DDR von A-Z, Band 1979

Wirtschaftliche Rechnungsführung (1979)

 

 

Siehe auch die Jahre 1953 1954 1956 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1975 1985


 

Die WR. gilt im Selbstverständnis der DDR als eine zentrale objektive Kategorie der sozialistischen Produktionsverhältnisse zwecks Erfüllung der ökonomischen Gesetze des Sozialismus durch die als sozialistische Warenproduzenten organisierten Betriebe. In der von einem klassisch marxistischen Standpunkt vorgenommenen und in der DDR auch offiziell vertretenen Einschätzung, daß die VEB Erzeugnisse und Leistungen produzieren, die von vornherein für den Austausch, vermittelt durch Geld, bestimmt und daher Waren sind, obliegen der WR. wichtige Meß-, Kontroll- und Stimulierungsfunktionen für die Realisierung der Betriebsprozesse im Zeichen der Ware-Geld-Beziehungen. Die in der Literatur der DDR genannten Grundprinzipien der WR. sind, „mit möglichst niedrigen Ausgaben möglichst hohe Einnahmen zu erzielen“, eine dauerhafte hohe Rentabilität zu sichern und einen maximalen Nettogewinn zu erwirtschaften, letzterer definiert als Zielfunktion für die operative Betriebsführung (Gewinn).

 

Als wichtigste Voraussetzungen hierfür werden genannt: a) treuhänderische Ausstattung der Betriebe mit sog. Eigenen Fonds (unter Beachtung der prinzipiell unterschiedlichen Eigentums- und Dispositionsverhältnisse im Sinne der buchhalterischen Bilanz rechnerisch zu begreifen als Quasi-Korrelat zum Eigen-, Stamm- oder Grundkapital einer marktwirtschaftlichen Unternehmung); b) Verleihung des Status juristischer Selbständigkeit (Rechtsfähigkeit) an die VEB; c) Verpflichtung der Betriebe zur Aufbringung der Mittel für planmäßige, von übergeordneten Instanzen bewilligte Investitionen („Prinzip der Eigenerwirtschaftung der Mittel für die erweiterte Reproduktion“); d) Installierung und streng leistungsorientierte Nutzung des „Prinzips der Materiellen Interessiertheit“); e) materielle Verantwortung und Haftung der VEB für ihre wirtschaftliche Tätigkeit; f) exakte wert- und mengenmäßige Widerspiegelung der betrieblichen Ablaufprozesse durch eine vollständig reglementierte Buchführung und Berichterstattung sowie nicht zuletzt g) permanente Kontrolle und Analyse der wirtschaftlichen Tätigkeit der Betriebe durch betriebswirtschaftliche, finanzwirtschaftliche, administrative, technische und gesellschaftliche Kontrolleinrichtungen und -Organe. Hierzu zählen u. a. intensive Buch- und Betriebsprüfungen, innerbetrieblich durch den Hauptbuchhalter, überbetrieblich durch die „Staatliche Finanzrevision“ vertreten, eine dezidierte Bankenaufsicht in Verbindung mit dem Prinzip „Kontrolle durch die Mark“, die Berichtspflicht und Weisungsabhängigkeit der VEB-Leitung gegen[S. 1185]über übergeordneten Instanzen, Empfehlungsfunktionen der Technischen Kontrollorganisation (TKO) im Betrieb sowie insbesondere Einsichtnahme-, Mitwirkungs- und Anzeigebefugnisse der Betriebsparteiorganisation, der Betriebsgewerkschaftsorganisation, der betrieblichen Ständigen ➝Produktionsberatungen und der Arbeiter-und-Bauern-Inspektionen (ABI).

 

Die Geltung des Prinzips der WR. stand bis 1971 unter der Devise, das Problem der „Dialektik von schöpferischer Initiative der Betriebe und gesellschaftlicher Plandisziplin“ zu meistern. Nach neuerer, im Schrifttum der DDR entwickelter Definition sollen damit die materiellen Interessen der Betriebe mit den Interessen der Gesellschaft in Verbindung gebracht werden, wobei in der aktuellen Diskussion (seit der Jahreswende 1977/78) ausdrücklich eingeräumt wird, daß „nichtantagonistische Widersprüche zwischen der Planung und der WR. auftreten“ können.

 

Ideologisch-zeithistorische Basis für das heute in der DDR geltende Verständnis von WR. ist das von Lenin entwickelte Prinzip „Chosrastschot“ (Kurzbezeichnung für „chosjaistwennyi rastschot“, in den amtlichen Übersetzungen der DDR interimistisch kurze Zeit als „Prinzip der Eigenwirtschaftlichkeit“ wiedergegeben, seitdem einheitlich WR. genannt). Von Lenin selbst möglicherweise lediglich als Übergangsempfehlung für die Periode der „Neuen Ökonomischen Politik“ (NEP) gedacht, wurde das Chosrastschot-Prinzip auch nach Beendigung der NEP durch einen Beschluß des ZK der KPdSU (B) vom 28. 12. 1929 ausdrücklich als weiter gültige Methode sozialistischer Betriebsführung bestätigt. Bis in die Gegenwart wird die konsequente Entwicklung der Prinzipien der WR. in Industriebetrieben, in Kolchosen, Sowchosen und den übrigen Teilbereichen der Wirtschaft sowohl in der UdSSR wie in der DDR als „sehr aktuell“ bezeichnet.

 

In der DDR wurde schon anläßlich der „Großen Finanzpolitischen Konferenz“ vom September 1951 das System der WR. als die grundlegende Methode verkündet, die nach den Erfahrungen des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion als die zweckmäßigste Form der Leitung der VEB anzuwenden sei. Ihre erste gesetzliche Untermauerung fand die WR. mit der VO über Maßnahmen zur Einführung des Prinzips der WR. in den Betrieben der volkseigenen Wirtschaft vom 20. 3. 1952. Unbeschadet mancher Schwankungen in der Wertung anderer Elemente der Planung und Leitung im Zuge der Wirtschaftsreformen der DDR in den letzten zwei Jahrzehnten bildet die WR. seitdem konstant ein zentrales Anliegen der wirtschaftsleitenden Organe der DDR. Dies gilt gleichermaßen für die Periode des Neuen Ökonomischen Systems (NÖS) von 1963 bis 1967, für die Phase des auf dem VII. Parteitag der SED (1967) verkündeten Ökonomischen Systems des Sozialismus (ÖSS) und seiner Anwendung in der DDR sowie für die neueren Direktiven seit dem VIII. Parteitag der SED (1971). Auf dem IX. Parteitag (1976) erklärte Generalsekretär E. Honecker u. a.: „Die ökonomischen Kategorien Kosten, Preis und Gewinn sind effektiver für eine hohe Wirksamkeit der Intensivierung, insbesondere für die ständige Verbesserung des Verhältnisses von Aufwand und Leistung zu nutzen … Bei alledem spielen die wirtschaftliche Rechnungsführung und die sozialistische Betriebswirtschaft eine bedeutsame Rolle.“

 

Der Verwirklichung des Systems der WR. in der betrieblichen Praxis der DDR dient ein umfangreiches Bündel von Verfahrens- und Verhaltensweisen. Hierzu zählen u. a. das Sparsamkeitsregime („Spare mit jeder Sekunde, mit jedem Pfennig und jedem Gramm“), das Vertragssystem, das Dispatchersystem, Nutzung des technischen Fortschrittes, Standardisierung und Normung, Mechanisierung und Automatisierung, die Initiierung des Sozialistischen Wettbewerbs und seine Nutzung für innerbetriebliche WR. zum Zwecke der Steigerung der Arbeitsproduktivität sowie die Anwendung solcher mit dem „Wertgesetz“ verbundenen Kategorien wie Umsatz, Preis, Kosten, Gewinn, Lohn, Prämien, Produktionsfondsabgabe oder zinspflichtiger Kredit für die ökonomische Stimulierung der Betriebe.

 

Für die 2. Hälfte des Fünfjahrplanes 1976–1980 gelten ― rebus sic stantibus ― als Hauptziele die Erhöhung der Wirksamkeit der WR, durch ihre engere Verbindung mit der Planung, ihre stärkere Ausrichtung auf die quantitativen Faktoren des Wirtschaftswachstums, ihre Nutzung zur besseren Erfüllung der Exportverpflichtungen sowie die Präzisierung der Voraussetzungen, Ziele und Grundrichtungen der innerbetrieblichen WR., die „als eine verselbständigte, nach ihnen gerichtete Form der WR. … mit dem Ziel höchstmöglicher Effektivität“ verstanden wird. Bei dieser Zielsetzung geht es im Dienst der „sozialistischen Intensivierung“ insbesondere um die Verbesserung der Meßfunktion der WR., die Verstärkung qualitativer Kennziffern, die Verbesserung der ökonomischen Information, die Vervollkommnung der Haushaltsbücher, die Einsparung von Arbeitszeit und Material, die Senkung der Kosten, d. h. vor allem um die Erschließung aller Leistungsreserven.

 

Wenn auch die WR. prinzipiell als ein komplexes Gesamtsystem für alle Tätigkeitsbereiche und Aktionsformen der als sozialistische Warenproduzenten organisierten VEB zu verstehen ist und ihre Funktionen somit ― was sich vom Terminus her anbietet ― keineswegs auf die Begriffe Buchführung oder Rechnungswesen reduziert werden dürfen, bilden dennoch eben diese Bereiche betriebswirtschaftlich zwangsläufig einen besonders wichtigen Bestandteil der verschiedenen Methoden, mit deren Hilfe die Erfüllung der Anforderungen der WR. stimuliert und kontrolliert werden soll.

 

In diesem Kontext ist auf mannigfaltige Verordnungen zur Ausgestaltung des grundsätzlich nach dem System der Doppelten Buchführung strukturierten betrieblichen Rechnungswesens in der DDR zu verweisen, bei denen vielfach Empfohlenes widerrufen und Widerrufenes erneut empfohlen wurde. (So z. B. VO über die Finanzwirtschaft volkseigener Betriebe von 1948, Grundsätze des „Neuen Rechnungswesens“ von 1952, VO über die Buchführung und buchhalterische Bericht[S. 1186]erstattung der volkseigenen Industriebetriebe von 1955, Selbstkostenverordnung vom 12. 7. 1962, Einführung des Einheitlichen Systems von Rechnungsführung und Statistik: ab 1968 gem. allgemeiner VO und industriebetrieblich ergänzender AO in den Gesetzblättern der DDR — Teil II — vom 5. und 30. 7. 1966, neu gefaßt gem. AO vom 20. 6. 1975 — GBl. I, S. 585 ff. und GBl. Nr. 800, S. 1–24, VO über die Produktionsfondsabgabe vom 16. 12. 1970 oder AO über die zentrale staatliche Kalkulationsrichtlinie vom 1. 11. 1972 bzw. deren Neufassung vom 10. 6. 1976 — GBl. I, S. 321 ff.)

 

Wie auch immer diese gesetzlichen Bestimmungen im einzelnen ausgestaltet sein mögen, läßt sich aus ihnen doch immer wieder das generelle Anliegen der Wirtschaftsorgane der DDR ablesen, das System der betrieblichen Wirtschaftsrechnung tendenziell aus einer statischen Gegenüberstellung von Aufwands- und Ertragskomponenten herauszuführen und dahingehend weiterzuentwickeln, daß es der Dynamik des Reproduktionsprozesses unter den Bedingungen der Wissenschaftlich-technischen Revolution gerecht wird. Daß dieses Ziel bisher noch nicht erreicht ist, wird in den einschlägigen Verlautbarungen der DDR nicht nur nicht bestritten, sondern (so u. a. regelmäßig in den Präambeln der einschlägigen, etappenweise wiederkehrenden VO) ausdrücklich eingeräumt. Es ist folglich kein Zufall, daß in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur der DDR Probleme der Vervollkommnung und der weiteren Ausgestaltung der WR. — im Einklang mit neueren Diskussionen in der UdSSR unter dem Schlagwort „Die WR. im reifen Sozialismus“ — einen breiten Raum einnehmen.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 1184–1186


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.