
Warschauer Pakt (1979)
Siehe auch:
Im Westen gebräuchliche Kurzform für den „Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“, der am 14. 5. 1955 zwischen der UdSSR, Albanien, Bulgarien, Polen, Rumänien, der CSSR und Ungarn als militärischer Beistandspakt abgeschlossen wurde. Die DDR wurde offiziell am 28. 1. 1956 als Mitglied, die Nationale Volksarmee (NVA) (bis 18. 1. 1956 gab es nur eine „Kasernierte Volkspolizei“) am 24. 6. 1956 in das Vereinte Oberkommando aufgenommen. Albanien ist im September 1968 aus Protest gegen den Einmarsch von WP.-Truppen in die CSSR am 21. 8. 1968 aus der Paktorganisation ausgetreten. Der WP. soll ausschließlich bei einem Angriff auf einen oder mehrere Unterzeichnerstaaten „in Europa“ wirksam werden. Er wurde auf die Dauer von 20 Jahren abgeschlossen und bleibt, da er 1975 nicht gekündigt wurde, weitere 10 Jahre in Kraft. Organe des WP. sind:
Der Politische Beratende Ausschuß (PBA); ihm gehören die Vorsitzenden der Ministerräte, d. h. die Regierungschefs der Mitgliedstaaten an. Dem PBA stehen Hilfsorganisationen zur Verfügung: a) Ständige Kommissionen (für Logistik, Rüstungsforschung usw.), b) das Vereinigte Sekretariat; Vorsitzender ist in Personalunion der Chef des Stabes des Vereinten Oberkommandos. Die Position ist stets mit einem hohen sowjetischen Armeeführer besetzt, gegenwärtig (seit Oktober 1976) mit Generaloberst A. Gribkow, dem bisherigen Befehlshaber des Leningrader Militärbezirkes. Der PBA gilt formal als höchstes Organ des WP.
Das Vereinte Oberkommando mit Sitz in Moskau; an der Spitze steht seit 1965 stets ein sowjetischer General, seit November 1976 Marschall W. G. Kulikow. Die Verteidigungsminister der Mitgliedstaaten fungieren als seine Stellvertreter. Sie leiten gelegentlich auch gemeinsame Manöver der Paktstreitkräfte.
Das Komitee der Verteidigungsminister (seit 1969); sie sind gleichzeitig stellvertretende Oberbefehlshaber der Vereinten Streitkräfte und Oberste Befehlshaber der Streitkräfte des eigenen Landes. Außerdem delegiert jedes Mitgliedsland einen hochrangigen Offizier als Vertreter in das Vereinte Oberkommando; das Oberkommando entsendet einen „Vertreter des Vereinten Oberkommandos“ in jedes Teilnehmerland.
Der Stab des Vereinten Oberkommandos mit Sitz in Moskau. Chef des Stabes ist bisher ein sowjetischer Militärführer. Stabskonferenzen mit den Stabschefs bzw. den Chefs der Hauptstäbe der Armeen der Mitgliedstaaten finden regelmäßig statt.
Als beratendes Organ fungiert der Militärrat der Vereinten Streitkräfte, Vorsitzender ist ebenfalls der Oberbefehlshaber bzw. Chef des Vereinten Oberkommandos. Ihm gehören ferner die Generalstabschefs der Mitgliedsländer und die Verbindungsoffiziere beim Vereinten Oberkommando an.
Da offenbar der PBA bisher die politische Aufgabe der Koordinierung der Außenpolitik der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erfüllt hat, wurde auf der Tagung vom November 1976, die erstmals seit 10 Jahren wieder in Bukarest stattfand, der weitere institutionelle Ausbau des WP. beschlossen. Zu diesem Zweck ist ein Komitee der Außenminister konstituiert worden, dessen bisher nicht näher beschriebene Kompetenzen z. T. von regelmäßigen Konferenzen der Stellvertretenden Außenminister der Mitgliedstaaten wahrgenommen werden.
Eine weitere Stärkung der politischen Funktionen des [S. 1158]WP. ist in den inzwischen zur Regel (Ausnahme: 1975) gewordenen Krim-Konferenzen der Ersten und Generalsekretäre der kommunistischen Parteien der WP.-Staaten zu sehen.
Dem Vereinten Oberkommando unterstehen im Kriegsfall alle Land- und Luftstreitkräfte der Teilnehmerstaaten; die Seestreitkräfte Polens, der DDR und der sowjetischen Ostseeflotte auch zu Friedenszeiten der Vereinten Ostseeflotte mit Sitz in Leningrad. In Friedenszeiten unterstellen die Teilnehmerstaaten nur Teile ihrer Streitkräfte dem Vereinten Oberkommando. Ständig unterstellt sind:
die sowjetischen Truppen in Polen (Gruppe Nord, Hauptquartier Liegnitz — 2 Divisionen), in Ungarn (Gruppe Süd, Hauptquartier Budapest — 4 Divisionen); in der CSSR (Zentrale Gruppe, Hauptquartier Milovice — 5 Divisionen); die Gruppe Sowjetischer Streitkräfte in Deutschland (GSSD) (Hauptquartier Wünsdorf bei Berlin — 21 Divisionen mit rd. 425.000 Mann, einschließlich 20 Raketen-Bataillonen, die mit taktischen Kurzstreckenraketen ausgerüstet sind. Ferner untersteht der GSSD die 24. Taktische Luftflotte, die als modernste Luftstreitmacht der Roten Armee gilt);
alle bewaffneten Verbände der Nationalen Volksarmee der DDR (NVA, Hauptquartier Strausberg bei Berlin, insgesamt rd. 203.000 Mann, einschließlich Grenztruppen) ohne Einheiten der Territorialverteidigung (ca. 493.000 Mann).
In der konventionellen Bewaffnung scheint der WP. dem Nordatlantischen Verteidigungsbündnis (NATO) zahlenmäßig weit überlegen zu sein.
Allerdings ist die Kampfkraft der Verbände nur schwer einzuschätzen; Vorteile auf Seiten des WP. bestehen aber darin, daß die Waffensysteme im Gegensatz zur NATO weitgehend standardisiert und bei einzelnen Typen (schwere Artillerie, Panzer) vollständig vereinheitlicht worden sind.
[S. 1159]
Die Bewaffnung aller Verbände der Mitgliedstaaten des WP. wurde auch qualitativ der der Roten Armee angeglichen und wird von westlichen Militärexperten als sehr modern und teilweise der NATO gleichwertig eingeschätzt. Obwohl die UdSSR sowohl der Ausrüstung als auch der Reorganisation der Armeen des WP., insbesondere nach der Invasion der CSSR 1968, größere Aufmerksamkeit widmete, hat sie bisher weder Atomwaffen noch strategische und taktische Trägersysteme an die Armeen der übrigen Mitgliedstaaten weitergegeben. Unbekannt ist, ob sie Personal der anderen „Bruderarmeen“ an atomaren Waffen ausbildet.
Seit Mitte 1976 sind verstärkte militärische Aufrüstungen im Rahmen des WP. festzustellen. So ist z. B. mit der Umrüstung der GSSD auf den modernsten sowjetischen Panzertyp, den T-72, begonnen worden. Ferner werden die mehr als 600 in Osteuropa und den westlichen Militärbezirken der UdSSR stationierten Mittelstreckenraketen (MRBM: Reichweite 5.000 km) mit modernsten Mehrfachsprengköpfen vom Typ SS-20 ausgestattet.
Seit 1961 werden gemeinsame Manöver der WP.-Staaten abgehalten. Neben einer großen Zahl von Kommando- bzw. Kommandostabs-, Nachschub- und Flottenübungen fanden u. a. folgende größere Landmanöver bzw. kombinierte Land- und Luftlandemanöver unter Beteiligung der NVA statt:
September 1962 „Vito“ (UdSSR. DDR, CSSR),
September 1963 „Quartett“ (UdSSR, DDR, Polen, CSSR),
April 1965 „Manöverübung Berlin“ (UdSSR, DDR), Oktober 1965 „Oktobersturm“ (UdSSR. DDR. Polen, CSSR),
September 1966 „Moldau“ (UdSSR, DDR, CSSR, Ungarn),
September 1967 „Dnjepr“ (UdSSR, CSSR, Ungarn, DDR),
Juli/August 1968 „Njemen“ (UdSSR. DDR. Polen, Ungarn),
September/Oktober 1969 „Oder-Neiße“ (UdSSR, Polen, DDR),
Oktober 1970 „Waffenbrüderschaft“ (UdSSR, DDR, CSSR, Ungarn, Bulgarien, Rumänien),
Oktober/November 1972 „Schild“ (UdSSR, DDR, CSSR, Polen, Ungarn).
September 1976 „Schild 76“ (UdSSR, Polen, CSSR, DDR).
Bereits 1973, 1974 und 1975 hatten Manöver unter dem Tarnnamen „Schild“ und mit Beteiligung dieser Staaten stattgefunden. Ferner fanden in Ungarn und Bulgarien eine Reihe von Manövern statt, an denen die NVA jedoch nicht teilnahm.
Die NVA nimmt im Rahmen der Vereinten Streitkräfte des WP. eine Sonderstellung ein: Sie gilt gegenwärtig als bestausgerüstete Truppe neben der Roten Armee.
Ihre Verbände gehören der 1965 gebildeten „1. Strategischen Staffel“, d. h. einer Gruppierung an, die vor allem aus Truppen der UdSSR, der DDR und Polens besteht. Diese voll mobile Formation hat im Fall einer kriegerischen Auseinandersetzung besondere Aufgaben zu erfüllen. Westliche Manöveranalysen legen die Vermutung nahe, daß sie auch für offensive Einsätze gerüstet und gegliedert ist.
DDR-Verteidigungsminister H. Hofmann hat bisher als einziger der Stellvertreter des sowjetischen Oberkommandierenden (mindestens) 2 große Manöver geleitet („Quartett“ und „Waffenbrüderschaft“).
Als einzige Armee ist die NVA voll in die Vereinten Streitkräfte integriert, sie besitzt keinen eigenen Generalstab.
Die Analyse des Textes des Warschauer Vertrages zeigt eine entscheidene Benachteiligung der DDR: Während alle nichtdeutschen Fassungen festlegen, daß die Teilnehmerstaaten selbst Umfang und Zeitpunkt der von ihnen zu leistenden Hilfe (im Beistandsfall) bestimmen, heißt es in der deutschen Übersetzung, daß der von der DDR zugunsten der anderen Mitglieder zu leistende Beistand von diesen bestimmt wird (Art. 11 Abs. 3). Im Gegensatz zu dem Stationierungsvertrag, der den Aufenthalt sowjetischer Truppen in Polen regelt und der polnischen Regierung formell ein Mitspracherecht bei Truppenbewegungen einräumt, sieht der Truppenstationierungsvertrag zwischen DDR und UdSSR (1957) nur eine „Verständigung“ vor.
Die politische Bedeutung des WP. resultiert vor allem aus seiner Funktion für die Blockpolitik der UdSSR. Aufgrund ihres militärischen und politischen Übergewichts in der Paktorganisation sichert er der sowjeti[S. 1160]schen Führung die Kontrolle über alle Streitkräfte der übrigen Staaten, die in Ausbildung, Ausrüstung, Bewaffnung und Logistik vollständig von der UdSSR abhängig sind. Darüber hinaus ist es der UdSSR möglich, durch direkte und indirekte Beeinflussung im Rahmen des WP. ihre sicherheits- und militärpolitischen Vorstellungen innerhalb ihres Einflußbereiches uneingeschränkt zur Geltung zu bringen.
Bemerkenswert ist, neben dem Ausbau der politischen Organe des WP., die seit der Tagung der Stellvertretenden Außenminister im Juli 1976 in Moskau zu beobachtende konsultative Teilnahme von Vertretern asiatischer Staaten (Mongolei, Vietnam, Laos) an den Beratungen der Mitgliedsländer.
Über die unmittelbare militärische Bedeutung des WP., d. h. seine Verteidigungsfunktion für das westliche Glacis der UdSSR, hinaus, garantiert er gleichzeitig die politische Stabilität des „sozialistischen Lagers“, wie der Einsatz der WP.-Truppen im August 1968 in der CSSR deutlich macht. Ein Austritt aus der Paktorganisation, wie im Jahr 1956 von der Regierung Nagy in Ungarn verkündet, wird von der UdSSR als Angriff gegen alle Mitglieder verstanden. Er hat den Einsatz militärischer Machtmittel der „Verbündeten“ zur Folge und ist daher praktisch unmöglich.
In welchem Umfang die UdSSR die politischen Druckmittel des WP. einzusetzen gedenkt, zeigen die besonders zahlreichen Zusammenkünfte der sowjetischen Führung mit polnischen und rumänischen Partei- und Regierungsvertretern vor allem im Jahr 1976. In beiden Fällen kam es bereits Ende 1976 zu gemeinsamen Erklärungen, in denen die Sowjets eine verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen des WP. durchsetzen konnten.
Die für den Fall der Auflösung der NATO dem Westen angebotene Kündigung des Warschauer Vertrages ist politisch ohne Bedeutung, da gegenwärtig zwischen allen Mitgliedstaaten und der UdSSR (wie zwischen den Teilnehmerländern selbst) bilaterale Beistandspakte geschlossen wurden, die von einer Auflösung des WP. nicht betroffen wären. Die DDR hat mit der UdSSR (1964), mit Polen, der CSSR, Ungarn und Bulgarien (1967 und 1977) und Rumänien (1972) ebenfalls derartige zweiseitige Verträge unterzeichnet, deren Beistandsklauseln denen des WP. entsprechen (Außenpolitik).
Die militärische Niederschlagung des ungarischen Aufstandes 1956 und die bewaffnete Invasion von Truppen des WP. in der CSSR 1968 stellen bisher die einzigen Fälle der „Anwendung“ des Warschauer Vertrages dar. In beiden Fällen handelt es sich um einen objektiven Bruch des Vertrages, der nur gegen Angreifer „von außen“, also gegen Nichtmitglieder, wirksam werden sollte.
Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 1157–1160