DDR von A-Z, Band 1979

Wissenschaftlich-technische Revolution (WTR) (1979)

 

 

Siehe auch:

  • Wissenschaftlich-technische Revolution: 1966
  • Wissenschaftlich-technische Revolution (WTR): 1975 1985

 

Bezeichnung für die sich aus dem Prozeß einer zunehmenden Bedeutung der Wissenschaften für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ergebenden qualitativen Veränderungen.

 

Nach marxistisch-leninistischer Deutung wird die Wissenschaft immer mehr zur „unmittelbaren Produktivkraft“. In der Diskussion werden wesentlich 4 Richtungen der Einwirkung auf die Gesellschaft thematisiert:

 

1. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung vergegenständlichen sich direkt in neuen Produktionsmitteln. Produktionsverfahren und Technologien; umgekehrt werden auch die Wissenschaften inhaltlich und organisatorisch von den Bedürfnissen und Erfahrungen der Produktion geprägt;

 

2. eines der wichtigsten Ergebnisse der neuen Qualität der Wissenschaft im Produktionsprozeß ist die Ablösung der bisherigen Maschinentechnik durch die Automatisierung der Fertigungsprozesse; die Kontrolle und Regelung der Produktion erfolgt weitgehend durch kybernetische Steuerungssysteme. An die Stelle natürlicher Rohstoffe treten verstärkt künstliche Materialien (Chemisierung der Produktion);

 

3. nicht nur die Naturkräfte werden durch die Wissenschaft beherrschbar, vielmehr wird die rationelle Organisation der Arbeit selbst Gegenstand spezieller Wissenschaften; auch die Gesellschaftswissenschaften werden unmittelbar produktiv und verschmelzen teilweise mit den Naturwissenschaften, beispielsweise in den technischen Wissenschaften. Wissenschaftliche ➝Arbeitsorganisation bestimmt die Formen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die Verwendung der gesellschaftlichen Arbeitskräftefonds und des Arbeitsablaufs;

 

4. die Stellung des Menschen in der Produktion unterliegt einem grundlegenden Wandel. Der Mensch tritt neben den Fertigungsprozeß; er wird von schwerer Handarbeit und schematischen geistigen Arbeiten befreit. Zugleich wachsen die Anforderungen an das Bildungsniveau. Die Wissenschaft, zum wichtigsten Hebel zur Steigerung der Arbeitsproduktivität geworden, schafft die Möglichkeit, die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit zu verkürzen und damit die materiellen Voraussetzungen für die Aneignung der erforderlichen kulturellen und technischen Fähigkeiten durch die Gesellschaftsmitglieder. Die Aufhebung des Unterschieds zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, eine der Voraussetzungen für die angestrebte klassenlose, kommunistische Gesellschaft, wird möglich.

 

Die zentrale Bedeutung, die der Entwicklung der Wissenschaften in der WTR zugemessen wird, die außerordentlichen Aufwendungen, die moderne Forschungen erfordern, und ihre Orientierung an langfristigen Zielvorstellungen machen die Einbeziehung der Wissenschaften in die volkswirtschaftliche Planung notwendig. Wissenschaftsplanung und -Organisation werden zu einem Kernstück der Gesellschaftsplanung.

 

Die WTR vollzieht sich in allen entwickelten Industriegesellschaften unabhängig von deren Gesellschaftsordnung. Der Marxismus-Leninismus geht jedoch davon aus. daß die WTR in kapitalistischen Systemen die gesellschaftlichen Gegensätze verschärft und daher die Umwandlung dieser Gesellschaften in sozialistische beschleunigt. Nur in sozialistischen Systemen, wie sie in den Mitgliedsstaaten des RGW bestehen, könne die WTR zum Abschluß gebracht werden. Im Prozeß der [S. 1192]WTR würden die ökonomischen, technischen, kulturellen und sozialen Grundlagen für die kommunistische Gesellschaft geschaffen. Darüber hinaus erfordere die WTR eine die nationalen Grenzen überschreitende Kooperation zwischen den sozialistischen Staaten des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), sie fördere die „sozialistische Integration“ und habe diese für ihren weiteren erfolgreichen Verlauf zur Voraussetzung.

 

Das Konzept der WTR hat sich erst in langwierigen Auseinandersetzungen nicht zuletzt mit westlichen soziologischen Theorien und Konzeptionen über die Entwicklungsperspektiven der Industriegesellschaften, die Folgen der Automatisierung und der Anwendung der Kybernetik, die Möglichkeit konvergierender Entwicklungstendenzen in hochindustrialisierten Gesellschaften mit unterschiedlicher Eigentumsordnung Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre durchgesetzt. Maßgebend für die Widerstände gegen die Auffassung von einer erneuten Revolution war vor allem die Befürchtung, daß die bestehenden politischen Strukturen in Frage gestellt und die Systemunterschiede verwischt werden könnten.

 

Für das Akzeptieren des Konzepts der WTR sprachen letztlich die nicht zu leugnenden qualitativen Besonderheiten der zu beobachtenden Veränderungen im wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Bereich. Zudem bietet das WTR-Konzept Zukunftshoffnungen an, die aus dem bis dahin vorherrschenden Verständnis des Marxismus-Leninismus nicht zu gewinnen waren:

 

Die WTR verspricht einen konkreten Weg zur Annäherung an die Zukunftsgesellschaft, läßt einen kontrollierten Wandel des eigenen Systems zu und ermöglicht gewisse Formen der ökonomischen, technischen und wissenschaftlichen Kooperation mit kapitalistischen Staaten, ohne die Systemunterschiede im Grundsätzlichen preiszugeben.

 

Die besonders in der DDR in der Zeit des Ökonomischen Systems des Sozialismus zu beobachtende, im nachhinein häufig naiv anmutende Hoffnung auf rasche Ergebnisse der WTR, von der die kurzfristige Lösung aller offenen Probleme erwartet wurde, ist spätestens seit dem VIII. Parteitag der SED (1971) einer nüchterneren und problemorientierteren Sicht gewichen. Die Vorrangstellung der Intelligenz, als der soziologischen Trägerin der „Hauptproduktivkraft“ Wissenschaft, wurde durch eine stärkere sozialpolitische Orientierung auf die Bedürfnisse der breiten Massen beschnitten, das Bildungsprogramm an die volkswirtschaftlichen Notwendigkeiten und Möglichkeiten angeglichen, die Investitionsvorhaben stärker an einem technisch-evolutionären Fortschritt orientiert. Die ungewollten Folgen der WTR (Umweltschutz, Arbeitsschutz, Monotonieprobleme am Arbeitsplatz, zunehmende Differenzierung der gesellschaftlichen Strukturen usw.) nehmen einen immer größeren Raum in den Diskussionen um die WTR ein und sind ein Hinweis, daß die sich aus diesem Wandlungsprozeß ergebenden Konflikte deutlicher in das Blickfeld geraten sind. Angesichts der schwieriger gewordenen wirtschaftlichen Lage, dem fortbestehenden Mangel an Arbeitskräften, der sich verschärfenden Konkurrenzsituation auf dem Weltmarkt usw. gilt jedoch die Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts als vorrangiges Ziel der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der Partei- und Staatsführung der DDR.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 1191–1192


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.