
Vertragssystem (1979)
Siehe auch die Jahre 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1975
Gesamtheit der Maßnahmen zur Regelung des zwischenbetrieblichen Austauschs von Lieferungen und Leistungen durch Wirtschaftsverträge. Es umfaßt alle auf gesetzlicher Grundlage vertraglich gestalteten binnenwirtschaftlichen Kooperationsbeziehungen zwischen den Betrieben. Das V. wird als „wichtiges Mittel zur planmäßigen Leitung der sozialistischen Betriebe und zur Festigung der wirtschaftlichen Rechnungsführung“ bezeichnet. Die Betriebe werden durch das V. zur rechtsverbindlichen Fixierung ihrer planmäßigen Liefer- und Abnehmerpflichten angehalten. Zugleich dienen die Wirt[S. 1137]schaftsverträge — zu deren Abschluß die Betriebe verpflichtet sind — der Vorbereitung, Konkretisierung und Erfüllung der Wirtschaftspläne. Im Rahmen der ihnen zugewiesenen Entscheidungsmöglichkeiten unterstützen die Betriebe durch den Abschluß und die Erfüllung von Wirtschaftsverträgen die Feinplanung der jeweiligen zwischenbetrieblichen Verflechtung.
Das V. erfaßt die Betriebe aller Eigentumsformen, Genossenschaften, VVB und staatliche Einrichtungen, und stellt auch insofern ein Instrument dar, das die zentrale Planung und Leitung mit den eigenverantwortlichen Aktivitäten der Wirtschaftseinheiten und staatlichen Einrichtungen verbindet. Das V. wurde 1951 verabschiedet. Die wichtigsten gesetzlichen Bestimmungen sind in dem Gesetz über das Vertragssystem in der sozialistischen Wirtschaft — Vertragsgesetz — vom 25. 2. 1965 (GBl. I, S. 107) und in den inzwischen erlassenen Durchführungsverordnungen enthalten. Normiert das Vertragsgesetz die binnenwirtschaftlichen Beziehungen der Betriebe, so sind die außerwirtschaftlichen Beziehungen durch die Rechtsvorschriften im Rechtsanwendungsgesetz vom 5. 12. 1975 (GBl. I, S. 748) sowie vor allem im Gesetz über Internationale ➝Wirtschaftsverträge (GIW) vom 5. 2. 1976 (GBl. I. S. 51) geregelt worden.
I. Vertragsgesetz
Das Vertragsgesetz von 1965 ersetzte das bis dahin gültige Vertragsgesetz vom 11. 12. 1957 (GBl. I, S. 627). Es geht davon aus, daß die Wirtschaftsverträge ein kennzeichnender Bestandteil der zentralen Planung und der im Rahmen des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung entwickelten „Wissenschaftlichen Führungstätigkeit mittels ökonomischer Hebel“ sind. Das Gesetz regelt die „wechselseitigen Beziehungen der Betriebe bei der Lieferung von Erzeugnissen, bei der Durchführung von Bau- und Montageleistungen, von wissenschaftlich-technischen und sonstigen Leistungen und bestimmt die Aufgaben wirtschaftsleitender Organe bei der Organisation dieser Beziehungen“ (§ 1). Es enthält materielles Zivilrecht, das den zunächst noch geltenden vertragsrechtlichen Bestimmungen des BGB bzw. seit Beginn des Jahres 1976 des Zivilgesetzbuches der DDR (Dritter Teil) und anderen Zivilgesetzen vorgeht.
Betriebe im Sinne des Vertragsgesetzes sind VEB, Kombinate, VVB, rechtlich selbständige staatliche Organe und Einrichtungen, soweit sie Partner von Wirtschaftsverträgen sind, sozialistische Genossenschaften und ihre rechtlich selbständigen Einrichtungen, andere Betriebe, die Planaufgaben erhalten, gesellschaftliche Organisationen und ihre rechtlich selbständigen Einrichtungen.
II. Wirtschaftsverträge
Die Betriebe haben miteinander Wirtschaftsverträge abzuschließen, in denen Lieferumfang, Lieferfristen, Qualität und Sortiment u. a. m. geregelt sind. Dafür stehen verschiedene Vertragstypen des Leistungsrechts zur Verfügung (vgl. zur Abgrenzung der Leistungs- und Kooperationsverträge das untenstehende Schema): 1. Liefervertrag, 2. Vertrag über wissenschaftlich-technische Leistungen, 3. Investitionsleistungsvertrag, 4. Werkvertrag, 5. Nutzungs- und Kommissionsverträge, 6. Kreditvertrag, 7. Gütertransportvertrag, 8. Versicherungsvertrag, 9. Kooperationsvertrag.
Zu jedem Typ bestehen Untertypen, die auf verschiedenartige Anwendungsfälle zugeschnitten sind. So bestehen Untertypen des Liefervertrages für die Landwirtschaft, über die Binnenbeziehungen des [S. 1138]Außenhandels, für die Lieferung an militärische Abnehmer sowie über die Lieferung von Konsumgütern und von gebrauchten Anlagen und Ausrüstungen. Spezielle Ausprägungen des Vertrags über wissenschaftlich-technische Leistungen sind der Forschungsvertrag, der Entwicklungs- oder Erprobungsvertrag sowie Wirtschaftsverträge über Standardisierungsleistungen, über die Entwicklung neuer Konstruktionen und Erzeugnisse, die Entwicklung und Lieferung neuer chemischer Produkte sowie die entgeltliche Nachnutzung wissenschaftlich-technischer Resultate. Insgesamt besteht ein breit gefächertes System von Vertragsarten zur Regelung der unterschiedlichen Austauschprozesse in der Wirtschaft.
Das Vertragsgesetz von 1965 erhöht die Verantwortung der Betriebsleiter für den Abschluß und die Gestaltung der Wirtschaftsverträge. Während zuvor der Zeitpunkt des Vertragsabschlusses vielfach festlag, soll jetzt der Vertrag erst dann abgeschlossen werden, wenn die dafür erforderlichen wirtschaftlichen Voraussetzungen gegeben sind. Diese neue Regelung soll eine größere Beweglichkeit und Kontinuität in der Planung sichern. Da andererseits die Wirtschaftsverträge möglichst schon in der Phase der Planausarbeitung abgeschlossen werden sollen, gibt es häufig Auseinandersetzungen zwischen den Liefer- und Abnehmerbetrieben über den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses. In der VO zur Sicherung der Einheit von Plan und Vertrag vom 26. 1. 1978 (GBl. I, S. 85) wird deshalb generell vorgeschrieben, daß die Fertigung bzw. Dienstleistung erst dann begonnen werden kann, wenn der Absatz vertraglich gesichert ist. Eine Produktion „auf Verdacht“, d. h. ohne Absatzvertrag, soll damit unterbunden werden.
Dem Vertragsgesetz liegt das Prinzip der materiellen Verantwortlichkeit zugrunde. Bei Nichterfüllung oder nicht vertragsgerechter Erfüllung der vertraglichen Pflichten hat der Verletzer alle materiellen Folgen der Vertragsverletzung zu tragen. Der Partner ist berechtigt, die Abnahme der Leistungen zu verweigern, Garantieforderungen zu erheben, Vertragsstrafen und Preissanktionen zu veranlassen und Ersatz des darüber hinausgehenden Schadens zu verlangen. Bei mangelhafter Leistung ist der Lieferer zur Nachbesserung, Ersatzleistung oder Minderung seiner Forderung verpflichtet. Bei Leistungsverzug müssen Vertrags- und Preisstrafen zwischen 8 v. H. und 12 v. H. des Wertes der Leistung gezahlt werden. Zur Absicherung eines bedarfsgerechten Konsumgüterangebots wurde 1972 mit der „Wirtschaftssanktion“ eine weitere Sanktionsform eingeführt.
Die Verträge sollen genügend Spielraum für die Berücksichtigung von nachfolgenden technischen Verbesserungen und Weiterentwicklungen der Erzeugnisse sowie Kundenwünschen aufweisen. Sie laufen in der Regel über 1 Jahr (bis zur konkreten Planentscheidung für das anschließende Planjahr). Bei längerfristigen Fertigungs- und Leistungsprozessen werden auf der Grundlage von Fünfjahrplänen auch langfristige Wirtschaftsverträge, die vor allem die Kooperation in der Forschung, Entwicklung, Projektierung und bei der Errichtung kompletter Industrieanlagen betreffen, abgeschlossen.
III. Das Staatliche Vertragsgericht
Das durch VO vom 6. 12. 1951 geschaffene Vertragsgericht nahm im April 1952 seine Tätigkeit auf. Aufbau und Verfahren sind zuletzt in der VO über die Aufgaben und die Arbeitsweise des Staatlichen Vertragsgerichts vom 12. 3. 1970 (GBl. II, S. 209 ff.) geregelt worden. Das Staatliche Vertragsgericht ist kein Gericht, sondern ein zentrales staatliches Organ, das dem Ministerrat unterstellt und rechenschaftspflichtig ist. Das Gericht wird von einem Vorsitzenden (gegenwärtig: Manfred Flegel) geleitet. Es gliedert sich in das zentrale Vertragsgericht und in die Vertragsgerichte in den Bezirken und in Berlin (Ost) (Bezirks-Vertragsgerichte).
Die Tätigkeit des Staatlichen Vertragsgerichts wird durch Arbeitspläne geregelt, die nach „politisch-ökonomischen Schwerpunkten“ aufzustellen sind. Es hat die Betriebe und wirtschaftsleitenden Organe bei der Anwendung des V. zu unterstützen. Das Staatliche Vertragsgericht ist das zentrale staatliche Organ zur Entscheidung von Streitigkeiten aus Wirtschaftsrechtsverhältnissen. Es ist ferner zuständig für alle anderen vermögensrechtlichen Streitigkeiten zwischen Betrieben, Genossenschaften, staatlichen Organen und gesellschaftlichen Organisationen.
Über Streitfälle entscheidet das Staatliche Vertragsgericht in Schiedsverfahren. Diese Verfahren können sich auf die Gestaltung von Wirtschaftsverträgen und auf die Feststellung ihres Bestehens sowie auf den Anspruch auf Vertragsleistungen und auf die Sicherung der Vertragserfüllung richten. Daneben erteilt es auch besondere Auflagen (kontrollfähige Forderungen) zur Herbeiführung von notwendigen Entscheidungen durch die Leiter der Betriebe und wirtschaftlichen Instanzen. Die Tätigkeit des Vertragsgerichts besteht nicht nur in Konfliktentscheidungen, sondern auch darin, mit seiner Tätigkeit auf den planmäßigen Ablauf des Reproduktionsprozesses einzuwirken. Deshalb kann das Vertragsgericht auch Verfahren ohne Antrag einleiten, um eine plangerechte zwischenbetriebliche Zusammenarbeit zu sichern. Damit obliegen dem Vertragsgericht neben der Feststellung von Leistungsansprüchen und Ansprüchen zum Ausgleich von Nachteilen auch Verfahren zum Abschluß, zur Änderung oder Aufhebung von Verträgen. So sind vom Vertragsgericht Verfahren einzuleiten, wenn Wirtschaftsverträge zur Steuerung volkswirtschaftlich bedeutsamer Aufgaben nicht oder nicht rechtzeitig abgeschlossen wer[S. 1139]den, durch einseitiges betriebliches Verhalten volkswirtschaftliche Interessen bei der Gestaltung und Durchführung von zwischenbetrieblichen Kooperationsbeziehungen beeinträchtigt werden oder pflichtwidriges Unterlassen der Berechnung von Vertragsstrafe und anderen Sanktionen zu einer Störung in den zwischenbetrieblichen Beziehungen führen.
Hinzu kommt, daß auch außerplanmäßige Eingriffe übergeordneter Organe in den Planungsablauf Vertragskorrekturen bedingen; einen Anspruch auf Ausgleich der daraus resultierenden wirtschaftlichen Nachteile kommt dem Betrieb nach der neuen VEB-VO (GBl. I, 1973, S. 129 ff.) allerdings nicht mehr zu.
Handlungen oder Leistungen können vom Staatlichen Vertragsgericht durch Festsetzung eines Zwangsgeldes bis zu 50.000 Mark erzwungen werden. Die Beitreibung von Geldforderungen erfolgt gegenüber sozialistischen Betrieben durch Abbuchung vom Konto des Schuldners. Zur Vollstreckung in das Bankguthaben oder in eine andere Forderung eines nichtsozialistischen Betriebes erläßt das Gericht einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluß zugunsten des Staatshaushalts. Vertragsstrafen kann das Staatliche Vertragsgericht einziehen, wenn ihre Durchsetzung durch den Berechtigten nicht mehr möglich, pflichtwidrig unterlassen oder verzögert worden ist. Gegen Leiter und leitende Mitarbeiter eines Betriebes kann das Vertragsgericht bei Verletzung der Vertragsdisziplin Ordnungsstrafen bis zu 1.000 Mark verhängen.
Gegen Schiedssprüche der Bezirks-Vertragsgerichte können die Beteiligten und ihre übergeordneten Organe beim Vorsitzenden des Staatlichen Vertragsgerichts Einspruch einlegen. Dieser hat ein Nachprüfungsverfahren anzuordnen, wenn der Schiedsspruch „den im sozialistischen Recht enthaltenen Grundsätzen der Wirtschaftspolitik widerspricht und dem betroffenen Partner schwerwiegende Nachteile entstehen“.
Das Nachprüfungsverfahren kann der Vorsitzende des Staatlichen Vertragsgerichts selbst oder eine von ihm eingesetzte Nachprüfungskommission ohne mündliche Verhandlung durchführen. In den Verfahren vor den Vertragsgerichten können sich die Partner durch einen Rechtsanwalt, der Mitglied eines Anwaltskollegiums ist, vertreten lassen.
Planung; Wirtschaftsrecht; Rechtsanwaltschaft.
Ralf Rytlewski
Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 1136–1139
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