DDR von A-Z, Band 1979

Staatslehre (1979)

 

 

Siehe auch die Jahre 1969 1975 1985


 

Nach der marxistisch-leninistischen St. wird der Staat durch seinen „Klassengehalt“ bestimmt. Der Staat wird als ein Machtinstrument in den Händen bestimmter Klassen zur Durchsetzung ihrer Interessen angesehen; er ist ein Produkt der Geschichte, das mit dem Zerfall der Urgesellschaft und dem Auftreten antagonistischer Klassengegensätze entstanden sein und in der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft der Zukunft absterben soll. Den einzelnen Formationen der Ausbeutergesellschaft entsprechend werden 3 Typen des Ausbeuterstaates unterschieden: der Sklavenhalterstaat, der Feudalstaat und der kapitalistische Staat. Alle Ausbeuterstaaten seien Diktaturen von Minderheiten über die Mehrheit, deren Hauptfunktion die Unterdrückung zum Zwecke der Aufrechterhaltung der jeweiligen Ausbeuterordnung sei.

 

Für Marx und Engels war der Ausbeuterstaat mit dem Staat überhaupt identisch und ein Fortbestehen des Staates über die proletarische Revolution hinaus nur für die kurze Übergangsphase der Diktatur des Proletariats und ausschließlich zu dem Zwecke denkbar gewesen, die fortbestehenden Reste der ehemaligen Ausbeuterklassen zu unterdrücken. Stalin hat dann, in Anknüpfung an Lenin, die Lehre von einem neuen Staatstyp, dem sozialistischen Staat, entwickelt. Als Rechtfertigung diente ihm die These von der kapitalistischen Einkreisung der Sowjetunion.

 

Die Funktionen des sozialistischen Staates werden heute in innere und äußere Funktionen eingeteilt. Unter den inneren Funktionen sollen die wirtschaftlich-organisatorische und die kulturell-erzieherische Funktion im Vordergrund stehen; die Unterdrückungsfunktion soll zunehmend an Bedeutung verlieren, doch wird neuerdings von der DDR betont, daß sie auch in der gegenwärtigen Periode der entwickelten sozialistischen Gesellschaft potentiell erhalten bleibe und je nach der politischen Lage sogar einen Bedeutungszuwachs erfahren könne. Von den äußeren Funktionen werden insbesondere die militärische Landesverteidigung, der Kampf für die Friedliche Koexistenz und die brüderliche Zusammenarbeit in der sozialistischen Völkergemeinschaft hervorgehoben. Der sozialistische Staat gilt als Machtinstrument der Arbeiterklasse, die die Macht im Bündnis mit den Genossenschaftsbauern und den sonstigen Werktätigen ausübt. Die Lehre vom sozialistischen Staat und seinen Entwicklungsphasen hat in der Folgezeit manche Veränderungen erfahren, die in erster Linie durch die Schwankungen in der Periodisierung bedingt sind.

 

In der Zeit der durch die sowjetische Besatzungsmacht unterstützten kommunistischen Machtergreifung in den Ländern Osteuropas nach 1945 wurde der Begriff der „Volksdemokratie“ geprägt, um die diskreditierte Formel von der „Diktatur des Proletariats“ zu kaschieren. Der Sache nach wurde und wird die Volksdemokratie als eine Form der Diktatur des Proletariats neben der Sowjetdemokratie betrachtet. Die Volksdemokratie soll im Ergebnis eines einheitlichen Prozesses zweier Revolutionen, der antifaschistisch-demokratischen und der sozialistischen Revolution, entstanden sein. Dieser Umstand sowie die Existenz einer sozialistischen Weltmacht, der Sowjetunion, sollen trotz gleicher Grundzüge gewisse Besonderheiten des volksdemokratischen Staates im Vergleich zum Sowjetstaat bedingt haben. Diese äußerten sich in der Organisation der Staatsmacht. in dem Fortbestand von politischen Parteien in einer Reihe von Ländern und in der Beibehaltung der Nationalen Front oder Volksfront auch in der Periode des sozialistischen Aufbaus. Die führende Rolle der kommunistischen Partei sei aber ein Wesensmerkmal auch der Volksdemokratie.

 

In der DDR wurde der Ausdruck „Volksdemokratie“ zur Kennzeichnung des eigenen Entwicklungsstadiums seit der 2. Parteikonferenz der SED vom Juli 1952 gebraucht. auf der die „Schaffung der Grundlagen des Sozialismus“ und damit das Ende der „antifaschistisch-demokratischen Ordnung“ verkündet worden war. Die Bezeichnung „Diktatur des Proletariats“ ist erst seit Ende der 50er Jahre verwendet worden.

 

Bedeutsame Veränderungen hat in der St. die von Chruschtschow entwickelte Konzeption des „Volksstaates“ bewirkt. Im Parteiprogramm der KPdSU von [S. 1038]1961 wurde behauptet, die Diktatur des Proletariats habe in der Sowjetunion ihre historische Mission erfüllt, ihr Staat habe sich zu einem Staat des gesamten Volkes gewandelt und die sozialistische Staatlichkeit würde zunehmend in die gesellschaftliche Selbstverwaltung hinüberwachsen. Diese Thesen, die nur für die Sowjetunion, die sich bereits in der fortgeschritteneren Entwicklungsphase des „umfassenden Aufbaus des Kommunismus“ befunden haben sollte, unmittelbar Geltung besaßen, wurden in der DDR rezipiert. In dem auf dem VI. Parteitag der SED (Januar 1963) verabschiedeten Parteiprogramm wurde ebenfalls das baldige Ende der Diktatur des Proletariats und der Übergang zum Volksstaat in Aussicht gestellt. Seither wurde die Bezeichnung „Diktatur des Proletariats“ immer weniger gebraucht, ohne daß sie ausdrücklich aufgegeben worden wäre. Statt dessen bürgerte sich der Terminus „sozialistische Demokratie“ zur Bezeichnung des politischen Systems der DDR ein. In der St. wurden nur bis 1964/65 verschiedentlich Probleme des Volksstaates erörtert. Der Grund hierfür ist in den ideologischen Auswirkungen von Chruschtschows Sturz Ende 1964 zu suchen. Die neue sowjetische Führung distanzierte sich allmählich von den ideologischen Neuerungen des Parteiprogramms von 1961 und so zunächst auch von der Konzeption des Volksstaates. Ende der 60er Jahre ist der Begriff „allgemeiner Volksstaat“ (obschtschenarodnoje gossudarstvo) von der sowjetischen St. wieder aufgegriffen und schließlich in die neue Sowjetverfassung vom 7. 10. 1977 aufgenommen worden. In der DDR wie in den anderen Ländern des sowjetischen Hegemonialbereichs ist das Leitbild des „Staates des ganzen Volkes“ noch eine Zielvorstellung. Anders als in der Chruschtschow-Ära wird der enge Zusammenhang zwischen der Diktatur des Proletariats und dem Staat des ganzen Volkes, die beide den einheitlichen sozialistischen Staatstyp repräsentierten, wieder nachdrücklich hervorgehoben.

 

In der DDR ist der Terminus „Diktatur des Proletariats“ durch eine Rede W. Ulbrichts vom 12. 10. 1968 als Reaktion auf die Ereignisse in der Tschechoslowakei wieder in den allgemeinen politischen Sprachgebrauch eingeführt worden (Staat und Recht. 1968, S. 1735 ff.). Zugleich sind die These von der führenden Rolle der Partei, der Organisationsgrundsatz des demokratischen Zentralismus und sonstige Elemente der orthodox-stalinistischen St. stark in den Vordergrund gerückt worden. Diese Tendenzen haben sich nach der Entmachtung Ulbrichts und seit dem VIII. Parteitag der SED vom Juni 1971 noch verschärft. Die DDR begreift sich heute als Diktatur des Proletariats. Gleichzeitig versteht sie sich als sozialistische Demokratie. Beide Begriffe werden synonym gebraucht, da die Entfaltung der Demokratie für die Massen der Werktätigen ein charakteristisches Merkmal der Diktatur des Proletariats sei (Verf. Komm., Bd. I, S. 217).

 

Die Anfang der 60er Jahre einsetzenden ideologischen Kursschwankungen sind von der St. der DDR nicht vollständig bewältigt worden. Insbesondere hinsichtlich der Formenlehre des sozialistischen Staates waren im Schrifttum lange Zeit keine substantiellen Aussagen anzutreffen. Erst im Zusammenhang mit dem Erscheinen des Lehrbuchs „Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie“ im Jahre 1975 hat sich eine gewisse Begriffsklärung abgezeichnet. Nach dem gegenwärtigen Stand soll es nur einen Typus des sozialistischen Staates geben, der allerdings verschiedene Entwicklungsetappen aufweist (Lehrbuch, S. 191 ff.).

 

Es handelt sich um folgende Entwicklungsetappen:

 

1. der sozialistische Staat der Diktatur des Proletariats in der Periode von seiner Errichtung bis zum Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse (Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus); 2. der sozialistische Staat der Diktatur des Proletariats in der Periode nach dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse bis zur Herausbildung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft; 3. der sozialistische Staat des ganzen Volkes nach dem vollständigen Sieg des Sozialismus in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft.

 

In der letzten Entwicklungsetappe soll sich gegenwärtig ausschließlich die Sowjetunion befinden. Die Einordnung der DDR in dieses Schema ist nicht ganz klar. Der „endgültige Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse“ wurde auf dem VI. Parteitag der SED (1963) verkündet, aber der Ausdruck „entwickelte sozialistische Gesellschaft“ ist erst auf dem VIII. Parteitag der SED (1971) eingeführt worden. Das auf dem IX. Parteitag der SED (1976) angenommene Programm begnügt sich mit der Feststellung, daß der VIII. Parteitag eine „allseitige Begründung“ der bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft zu lösenden Aufgaben gegeben habe und die DDR gegenwärtig eine Form der Diktatur des Proletariats sei, die die Interessen des ganzen Volkes vertrete.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 1037–1038


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

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