
VII. Kosten
Strafverfahren (1979)
I. Gesetzliche Grundlage
Das St. regelt sich nach der Strafprozeßordnung (StPO) vom 12. 1. 1968 (GBl. I, S. 49), die mit ihrem Inkrafttreten am 1. 7. 1968 die im Zuge der ersten Justizreform geschaffene StPO vom 2. 10. 1952 abgelöst hat. Sie gilt nunmehr in der Fassung des 1. Änderungsgesetzes zur Strafprozeßordnung vom 19. 12. 1974 (GBl. I, S. 597) und des 2. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 7. 4. 1977 (GBl. I, S. 100). Die StPO regelt die Voraussetzungen der Strafverfolgung, das Verfahren der staatlichen Gerichte, des Staatsanwalts und der staatlichen Untersuchungsorgane. Auf Verfahren vor den Gesellschaftlichen [S. 1066]Gerichten und in Ordnungsstrafverfahren (Ordnungswidrigkeiten) findet die StPO keine Anwendung.
II. Grundsatzbestimmungen
Nach § 1 StPO dient das St. „der gerechten Anwendung des sozialistischen Strafrechts und damit dem Schutz der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung und jedes Bürgers. Es sichert, daß jeder Schuldige, aber kein Unschuldiger strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird“. Mit dem St. sollen die Ursachen und Bedingungen von Straftaten beseitigt und neuen Straftaten vorgebeugt werden. Auf diese Weise soll das St. beitragen „zum Schutz der sozialistischen Gesellschaftsordnung und ihres Staates und der Rechte und gesetzlich geschützten Interessen der Bürger vor Straftaten, zur Gestaltung der sozialistischen Beziehungen der Bürger zu ihrem Staat und im gesellschaftlichen Zusammenleben und zur Entwicklung der schöpferischen Kräfte des Menschen und der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (§ 2 Abs. 3 StPO). In Übereinstimmung mit der Verfassung verpflichtet auch die StPO die Gerichte und die Strafverfolgungsorgane, die Grundrechte und die Würde des Menschen zu achten. Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, Unantastbarkeit der Person, Unverletzlichkeit des Eigentums, der Wohnung und des Post- und Fernmeldegeheimnisses werden garantiert. Willkürliche und unangemessene Strafverfolgungshandlungen sollen, wie der Lehrkommentar zum Strafrecht der DDR ausführt (S. 51), unzulässig sein. Die aus diesen allgemeinen Grundsätzen abgeleitete Auffassung, daß Vernehmungsmethoden, die die Menschenwürde verletzen, unzulässig sind, haben zur Abkehr von Foltermethoden geführt, die insbesondere der Staatssicherheitsdienst (Ministerium für Staatssicherheit) in den 50er Jahren praktiziert hat. Nach wie vor ist jedoch die Praxis des SSD von dem Ziel bestimmt, ein Geständnis des Beschuldigten zu erhalten. Die Methoden, ein Geständnis zu erzielen, sind vielseitig. Es wurden Dauerverhöre bis zur völligen Erschöpfung des Vernommenen ebenso festgestellt wie Versprechungen für vorzeitige Haftentlassung oder Zusagen, von Repressalien gegen Familienangehörige absehen zu wollen. Eine Schutzvorschrift gegen verbotene Vernehmungsmethoden wie im Recht der Bundesrepublik Deutschland (§ 136 a StPO) gibt es in der DDR nicht.
Ausdrücklich hervorgehoben sind in den Grundsatzbestimmungen der StPO die richterliche Unabhängigkeit. das Rechtsprechungsmonopol der Gerichte, das Verbot doppelter Bestrafung („ne bis in idem“), das Recht auf Verteidigung (Verteidiger) und das Prinzip der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung, von dem nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen abgewichen werden darf. Unter Berufung auf eine Gefährdung der Sicherheit des Staates oder auf „die Notwendigkeit der Geheimhaltung bestimmter Tatsachen“ (§ 211 Abs. 3 StPO) ist allerdings der Ausschluß der Öffentlichkeit ziemlich leicht zu erreichen. Nichtöffentlich werden St. gegen ehemalige Volkspolizisten und Armeeangehörige sowie solche politische St. verhandelt, in denen der Angeklagte trotz aller Bemühungen nicht zu einem Geständnis gebracht wurde und die Zeugenaussagen oder sonstigen Beweismittel wenig überzeugend sind. Wenn aber von einem St. eine besondere erzieherische Wirkung erwartet wird, dann sollen die Gerichte die Verhandlungen unmittelbar in Betrieben, Genossenschaften pp. zu einer Tageszeit durchfuhren, die es den Werktätigen ermöglicht, daran teilzunehmen. In Schauprozessen wird die Öffentlichkeit häufig dadurch beeinträchtigt, daß nur ein bestimmter und speziell ausgesuchter Kreis von Zuhörern zugelassen wird.
Am St. kann auch der durch eine Straftat Geschädigte mitwirken. Er ist berechtigt, Schadensersatzanträge geltend zu machen. Beweisanträge zu stellen und Beschwerde in den vom Gesetz vorgesehenen Fällen einzulegen.
In St. gegen Jugendliche gelten keine besonderen Grundsätze; es soll aber auf die entwicklungsbedingten Besonderheiten der Beschuldigten Rücksicht genommen und eng mit den Organen der Jugendhilfe zusammengearbeitet werden. Die Eltern und anderen Erziehungsberechtigten sowie die Schule, der Lehrbetrieb, die Jugendorganisation und sonstige gesellschaftliche Kräfte sind am Verfahren zu beteiligen.
III. Ermittlungsverfahren
A. Einleitung und Abschluß
Das St. gliedert sich in das Ermittlungsverfahren und das gerichtliche Verfahren. Das Ermittlungsverfahren wird unter Leitung der Staatsanwaltschaft von den staatlichen Untersuchungsorganen (UOrg) durchgeführt. Dies sind die Kriminalpolizei, der Staatssicherheitsdienst und die zuständigen Dienststellen der Zollverwaltung (bei Zoll- und Devisenvergehen). Die UOrg haben die Befugnis, durch schriftlich begründete Verfügung ihres Leiters die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens anzuordnen und dieses Verfahren durchzuführen. Von ihrer Weisungsbefugnis macht die Staatsanwaltschaft in der Praxis gegenüber dem Staatssicherheitsdienst keinen Gebrauch. Der Leiter eines UOrg ist auch befugt, das Ermittlungsverfahren selbständig einzustellen (§§ 141, 143 StPO) oder an ein Gesellschaftliches Gericht zu übergeben (§ 142 StPO). Erfolgt das nicht, so hat das UOrg die Akten dem Staatsanwalt mit einem Schlußbericht, der das Ergebnis der Untersuchung zusammenfaßt, zu übergeben. Alle Ermittlungsverfahren sollen innerhalb einer Frist von höchstens 3 Monaten abgeschlossen [S. 1067]sein. Überschreitungen dieser Höchstfrist bedürfen der Genehmigung des Bezirksstaatsanwalts, die in der Regel erteilt wird. Bereits im Ermittlungsverfahren ist den Betriebsleitungen, Dienststellen oder gesellschaftlichen Einrichtungen Mitteilung zu machen, wenn gegen einen Mitarbeiter des Betriebes pp. der Verdacht einer Straftat besteht.
B. Zwangsmittel
Zwangsmittel im Ermittlungsverfahren sind Durchsuchung, Beschlagnahme, vorläufige Festnahme und Verhaftung (Untersuchungshaft). Obwohl § 121 StPO vorschreibt, daß jede Beschlagnahme einer richterlichen Bestätigung bedarf, wird diese in der Mehrzahl der Fälle nicht eingeholt, vor allem dann nicht, wenn die Beschlagnahme von der Zollverwaltung vorgenommen wird, die das Recht zur selbständigen Anordnung von Beschlagnahmen hat. Die Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft sind, daß gegen den Beschuldigten dringende Verdachtsgründe vorliegen und daß Fluchtverdacht, Verdunklungsgefahr oder Wiederholungsgefahr gegeben sind, daß ein Verbrechen (Strafrecht) den Gegenstand des Verfahrens bildet oder daß bei einem schweren fahrlässigen Vergehen der Ausspruch einer Freiheitsstrafe von über 2 Jahren zu erwarten ist. Untersuchungshaft kann schließlich auch dann verhängt werden, wenn die den Gegenstand des Verfahrens bildende Tat mit Haftstrafe oder als Militärstraftat mit Strafarrest (Strafensystem) bedroht ist. Bei „Verbrechen“ im Sinne des StGB bedarf es also zur Anordnung der Untersuchungshaft keines zusätzlichen Fluchtverdachts, keiner Verdunklungs- oder Wiederholungsgefahr. Das trifft mithin zu bei Aggressionsverbrechen, Staatsverbrechen, vorsätzlichen Straftaten gegen das Leben und bei anderen Straftaten, wenn entweder mindestens 2 Jahre Freiheitsstrafe angedroht oder mehr als 2 Jahre Freiheitsstrafe erwartet werden. Gegen einen richterlichen Haftbefehl ist das Rechtsmittel der Beschwerde zulässig, aber nur ein einziges Mal, und zwar binnen einer Woche nach Erlaß des Haftbefehls. Eine weitere Beschwerde gibt es nicht. Ein formales Haftprüfungsverfahren kennt das DDR-Strafprozeßrecht gleichfalls nicht. § 131 StPO beschränkt sich auf die allgemeine Klausel: „Der Staatsanwalt und nach Einreichung der Anklageschrift auch das Gericht haben jederzeit zu prüfen, ob die Voraussetzungen der Untersuchungshaft noch vorliegen. Das Ergebnis ist zum Zwecke der Nachprüfung aktenkundig zu machen.“ § 130 StPO schreibt vor, daß dem Verhafteten nur die Beschränkungen auferlegt werden dürfen, die der Zweck der Untersuchungshaft, die Ordnung der Anstalt oder die Sicherheit erfordern. Trotzdem ist vor allem im politischen St. das Recht des in Untersuchungshaft befindlichen Beschuldigten, zusätzlich Lebensmittel zu erhalten. Bücher und Zeitschriften zu lesen, zu schreiben und Besuche zu empfangen, in der Praxis so starken Einschränkungen unterworfen, daß es als nicht bestehend angesehen werden kann. Der Untersuchungsgefangene befindet sich in einer fast totalen Isolierung von der Außenwelt, z. T. auch von Mitgefangenen. Erheblichen Einschränkungen unterliegt der Untersuchungsgefangene auch im brieflichen oder persönlichen Verkehr mit seinem Verteidiger.
C. Beweismittel
Als Beweismittel werden von der StPO für zulässig erklärt: Zeugenaussagen und Aussagen sachverständiger Zeugen, Sachverständigengutachten, Aussagen von Beschuldigten und Angeklagten, Beweisgegenstände und Aufzeichnungen. Beweismittel sind auch die Aussagen von „Vertretern der Kollektive“ (s. u. Ziff. 5), soweit sie die Mitteilung von Tatsachen zum Inhalt haben. Unter Beweisgegenständen sind Sachen zu verstehen, „die durch ihre Beschaffenheit und Eigenart oder ihre Beziehung zu der Handlung, die Gegenstand der Untersuchung ist, Aufschluß über die Straftat, ihre Ursachen und Bedingungen sowie den Beschuldigten oder den Angeklagten geben“ (§ 49 Abs. 1). Aufzeichnungen sind „Schriftstücke oder in anderer Form fixierte Mitteilungen. deren Inhalt für die Aufklärung der Handlungen, deren Ursachen und Bedingungen und der Person des Beschuldigten oder des Angeklagten von Bedeutung sind“ (§ 49 Abs. 2). Mit dieser Definition soll den Erfordernissen der modernen Technik Rechnung getragen werden, so daß also auch Tonbandaufzeichnungen zu den Beweismitteln zählen.
Ehegatten und Geschwister des Beschuldigten oder Angeklagten und Personen, die mit ihm in gerader Linie verwandt oder unter Annahme an Kindes Statt verbunden sind, sind zur Verweigerung der Zeugenaussage ebenso berechtigt wie Geistliche, Rechtsanwälte, Notare, Ärzte, Zahnärzte, Psychologen, Apotheker und Hebammen über das, was ihnen bei der Ausübung ihres Berufes oder ihrer Tätigkeit anvertraut oder bekannt geworden ist. Der Kreis der zur Aussageverweigerung berechtigten Personen ist kleiner als nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland. Mit der Ausnahme für Geistliche besteht das Aussageverweigerungsrecht für den gesamten Personenkreis nicht, soweit nach dem Strafgesetz eine Pflicht zur Anzeige besteht. Das ist u. a. nach § 225 StGB bei allen Staatsverbrechen der Fall. Sachverständige, die bei staatlichen Einrichtungen angefordert werden sollen, können vom Angeklagten nicht abgelehnt werden. Der Beschuldigte ist zu der gegen ihn erhobenen Beschuldigung zu vernehmen. Ein Recht, jede Äußerung zur Beschuldigung abzulehnen oder schon vor seiner Vernehmung einen zu wählenden Verteidiger zu befragen, gewährt die StPO nicht.[S. 1068]
D. Abschluß des Ermittlungsverfahrens
Das Ermittlungsverfahren schließt mit der Einstellung des Verfahrens, der Übergabe der Sache an ein gesellschaftliches Gericht, der vorläufigen Einstellung des Verfahrens oder der Übergabe des Verfahrens an den Staatsanwalt. Der Staatsanwalt fällt seinen Entschluß nach Prüfung des vom Untersuchungsorgan vorgelegten Schlußberichts. Er kann folgende Entscheidungen treffen: Einstellung, vorläufige Einstellung, Übergabe an ein gesellschaftliches Gericht, Rückgabe an das Untersuchungsorgan (mit bestimmten Weisungen), Erhebung der Anklage, Beantragung eines Strafbefehls.
IV. Das Gerichtsverfahren
A. örtliche Zuständigkeit
In den Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit der Gerichte ist die in der NS-Zeit aufgenommene Bestimmung enthalten, daß auch das Gericht örtlich zuständig ist, in dessen Bereich der Beschuldigte oder Angeklagte auf Anordnung eines staatlichen Organs untergebracht ist (§ 170 Abs. 3). Hierdurch ist es dem Untersuchungsorgan möglich, die gerichtliche Zuständigkeit durch Begründung eines entsprechenden Verwahrungsortes eines inhaftierten Beschuldigten zu bestimmen.
B. Eröffnungsbeschluß
Das Gericht beschließt über die Eröffnung oder die Nichteröffnung des Hauptverfahrens unter Mitwirkung der Schöffen. Es kann auch die vorläufige oder endgültige Einstellung des Verfahrens, die Rückgabe an den Staatsanwalt sowie die Übergabe der Sache an ein gesellschaftliches Gericht beschließen. Die Anklageschrift und der Eröffnungsbeschluß müssen dem Angeklagten spätestens mit der Ladung zur Hauptverhandlung zugestellt werden. Bei Gefährdung der Staatssicherheit oder bei Notwendigkeit der Geheimhaltung bestimmter Tatsachen wird die Anklageschrift nicht zugestellt, sondern dem (dann in der Regel inhaftierten) Angeklagten nur zur Kenntnis gebracht (§ 203 Abs. 3).
C. Hauptverhandlung und Beweisaufnahme
In der Hauptverhandlung soll das Gericht „die Art und Weise der Begehung der Straftat, ihre Ursachen und Bedingungen, den entstandenen Schaden, die Persönlichkeit des Angeklagten, seine Beweggründe, die Art und Schwere seiner Schuld, sein Verhalten vor und nach der Tat in belastender und entlastender Hinsicht allseitig und unvoreingenommen“ feststellen (§ 222). Der Angeklagte ist zu vernehmen. Eine Bestimmung des Inhalts, daß es dem Angeklagten freisteht, sich zu der Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen (§ 243 Abs. 4 StPO der Bundesrepublik Deutschland), ist in der StPO/DDR nicht enthalten; der Angeklagte ist zur Aussage verpflichtet. Aussagen des Angeklagten, die in einem richterlichen, staatsanwaltschaftlichen oder polizeilichen Protokoll über eine frühere Vernehmung enthalten sind, können durch Verlesung zum Gegenstand der Beweisaufnahme gemacht werden. Das Plenum des OG hat in einer Richtlinie vom 16. 3. 1978 (GBl I, S. 169) Grundsätze zu Fragen der gerichtlichen Beweisaufnahme und Wahrheitsfindung im Strafprozeß besonders herausgestellt. Zunächst gilt der Grundsatz der Wissenschaftlichkeit und Unvoreingenommenheit der Beweisführung, wobei eine Einheit von Wahrheit, Wissenschaftlichkeit und Parteilichkeit angenommen wird. Der Grundsatz der Präsumtion der Unschuld wird ausdrücklich als in enger Beziehung zum Grundsatz der Wissenschaftlichkeit und Unvoreingenommenheit der Beweisführung stehend genannt. Die Beweisführungspflicht des Gerichts umfaßt die Pflicht, alle erforderlichen Beweismittel festzustellen und der Beweisführung zugrunde zu legen, das Recht des Angeklagten, an der Wahrheitsfindung mitzuwirken, das Verbot, dem Angeklagten eine Beweisführungspflicht aufzuerlegen. Aus dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme ergibt sich, daß für die Urteilsfindung nur solche Beweismittel herangezogen werden können, die Gegenstand der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung waren. Angeklagte, Zeugen und Kollektivvertreter sind in der gerichtlichen Beweisaufnahme grundsätzlich mündlich zu vernehmen, Beweisgegenstände sind grundsätzlich in der Hauptverhandlung vorzulegen, Aufzeichnungen im erforderlichen Umfang den Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu bringen. Aussagen von Zeugen dürfen aber gemäß § 225 Abs. 1 Ziffer 2 StPO durch Verlesen des Protokolls über eine frühere Vernehmung ersetzt werden, wenn dem Erscheinen des Zeugen u. a. nicht zu beseitigende oder erhebliche Hindernisse entgegenstehen.
Zum Geständnis des Angeklagten legt die Richtlinie fest, daß dadurch das Gericht nicht von der allseitigen und unvoreingenommenen Feststellung der Wahrheit entbunden wird. Das Geständnis ist insbesondere dann kein ausreichender Beweis, wenn aus anderen Quellen begründete Zweifel bestehen.
Zur rationellen Gestaltung des Verfahrens ist aber immer zu prüfen, ob es bei Vorliegen eines Geständnisses noch der Vernehmung von Zeugen bedarf, wenn das Geständnis bereits mit anderen Beweismitteln übereinstimmt.
Am Schluß der Beweisaufnahme erhalten der Staatsanwalt, der gesellschaftliche Ankläger, der gesellschaftliche Verteidiger, der Angeklagte oder sein Verteidiger das Wort zu ihren Ausführungen und Anträgen. Den Angeklagten gebührt das letzte Wort.
D. Urteil
Die Hauptverhandlung schließt mit dem Urteil oder [S. 1069]mit einem auf Einstellung oder vorläufige Einstellung lautenden Beschluß. Bei einem auf Freispruch lautenden Urteil sind Formulierungen, welche die Unschuld des Freigesprochenen in Zweifel ziehen (Freispruch „mangels Beweises“ oder „mangels ausreichenden Beweisen“), unzulässig. Nicht auf Freisprechung, sondern auf Einstellung des Verfahrens durch Beschluß ist zu erkennen, wenn Voraussetzungen für die Strafverfolgung fehlen, jugendliche Angeklagte eine mangelnde Entwicklungsreife aufweisen oder der Angeklagte zurechnungsunfähig ist. Das Urteil des Gerichts ist während der Beratung schriftlich zu begründen, von allen Richtern (auch den Schöffen) zu unterschreiben und öffentlich „Im Namen des Volkes“ zu verkünden.
E. Hauptverhandlung gegen Flüchtige und Abwesende
Die gesetzliche Regelung über die Hauptverhandlung gegen Flüchtige und Abwesende geht recht weit. Jedes Verfahren kann auch gegen einen Abwesenden oder Flüchtigen durchgeführt werden. Als flüchtig gilt, wer sich dem Gerichtsverfahren dadurch entzieht, daß er sich außerhalb des Gebietes der DDR aufhält oder sich verbirgt. Diese Bestimmungen über die Durchführung der Hauptverhandlung gegen Flüchtige finden auch auf Personen Anwendung, denen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen werden und die sich außerhalb der DDR aufhalten (§ 262).
V. Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte
An der Auseinandersetzung mit einem straffällig gewordenen Bürger soll sich nicht nur das Gericht, sondern auch die Gesellschaft beteiligen. Die StPO bestimmt in § 4, daß die „Bürger in Verwirklichung ihres grundlegenden Rechts auf Mitgestaltung aller staatlichen und gesellschaftlichen Angelegenheiten aktiv und unmittelbar an der Durchführung des Strafverfahrens“ teilnehmen. Als Formen der Mitwirkung werden erwähnt: Schöffen (Rechtswesen), Vertreter der Kollektive, gesellschaftliche Ankläger, gesellschaftliche Verteidiger und Übernahme von Bürgschaften. Bereits der Rechtspflege-Erlaß des Staatsrats vom 4. 4. 1963 hatte angeordnet, daß die Gerichte in St. Vertreter von sozialistischen Brigaden, Hausgemeinschaften oder anderen Kollektiven der Werktätigen zur Teilnahme an der Hauptverhandlung laden sollen.
A. Vertreter der Kollektive
Nach § 53 StPO haben Vertreter der Kollektive (VdK) zur allseitigen Aufklärung der Straftaten, ihrer Ursachen und Bedingungen und der Persönlichkeit des Angeklagten im St. mitzuwirken. Als VdK können Personen von einem Kollektiv aus dem Arbeits- und Lebensbereich des Beschuldigten oder Angeklagten beauftragt werden. Neben dem Vertreter des Arbeitskollektivs kann ein Vertreter aus dem Wohngebietskollektiv, aus einer gesellschaftlichen Organisation oder aus der Interessenssphäre des Beschuldigten, z. B. Sportgemeinschaft, benannt werden. Der VdK soll dem Gericht die Meinung des Kollektivs zur Straftat, zu ihren Ursachen und begünstigenden Umständen und den vorhandenen Möglichkeiten zu ihrer Beseitigung darlegen. Er soll auch die Person des Angeklagten, insbesondere dessen Arbeitsmoral und seine Arbeitsleistungen, einschätzen und damit zur Erziehung und Selbsterziehung des straffällig gewordenen Bürgers und zur Verhütung weiterer Straftaten beitragen. Der VdK hat im Unterschied zu den Zeugen das Recht auf ununterbrochene Anwesenheit in der Hauptverhandlung (§ 221 StPO) und darf auch nach seiner Vernehmung bis zum Schluß der Beweisaufnahme zu allen bedeutenden Fragen Stellung nehmen (§ 227 StPO). Anträge zur Schuld- und Straffrage darf er aber nicht stellen.
B. Gesellschaftliche Ankläger und Verteidiger
Neben den VdK oder an dessen Stelle kann ein gesellschaftlicher Ankläger (GA) oder gesellschaftlicher Verteidiger (GV) treten. Als GA oder GV können Volksvertreter, Vertreter der Ausschüsse der Nationalen Front, Vertreter der Gewerkschaften, der ehrenamtlichen Organe der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion, anderer gesellschaftlicher Organisationen sowie sozialistischer Kollektive in der Hauptverhandlung mitwirken. Voraussetzung ist, daß sie von ihrem Kollektiv einen entsprechenden Auftrag haben und vom Gericht durch Beschluß zugelassen werden. Der ablehnende oder zulassende Beschluß, an dem auch die Schöffen mitwirken müssen, unterliegt nicht der Beschwerde (§ 197). Die GA und GV haben in der Hauptverhandlung eine andere Stellung als die Vertreterder Kollektive. Ihre Darlegungen sind keine Beweismittel. Sie sollen dem Gericht die Auffassung des Kollektivs zur Tat und zur Persönlichkeit des Angeklagten vortragen. Sie können Beweisanträge stellen und ihre Ansicht über die Bestrafung und das Strafmaß darlegen (§ 54 Abs. 2). Das Gericht hat sie bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu unterstützen und in seiner Entscheidung zu ihren Vorbringen, Anträgen und Vorschlägen Stellung zu nehmen. Im Jahr 1977 haben 44.100 „Werktätige“ als VdK, GA oder GV an St. mitgewirkt (Neue Justiz 1978, H. 9, S. 373).
Ein GA soll insbesondere dann beauftragt werden, wenn der Verdacht einer schwerwiegenden, die sozialistische Gesetzlichkeit im besonderen Maße verletzenden Straftat besteht und dadurch oder auch durch den Verdacht einer weniger schwerwiegenden Straftat besondere Empörung in der Öffentlichkeit oder im betreffenden Kollektiv hervorgerufen wurde. Ein GV soll beauftragt werden, wenn nach der Auffassung des Kollektivs oder gesellschaftlichen [S. 1070]Organs unter Berücksichtigung der Schwere des bestehenden Tatverdachts und des bisherigen Verhaltens des Beschuldigten oder des Angeklagten eine Strafe ohne Freiheitsentzug oder der Verzicht auf eine Strafe möglich erscheinen. GA oder GV sind zur Hauptverhandlung zu laden, Anklageschrift und Eröffnungsbeschluß sind ihnen jedoch nicht zu übersenden. Sie haben das Recht, nach ihrer Zulassung Einsicht in die Akten zu nehmen. Sie sind in der Hauptverhandlung vorzustellen und im Urteilsrubrum aufzuführen. In einem Strafverfahren kann sowohl ein GA als auch ein GV auftreten, die jedoch nicht vom selben Kollektiv oder Organ beauftragt sein dürfen.
Dem Staatsanwalt, dem Angeklagten und seinem Verteidiger ist mitzuteilen, wer als GA oder GV zugelassen wurde. Begründete Einwendungen gegen die Person des Zugelassenen soll der Angeklagte dem Gericht unverzüglich zur Kenntnis bringen. Ob in diesem Falle, wie dies noch die aufgehobene Richtlinie Nr. 22 des Plenums des OG vom 14. 12. 1966 (GBl. II, 1967, S. 17) vorschrieb, das Gericht den Zulassungsbeschluß aufheben muß, wenn das Kollektiv keinen anderen GA oder GV beauftragt, geht aus der StPO nicht eindeutig hervor.
VI. Rechtsmittel
Rechtsmittel sind die Berufung des Angeklagten, der Protest der Staatsanwaltschaft und die Beschwerde. Die Einlegungsfrist beträgt eine Woche nach Verkündigung der angefochtenen Entscheidung. Eine Begründung für das eingelegte Rechtsmittel ist nicht mehr zwingend vorgeschrieben. Berufung und Protest sollen aber begründet werden. Die Berufung des Angeklagten kann durch das Rechtsmittelgericht ohne Hauptverhandlung durch einstimmigen Beschluß als „offensichtlich unbegründet“ verworfen werden, während über den form- und fristgerecht eingelegten Protest der Staatsanwaltschaft immer verhandelt werden muß. Eine im Entwurf zur StPO insoweit zunächst vorgesehene Gleichbehandlung von Berufung und Protest wurde bei der endgültigen Fassung des Gesetzes wieder fallengelassen, so daß es also bei dieser dem St.-Recht der Bundesrepublik unbekannten Beschlußverwerfung des Rechtsmittels bei der Besserstellung der Staatsanwaltschaft gegenüber dem Angeklagten verblieben ist. Ein Rechtsmittel gegen zweitinstanzliche Entscheidungen, wie etwa die „Revision“, gibt es nicht. Die Beschwerde ist zulässig gegen alle von den Gerichten in erster Instanz erlassenen Beschlüsse, sofern diese nicht ausdrücklich einer Anfechtung entzogen sind. Durch Einlegung der Beschwerde wird die Durchführung des angefochtenen Beschlusses nicht gehemmt. Eine „weitere Beschwerde“ gibt es nicht. Rechtskräftige Urteile können durch die in der Praxis kaum vorkommende Wiederaufnahme des Verfahrens angefochten werden, deren Einleitung aber nur durch den Staatsanwalt erfolgen kann. Ein bedeutsames Institut für die Beseitigung von rechtskräftigen Entscheidungen, die nicht der sozialistischen Gesetzlichkeit entsprechen, ist die Kassation.
Gerichtskosten für die Durchführung eines St. werden nicht erhoben. Der Verurteilte hat lediglich die Auslagen des Verfahrens zu tragen. Das sind Auslagen des Staatshaushalts und notwendige Auslagen eines am Verfahren Beteiligten. Auslagen des Staatshaushalts sind die Aufwendungen, die bei der Vorbereitung und Durchführung des gerichtlichen Verfahrens für die Entschädigung von Zeugen, Vertretern der Kollektive, Sachverständigen und Pflichtverteidigern, für Post-, Fernsprech- und Telegrammgebühren sowie für ähnliche Zwecke oder für die Veröffentlichung der Entscheidung entstehen, soweit sie 3 Mark übersteigen (§ 362 StPO). Die weiteren Aufwendungen der Untersuchungsorgane und der Staatsanwaltschaft gehören nicht zu diesen Auslagen. Notwendige Auslagen eines am Verfahren Beteiligten sind dessen Aufwendungen bei der Wahrnehmung seiner Rechte und Pflichten im Verfahren, insbesondere Verdienstausfall und Reisekosten sowie erstattungsfähige Kosten des gewählten Verteidigers des Angeklagten und des Rechtsanwalts des Geschädigten (§ 362 Abs. 4 StPO).
Verurteilten, die nicht Bürger der DDR sind und in der DDR keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort haben, können auch die weiteren durch die Strafverfolgung, die Untersuchungshaft und den Strafvollzug entstandenen Kosten auferlegt werden (§ 364 Abs. 4 StPO).
Walther Rosenthal
Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 1065–1070
Strafregister | A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K, L, M, N, O, P, Q, R, S, T, U, V, W, Z | Strafvollstreckung |