise auf dem Dorf“, beim „Wissenschaftlichen Rat für soziologische Forschung in der DDR“ (vor allem H. Krambach, J. Müller, S. Voge); weiterhin beim Lehrstuhl für marxistisch-leninistische Soziologie an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. Mit einer Reihe von Forschungsergebnissen ist die marxistisch-leninistische AS der DDR inzwischen auch auf internationalen Kongressen, so kürzlich auf dem IX. Weltkongreß der ISA in Uppsala (August 1978) hervorgetreten.

 

D. Zur Soziologie der Innovation und Partizipation (SIP)

 

 

Im Zuge der verstärkten Betonung des sog. „subjektiven Faktors“ im Historischen Materialismus sowie der Bemühungen, angemessene Theorien für die Persönlichkeit im Sozialismus sowie für die Sozialistische ➝Demokratie zu entwickeln, hat sich in der DDR seit 1975 eine Forschungsrichtung zu entwickeln begonnen, die als S. der Innovation und Partizipation bezeichnet werden könnte. Dabei ist allerdings zu betonen, daß die Begriffe „Innovation“ und „Partizipation“ in der DDR-S. selbst nicht, jedenfalls nicht im vorliegenden Zusammenhang verwandt werden. Statt dessen spricht man vom „Schöpfertum“, insbesondere vom „Schöpfertum der Arbeiterklasse im Betrieb“. In den letzten Jah[S. 1003]ren sind in der DDR in verstärktem Maße empirische Untersuchungen in Industriebetrieben durchgeführt worden, um das Innovationspotential aller im Betrieb beschäftigten sozialen Gruppen, einschließlich der Intelligenz ebenso erfassen wie stimulieren zu können. Insbesondere werden dabei Neuerer und Produktionsarbeiter befragt. Weiterhin interessieren schöpferische Leistungen unter den Bedingungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit vor allem zwischen Produktionsarbeitern und Angehörigen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz im Betrieb.

 

Die SIP hat daneben die Funktion, sich mit soziologischen Theorieentwürfen (D. Bell) und Sozialphilosophien des Westens (H. Marcuse) kritisch auseinanderzusetzen. Die einschlägige Literatur des Westens wird dabei wesentlich unter einem ganz bestimmten Aspekt gesehen: der angeblichen „Verneinung der schöpferischen Tätigkeit der Arbeiterklasse“ in der modernen Industriegesellschaft.

 

E. Organisationssoziologie (OS)

 

 

In den letzten Jahren hat sich neben der Gruppen-S. und der IBS und von beiden stark beeinflußt eine neue spezielle S. herausgebildet, der von Soziologen, Ökonomen, Rechtswissenschaftlern und Psychologen starke Beachtung gezollt wird: die „soziologische Organisationsanalyse“. Die OS steht in enger Verbindung mit der kybernetischen Systemtheorie und der Organisationswissenschaft, wie sie im Westen bereits wesentlich früher entwickelt worden sind. Darauf weisen bereits die Begriffe „System“. „Entscheidung“, „Information“, „Kommunikation“ usw. hin, die in der marxistisch-leninistischen OS eine immer größere Rolle spielen.

 

Obwohl der Begriff „Organisation“ bisher nicht klar definiert worden ist, wird er doch in theoretischen und empirischen Untersuchungen vielfach verwendet. Besonders in Industriebetrieben sind Organisationsformen der verschiedensten Art untersucht worden: Arbeitsgruppen, Werkabteilungen, ganze Betriebe. Die OS beschäftigt sich im einzelnen vor allem mit folgenden Fragen: wie sich die Ziele der Organisation in den Vorstellungen der Mitglieder einer formellen oder informellen Gruppe darstellen; wie Information und Kommunikation in Organisationen tatsächlich funktionieren; wie sich die offizielle Leitungspyramide in einem Organisationssystem von der „Autoritätspyramide“ unterscheidet; wie schließlich die sozialen Positionen der einzelnen Mitglieder einer Gruppe bestimmt werden. Zentrum der marxistisch-leninistischen OS ist Berlin (Ost), einerseits die Humboldt-Universität, weiterhin auch verschiedene Institute an der Akademie der Wissenschaften der DDR, schließlich das Zentralinstitut für Sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK der SED und die Hochschule für Ökonomie.

 

F. Jugendsoziologie (JS)

 

 

Die JS (auch pädagogisch-psychologische Jugendforschung oder marxistische Jugendforschung genannt) soll in erster Linie der heranwachsenden Generation helfen, „in dem Ringen zwischen der neuen und der alten Welt die Fronten zu erkennen“. Auch in der JS ist damit der praktisch-politische Bezug stark ausgeprägt. Sie soll — nach Aussage der führenden Jugendpsychologen Walter Friedrich und Adolf Kossakowski — Wege aufzeigen, die zur Veränderung der Lebenslage und des Bewußtseins der Jugendlichen im Sinne der gesellschaftspolitischen Ziele der SED beitragen.

 

Die marxistisch-leninistische JS geht von drei Voraussetzungen aus: Sie betrachtet einmal den Jugendlichen als „Produkt seiner Wechselwirkung mit der Umwelt“; sie bezieht sich auf „jugendspezifische Verhaltensweisen“, wie sie sich aus der „Zwischenlage“ der Jugendlichen ergeben; sie analysiert die komplexen Umweltbedingungen, denen der Jugendliche ausgesetzt ist.

 

Entsprechend dieser Aufgabenstellung und diesen Voraussetzungen sind die zahlreichen empirischen jugendsoziologischen und -psychologischen Untersuchungen ausgerichtet. Im einzelnen werden vor allem folgende Themen behandelt: Jugend und Elternhaus (Einflüsse des Elternhauses, Verhältnis der Jugendlichen zu ihren Eltern, Sexualerziehung, Verhältnis zum anderen Geschlecht); Jugend und (Berufs-)Schule/Universität (Lernhaltung, Lernmotivation, Leistungsverhalten, Leistungsversagen, die Lehrerpersönlichkeit in der Sicht des Schülers, Einstellung der Schüler zum Unterrichtstag in der Produktion [UTP], Einflüsse des UTP, sozialistische Arbeitsmoral, Kollektiverziehung); Jugend und Beruf (Probleme der Berufswahl, Einstellung zu verschiedenen Berufen, Berufswünsche, Qualifizierungsprobleme); gesellschaftliche (ideologische) Orientierung der Jugendlichen (Interessen, Zukunftspläne, Vorbilder, Perspektiv- und Idealerleben, Lebensideologie); Jugend und Freizeit (Freizeitgestaltung, Freizeitwünsche, Jugend und FDJ/Pioniere, Kollektiverziehung im Rahmen der Jugendorganisation).

 

Zentrum der marxistisch-leninistischen JS und der pädagogisch-psychologischen Jugendforschung ist Leipzig. Jugend.

 

G. Bildungssoziologie (BS)

 

 

In der DDR geht man seit 1972/73 davon aus, daß sich aus der Zusammenarbeit von marxistisch-leninistischer S. einerseits, der Pädagogik und der Bildungspsychologie andererseits eine neue Disziplin, die S. des Bildungswesens oder BS, herausgebildet hat. In diesem Sinne wird der BS sowohl eine allgemeine wie auch eine theoretisch-methodologische Integrationsfunktion zugewiesen. Die BS hat es in der DDR mit einem der nach Ausdehnung und Wir[S. 1004]kung wichtigsten Subsysteme der Gesellschaft zu tun. Untersuchungsgegenstand der BS ist denn auch die soziale Organisation des Bildungswesens, seine sozialen Träger bzw. sozialen Strukturen, deren Entwicklungsbedingungen, Wandel und Einwirkungsmöglichkeiten auf Erziehung und Bildung im allgemeinen, auf die Stärkung des Sozialistischen Bewußtseins im besonderen. Um diese selbstgestellten Aufgaben erfüllen zu können, sind Begriffe wie „Erziehung“, „Bildung“, „Persönlichkeit“, Sozialisation“, „Vergesellschaftung“ u. a. m. vorab theoretisch im spezifischen Verständnis der marxistisch-leninistischen BS zu klären. Diese Arbeit steht bisher erst am Anfang. „Erziehung“ etwa wird in der BS zunächst allgemein als „Moment in der Totalität gesellschaftlicher Praxis“ bestimmt; „Erziehung“ wird damit nicht nur als eine bestimmte Weise sozialen Verhaltens angesehen, sondern stets auch als „soziales Verhältnis“, das seinerseits strukturell-funktional wie auch historisch beschrieben werden kann. Der Begriff der „Erziehung“ wird als Oberbegriff für Bildung wie für alle pädagogischen Einzelmaßnahmen verwendet. Weiterhin wird in der BS der DDR versucht, bestimmte Funktionen des Bildungssystems zu isolieren; dabei wird meistens zwischen der sozio-ökonomischen, der politischen und der kulturellen bzw. der ideologischen Funktion unterschieden. Erziehungs- ebenso wie Organisationsziele sind ihrem Wesen nach dynamisch; deshalb muß sich die BS immer wieder den veränderten Bedingungen der Praxis anpassen.

 

Wie auch in anderen Teil-S. setzt sich auch die BS in der DDR intensiv mit einschlägigen Arbeiten aus der westlichen Literatur auseinander. Dazu gehören Schriften von R. Dahrendorf, E. Dürkheim, P. R. Hofstätter, G. C. Homans, J. P. Kob. R. König, T. M. Newcomb, T. Parsons, Th. Scharmann. Führende Vertreter der BS bzw. der sozialpsychologisch orientierten Pädagogik sind in der DDR u. a.: A. Meier sowie W. Hennig, A. Kossakowski, H. Krüger, K. Meyer, G. Neuner, M. Vorweg. Bildungssoziologische Untersuchungen werden vor allem in Berlin (Ost), Leipzig und Rostock durchgeführt. Einheitliches sozialistisches Bildungssystem; Pädagogische Wissenschaft und Forschung.

 

H. Religionssoziologie (RS)

 

 

Die marxistisch-leninistische RS hat sich zusammen mit den Versuchen, eine allgemeine marxistische Kultur-S. zu begründen, entwickelt. Sie hat nicht nur den sozialen Ursachen der Religion in sozialistischen Gesellschaftssystemen nachzugehen, sondern auch speziellere Fragen zu untersuchen: Kann die Religion als isolierte Erscheinung oder muß sie im Zusammenhang mit dem politischen Denken und Handeln im allgemeinen, mit anderen Bewußtseinsformen im besonderen begriffen werden? Auch die „religiöse Intensität“ verschiedener sozialer Gruppen und Schichten (der Jugend, der Intelligenz, der Bauern, der Invaliden und Rentner) soll von der RS empirisch analysiert werden. Schließlich ist die These, daß die Religion ein Produkt der „Entfremdung“ des Menschen ist und sich erst in der Reflexion der sozialen Differenzierung bei Verschwinden der Urgemeinschaft aus der Mythologie gebildet hat, ein häufig diskutiertes Thema: „Dadurch, daß sie die Zusammenhänge von Religion und Gesellschaft in ihrer Totalität, auch in ihren allgemeinsten und wesentlichsten Aspekten, erfaßt, wird RS in der vollen Bedeutung des Wortes möglich. Sie studiert die religiösen Phänomene im gesetzmäßigen, materiellen Bedingungen entspringenden Prozeß ihres Entstehens, Wandels und Vergehens. Die allgemeinste Bedingung dieses Prozesses ist die unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen auftretende Entfremdung des Menschen gegenüber den Gesetzmäßigkeiten und Resultaten seines Tuns. Die religiöse Verhaltens- und Bewußtseinsform reproduziert ideell und institutionalisiert die wirkliche Entfremdung, der sie entspringt. Sie stützt dadurch in der Klassengesellschaft die Macht der Herrschenden; ihre Verankerung in den Volksmassen schließt jedoch auch die Möglichkeit ein, religiöse Ideale im Sinne progressiver Veränderungen zu aktualisieren. Dieser Doppelaspekt religiöser Ideologie verlangt die exakte Analyse der sozialen Motive religiöser Ideen, Bewegungen und Auseinandersetzungen, die Berücksichtigung ihrer Verquickung mit der Sozial-, politischen und Geistesgeschichte.“ Neben den so skizzierten Aufgaben obliegt es der marxistisch-leninistischen RS, vor allem die „theologisierenden Tendenzen der bürgerlichen Religionssoziologie“ zurückzuweisen und ihre Funktion im System des staatsmonopolistischen Kapitalismus zu enthüllen. Zentrum der RS in der DDR ist Leipzig. Hauptvertreter der marxistisch-leninistischen RS ist O. Klohr.

 

I. Kultur-, Literatur- und Kunstsoziologie

 

 

Nach bedeutenden frühen Ansätzen besonders der marxistischen Literatur-S. (Georg Lukács) ist eine intensive Diskussion um Gegenstand, Fragestellungen, Begriffe und Methoden einer marxistisch-leninistischen Kultur-, Literatur- und Kunst-S. in der DDR erst in den Jahren 1966/67 in Gang gekommen. Die Auseinandersetzungen sind noch dadurch erschwert worden, daß zum Gegenstand einer marxistischen Kultur-S. stets auch Kulturgeschichte und Ästhetik gezählt werden. Die „kritische Aneignung des kulturgeschichtlich bedeutsamen Erbes“, die Diskussionen um den Begriff des Realismus, der abstrakte, konzeptionslose Universalismus der marxistisch-leninistischen Kulturdeutung haben die Herausbildung einer eigenen Kultur-S. eher belastet als befruchtet.

 

Die Kultur-S. in der DDR geht davon aus, daß sich mit der fortschreitenden sozialen Integration der [S. 1005]Künste in die Gesellschaft die Position des Künstlers ebenso verändert hat wie die Stellung von Kultur und Kunst. Kultur und Kunst sind heute einer Masse von Konsumenten ausgeliefert. Sie werden deshalb als allgemeine ideologie- und persönlichkeitsbildende Faktoren angesehen. Eine nur immanente Analyse des Kunstwerks wird aus diesem Grund als esoterisch abgelehnt. Es wird vielmehr davon ausgegangen, daß die Massen im Kunstwerk unbefangen den Ausdruck ihrer eigenen Lebenssituation suchen. Allerdings soll damit die ästhetische Wertung der Kunst nicht aufgehoben werden. Auch in der DDR müssen Kunstwerke als „schön“, „häßlich“, „tragisch“ usw. bezeichnet werden können. Die soziologische Analyse im engeren Sinne soll die Ursachen für das Abweichen des Urteils bestimmter sozialer Gruppen von der ästhetischen Norm herausarbeiten. Die ästhetische Analyse des Kunstwerks soll deshalb mit der soziologischen Zusammengehen. Unter der Voraussetzung, daß die ästhetischen Grundprobleme aus der „Dialektik der materiellen Arbeitsprozesse“ zu erklären sind und daß deshalb die Produktionsweise einer Gesellschaft als übergreifender Bezugspunkt für kultur- und kunstsoziologische Untersuchungen zu gelten hat, werden folgende soziologische Komponenten am Kunstwerk untersucht: Kunstwerke fördern ein bestimmtes National-, Klassen- und Gruppenbewußtsein ebenso, wie sie die Anschauungen und Interessen sozialer Gruppen und Schichten widerspiegeln. Sie formen Leitbilder, die die Verhaltensstruktur des einzelnen und von Gruppen beeinflussen. Sie fördern schöpferische Antriebe. Sie sind Mittel der Sozialisation, d. h., sie vermitteln die Möglichkeit, neue „Rollenerfahrungen“ zu übernehmen. Schließlich werden Kultur. Kunst und Literatur als „Freizeitfaktoren“ untersucht.

 

Neben der kultur- und kunstsoziologischen Analyse steht, besonders im literarischen Bereich, die soziologische „Wirkungsforschung“. Sie hat u. a. folgende Komponenten der „literarischen Wirkung“ zum Gegenstand: die konkrete Situation, in der ein sprachliches Kunstwerk zur Wirkung gelangt; die sozialen Gruppen, die ein Buch vorzugsweise lesen, und jene Gruppen, die es eindeutig ablehnen; die Reaktionen der öffentlichen Literaturkritik; Motive, Gestalten, Bilder, Symbole u. a. dieses Werkes, die häufig zitiert und verwendet werden; den Einfluß, den das Buch auf die zeitgenössische Literatur hat, erkennbare Nachahmungen und Nachfolgen; das soziale Ansehen und den Ruf, den das Buch erlangt, differenziert nach verschiedenen Lesergruppen; die Rückwirkungen, die die Publikation eines Werkes auf das literarische Prestige seines Autors hat (Ästhetik; Kulturpolitik; Literatur und Literaturpolitik).

 

J. Wehr- und Militärsoziologie (WMS)

 

 

Auch der WMS wird im neueren soziologischen Schrifttum, d. h. seit Mitte der 70er Jahre, größere Aufmerksamkeit geschenkt. Wie alle anderen „Bindestrich“-S. wird auch die WMS zunächst als Teilgebiet der marxistisch-leninistischen S. bestimmt. Programmatisch sollen alle soziologisch wesentlichen Daten und Probleme der Verteidigung der DDR in der WMS behandelt werden. Dabei handelt es sich einmal vor allein um die Beobachtung des Verhaltens und der ideologischen Einstellung von Soldaten und Offizieren, zum anderen um die organisationssoziologische Analyse der Zusammenhänge von militärtechnologischen, logistischen und ökonomischen Faktoren. Fragen der „Weiterqualifizierung“ von Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren im ideologisch-politischen Bereich stehen für die WMS wie auch für die Wehrpsychologie (Psychologie) im Mittelpunkt ihres Untersuchungsgegenstandes. Die immer wieder neu sowohl zu stimulierende wie zu kontrollierende bedingungslose Anerkennung der führenden Rolle der SED durch die NVA-Angehörigen auch in allen militärischen, militärtechnologischen und militärsoziologischen Fragen wird als ausdrückliches Ziel der WMS angesehen. Insofern kommt ihr bei der „sozialistischen Bewußtseinsbildung“ der Angehörigen aller Teilstreitkräfte eine wesentliche Funktion zu. Sozialistisches Bewußtsein.

 

K. Medizin- und Sportsoziologie (MSS)

 

 

Die MS hat sich in der DDR aus der Disziplin der Sozialhygiene entwickelt. Die Abgrenzung der MS von der Sozialhygiene ist auch nach wie vor nicht klar. Gegenstand der MS sind u. a. Familien- und Sexual-S., Alters-S., soziale Indikation, Säuglingsmortalität, Gesundheitszustand von Arbeitern, insbesondere jugendlichen Arbeitern und soziale Herkunft und ganz allgemein: Krankenstand und soziale Lage der Kranken. Ausgesprochenes Ziel der MS ist es, den Gesundheits- und Leistungszustand, Gesundheitsvorsorge und Gesundheitsschutz der (arbeitenden) Bevölkerung in der DDR zu verbessern. Neben solchen Aufgaben untersucht die MS u. a. auch die Medizin als Institution, die Organisation des Gesundheitswesens sowie das Verhältnis Arzt: Patient. Ein wichtiger Bereich der MS ist die Militärmedizin. Militärmedizinische Zentren der MS in der DDR sind vor allem: Berlin (Ost), Greifswald und Leipzig. Die SS ist in der DDR wesentlich angewandte Sportwissenschaft, die der Sportpädagogik und Sportpraxis unmittelbar zuarbeitet. Seit Ende 1961 wurden sportsoziologische Probleme mehr und mehr thematisiert; im Jahre 1963 wurde an der Deutschen Hochschule für Körperkultur eine „Abteilung für philosophische und soziologische Grundlagen der Körperkultur“ eingerichtet. Sie wurde im Jahre 1966 zum „Institut für Theorie, Soziologie und Organisation der Körperkultur“ ausgebaut. Nach D. Voigt („Soziologie in der DDR“, Köln 1975, [S. 1006]S. 26 ff.) lagen in der DDR bis 1974 rd. 475 sportsoziologisch einschlägige Arbeiten vor. Diese reichen von Grundsatzarbeiten zur SS über Arbeiten, die sich mit Sport und Gesundheit, Sport in der Schule, Sport und Gesellschaft befassen, bis zur militärsportlichen bzw. militärsoziologischen Analyse (Sport).

 

V. Methodologie, Methoden und Techniken der Empirischen Sozialforschung

 

 

Alle methodologischen Überlegungen gehen immer wieder von dem marxistischen Axiom der „Einheit“ von Theorie und Empirie bei sozialen Untersuchungen aus (vgl. o.). Entsprechend wird die Frage der Werturteilsfreiheit in der marxistisch-leninistischen S. im Sinne von Marx beantwortet: Es ist die Klasse, die die entscheidenden Werte und Normen setzt, nicht das einzelne Individuum. Wertungen, Werturteile sind stets nur Widerspiegelungen des Seins der Klassen im Gesellschaftsprozeß. M. Webers und — in seiner Nachfolge — H. Alberts Forderungen nach Wertfreiheit werden abgelehnt wie alle anderen dem Positivismus zugerechneten Erkenntnistheorien. Von solchen Vorstellungen ausgehend wird als das wichtigste methodologische Prinzip für die Werturteilsproblematik im Rahmen der marxistisch-leninistischen S. die „Einheit von sozialistischer Parteilichkeit und Objektivität“ hervorgehoben. Als zweites methodologisches Prinzip wird die Forderung bezeichnet, stets „dialektisch“ an die Bewertung sozialer Prozesse heranzugehen. Mit dem Wort „dialektisch“ soll dabei auf die Einbettung aller sozialer Einzelerscheinungen in eine gesellschaftliche Totalität hingewiesen werden. Wenn, nach Auffassung der marxistisch-leninistischen S., Interessen und Bedürfnisse mit der objektiven Möglichkeit übereinstimmen, wenn damit diese Kriterien die objektive Realität „richtig“ abbilden, dann üben sie die Funktion „objektiver Bewertungskriterien“ aus. Solche objektiven Bewertungskriterien gibt es in der marxistisch-leninistischen S. auf verschiedenen Abstraktionsebenen.

 

Beispiele für Bewertungskriterien eines relativ hohen Allgemeinheitsgrades sind die Kriterien des „gesellschaftlichen Fortschritts“ sowie des „gesellschaftlichen Nutzens“. Kriterien wie „Objektivität“, „Reliabilität“ und „Validität“ werden in der marxistisch-leninistischen S. als „abgeleitete“ bezeichnet. Im Anschluß an den sowjetischen Wissenschaftstheoretiker G. M. Dobrow werden in der soziologischen Methodologie bisweilen vier Klassen von Bewertungskriterien vorgeschlagen: politische Kriterien, Systemkriterien, technisch-ökonomische Auswahlkriterien, Kriterien der Zuverlässigkeit von Prognosen. Im übrigen hat die marxistisch-leninistische S. bei der Lösung aller methodischen Fragen von dem marxistischen Grundsatz der „Einheit von Qualität und Quantität“ auszugehen. Eine Bewertung des quantitativen Aspektes der Anwendung von Methoden der ES. kann stets erst nach der Prüfung der qualitativen Bewertung, d. h. nach der Prüfung der Frage, ob sich die betreffenden Methoden auf das betreffende Forschungsobjekt überhaupt anwenden lassen, gestellt werden.

 

Aus dieser Darstellung geht bereits hervor, daß die Einzelschritte des sozialwissenschaftlichen Forschungsprozesses im Rahmen der marxistisch-leninistischen S. der DDR durchaus reflektiert werden. Ohne daß man vom Vorhandensein einer Metamethodologie sprechen könnte, wird doch der soziologische Forschungsprozeß, jedenfalls in einer Reihe von Lehrbüchern, in differenzierter Weise — ähnlich wie entsprechende Arbeiten in der westlichen S. — zerlegt: dem Entwurf der Forschungskonzeption folgt die Definition des Forschungsproblems, das Aufstellen von Hypothesen, die Planung und Organisation des Forschungsprozesses sowie die Durchführung der Forschung. Für die eigentliche Durchführung werden dann die möglichen Forschungsmethoden und -techniken diskutiert.

 

Das Methodenverständnis der marxistisch-leninistischen ES. in der DDR ist durch zwei Tendenzen zu charakterisieren. Einmal wird die Aufgabe der ES., wie bereits hervorgehoben, dahingehend verstanden, die „Einheit von qualitativer und quantitativer Analyse“ herzustellen. Zum anderen werden, trotz der nach wie vor scharfen Kritik am „bloßen Empirismus der bürgerlichen Soziologie“, in zunehmendem Maße Methoden und Techniken der ES., wie sie im Westen üblich sind, verwendet.

 

Grundlegend ist die Auffassung, daß die ES. — im Gegensatz zur theoretischen S., die das „Wesen“, die innere Struktur der Gesellschaft, abbildet — von den „Erscheinungen“ ausgeht: Sie „erfaßt, ordnet und systematisiert die Fakten, indem sie die einzelnen Elemente einer Erscheinung voneinander isoliert und einer stufenweisen Analyse unterwirft. Diese Analyse dient der Entflechtung der mannigfachen Verbindungen und Beziehungen der einzelnen Elemente. Das Ergebnis empirischer Forschung sind Aussagen über allgemeine Eigenschaften und Merkmale, die einer Klasse von Elementen oder allen untersuchten Elementen gemeinsam sind.“ Dieses Zitat aus dem Artikel „Empirische Sozialforschung“ im „Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie“ (2., erw. Aufl., Berlin [Ost] 1977, S. 159) verdeutlicht, daß sich theoretische und empirische Analyse nach marxistischer Auffassung vor allem darin unterscheiden, daß die ES. nicht in das „Wesen“ der Gesellschaft eindringen, dieses nicht erklären kann, sondern die Vielfalt der Erscheinungsformen der Wirklichkeit beschreibt. Die ES. ist deshalb — trotz aller Fortschritte — in der S. der DDR nach wie vor als eine Art Hilfswissenschaft anzusehen. Bei der Hypothesenbildung, der Auswahl [S. 1007]des Untersuchungsfeldes und der Interpretation der Daten wird auf bestimmte Grundannahmen des Historischen Materialismus zurückgegriffen, genauer: Bei der Prüfung von Hypothesen spielt die „Dialektik“ eine wesentliche Rolle.

 

In diesem Sinne ist auch die Rolle des empirischen Forschers festgelegt. Er soll nicht „bloßer Registrator“ sozialer Erscheinungen sein. Seine Erkenntnisse hat der Soziologe vielmehr stets auch durch „aktive Teilnahme an der revolutionären gesellschaftlichen Praxis“ zu gewinnen. Dieses Postulat weist unverkennbar den Einfluß des marxistischen Theorie-Praxis-Axioms auf.

 

Die programmatisch-normativen Forderungen nach engagierter Teilnahme des Forschers am gesellschaftlichen Prozeß wie nach steter Berücksichtigung des umfassenden Zusammenhangs sozialer Erscheinungen in jeder Einzelstudie, die dieser Konzeption von ES. zugrunde liegen, stehen der Ausarbeitung empirischer Methoden im einzelnen offenbar kaum im Wege. So sind, besonders im Rahmen der Industrie- und Betriebs-S. und der Jugendforschung, in der DDR empirische Methoden und Techniken durchaus gebräuchlich. Dies gilt für Beobachtung. Inhaltsanalyse, Experiment, primär- und sekundärstatistische Analysen, die verschiedenen Formen des Interviews, die Faktorenanalyse, die Korrelations- und Skalierungsverfahren sowie Stichprobenverfahren, empirische Forschungen mit Hilfe von Indikatoren, Berechnungen mit Hilfe von Algorithmen. Auch bewährte qualitative Methoden, so z. B. die Dokumentenanalyse, werden benutzt. Bestimmte Methoden jedoch, die vor allem im Rahmen der betriebssoziologischen Mikroanalyse im Westen verwendet werden (soziometrische Tests, Rollen- und Interaktionsanalysen), sind nach wie vor nur vereinzelt anzutreffen.

 

Der Schwerpunkt der methodologisch-methodischen Forschung in der DDR wird von den Mitgliedern des „Problemrats der soziologischen Forschung“ beim „Rat für soziologische Forschung der DDR“ durchgeführt. Leiter des Problemrats ist H. Beyer, Berlin (Ost). Weitere Mitglieder sind u. a.: W. Hennig, H. Jetzschmann, K. Kannegießer. J. Krasemann. Sozialstruktur.

 

Peter Christian Ludz


 

Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 996–1007


 

Sozialversicherungs- und Versorgungswesen A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K, L, M, N, O, P, Q, R, S, T, U, V, W, Z Sparen

 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.