
Zivilprozeß (1979)
Siehe auch die Jahre 1956 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1975 1985
Der Z. ist durch das Gesetz über das gerichtliche Verfahren in Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen — Zivilprozeßordnung — (ZPO) vom 19. 6. 1975 (GBl. I, S. 533), in Kraft befindlich ab 1. 1. 1976, geregelt. Die ZPO von 1975 löst die ZPO von 1877 ab, die in der DDR zusammen mit anderen reichsrechtlichen Verfahrensregelungen (Konkursordnung von 1877, Gerichtskostengesetz von 1878, Zwangsversteigerungsgesetz von 1897, Vergleichsordnung von 1935) bis 1975 grundsätzlich weitergegolten haben. Sie überwindet darüber hinaus den Zustand der im Bereich des Z. entstandenen Rechtszerplitterung durch Zusammenfassung des Rechtsstoffes in einer abschließenden Kodifikation. Diese Rechtszersplitterung war dadurch entstanden, daß auf der Basis der fortgeltenden ZPO von 1877 wegen der Veränderung der Gerichtsverfassung zusätzliche Sonderregelungen erlassen worden waren (wichtig vor allem die Angleichungs-VO vom 4. 10. 1952, GBl., S. 988). Auch andere Änderungen des Z.-Rechts erfolgten durch nicht in die ZPO eingearbeitete Sonderbestimmungen. Hinzu kam, daß die Verfahren in Arbeits- und Familiensachen [S. 1215]aus der ZPO ausgeklammert und durch eigene Verfahrensordnungen geregelt wurden (Arbeitsgerichtsordnung vom 29. 6. 1961, GBl. II, S. 271; Familienverfahrensordnung vom 17. 2. 1966, GBl. II, S. 171); ebenso das Gerichtsvollzieherwesen (VO vom 4. 10. 1952, GBl., S. 993). Die Neukodifizierung des Z.-Rechts war seit 1958 vorgesehen. Ein von einer Kommission des Ministerrates zur Ausarbeitung des Zivilgesetzbuches fertiggestellter erster Entwurf einer ZPO ist im Jahre 1970 Mitarbeitern der Gerichte, der Staaatsanwaltschaft, der Rechtsanwaltschaft und der rechtswissenschaftlichen Sektionen der Universitäten zur Diskussion zugänglich gemacht worden (Wünsche, Neue Justiz, 1970, Heft 6, S. 161 ff.). Eine Veröffentlichung des Entwurfs ist jedoch nicht erfolgt.
Mit der ZPO von 1975 ist erneut eine allgemeine Verfahrensordnung für Verfahren der ordentlichen Gerichte in Zivil-, Familien- und Arbeitssachen geschaffen worden. Ihre Bestimmungen sind auch auf sonstige den Kammern oder Senaten für Zivil-, Familien- und Arbeitsrecht zur Entscheidung übertragene Angelegenheiten anzuwenden. Damit hat sich der Gesetzgeber für einen weiteren Begriff des Z. entschieden, dessen Anwendbarkeit nicht auf das materielle Zivilrecht beschränkt ist, sondern über dieses hinausgeht. Grundsätzlich keine Anwendung findet das Z.-Recht auf vermögensrechtliche Streitigkeiten zwischen sozialistischen Betrieben und auf sämtliche Streitfälle bei der Gestaltung und Erfüllung von Verträgen im Rahmen des Vertragssystems. Diese fallen in die Zuständigkeit des Staatlichen Vertragsgerichts mit eigenen Verfahrensregelungen. Ebenso gelten besondere Verfahrensbestimmungen für die Konflikt- und Schiedskommissionen (Gesellschaftliche Gerichte), obwohl die bei ihnen anhängigen Verfahren z. T. in den Geltungsbereich des Z.-Rechts gehören (Zivil- oder Arbeitssachen).
Die ZPO enthält 209 Paragraphen und ist in 7 Teile gegliedert: 1. Grundsätzliche Bestimmungen, 2. Verfahren vor dem Kreisgericht (einschließlich Vollstreckungsrecht), 3. Rechtsmittelverfahren, 4. Kassations- und Wiederaufnahmeverfahren, 5. Kosten des Verfahrens, 6. Rechtsverkehr mit anderen Staaten und 7. Übergangs- und Schlußbestimmungen. Wesentliche Abweichungen im Aufbau gegenüber der alten ZPO liegen in dem Verzicht auf die Voranstellung eines umfänglichen eigenen Teils mit allgemeinen Vorschriften, in der Einarbeitung der besonderen Bestimmungen für Familien- und Arbeitssachen, aber auch anderer besonderer Verfahrensarten, wie des Entmündigungs- und Aufgebotsverfahrens sowie des gesamten Vollstreckungsrechts in die Bestimmungen für das hierfür zuständige Kreisgericht, ferner in der Einarbeitung des Kostenrechts in die ZPO. Die Vereinfachung der Gliederung ist zum Teil dadurch möglich geworden, daß in Zivilsachen in erster Instanz grundsätzlich das Kreisgericht zuständig ist, sofern wegen der besonderen Bedeutung des Falles nicht das Bezirksgericht für zuständig erklärt wird.
Die ZPO ist von der Offizialmaxime beherrscht; d. h. die Gerichte sind verpflichtet, die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen aufzuklären und wahrheitsgemäß festzustellen (§ 2). Dem dient auch ein Mitwirkungsrecht des Staatsanwalts an jedem Verfahren einschließlich der Befugnis, Rechtsmittel einzulegen und in den rechtlich vorgesehenen Fällen auch selbständig zu klagen (§ 7). Sofern es zur Aufklärung des Sachverhalts oder zur Erhöhung der Wirksamkeit des Verfahrens erforderlich ist, haben die Gerichte auch Beauftragte von Kollektiven der Werktätigen und gesellschaftlichen Organisationen am Verfahren zu beteiligen (§ 4). Die Prozeßparteien sind berechtigt und verpflichtet, am Verfahren teilzunehmen und bei der Feststellung des Sachverhalts mitzuwirken. Sie haben Anspruch auf rechtliches Gehör und Akteneinsicht. Sie können sich durch Prozeßbevollmächtigte vertreten lassen (§ 3). In Arbeitsrechtssachen hat der FDGB ein allgemeines Prozeßvertretungsrecht (§ 5).
Die ZPO kennt folgende Klagen: die Leistungs-, Vornahme-, Duldungs- oder Unterlassungsklage, die Gestaltungsklage, die Feststellungsklage, die Änderungsklage sowie die Anfechtungsklage gegen Entscheidungen eines gesellschaftlichen Gerichts oder eines Verwaltungsorgans, letztere, soweit dies rechtlich zulässig ist. Klagen auf künftig fällig werdende Leistungen sind, mit Ausnahme von Unterhaltsforderungen, nur bei Gefahr im Verzüge zulässig (§ 10). Klagen auf Beendigung einer Ehe sind mit dem Verfahren über die Regelung des elterlichen Erziehungsrechts, des Unterhalts der minderjährigen Kinder und gegebenenfalls der Unterhaltsregelung zwischen den Ehegatten zu verbinden. Andere Folgeregelungen können auf Antrag mit der Klage verbunden werden (§ 13). Nach Einreichung der Klage prüft das Gericht die Schlüssigkeit. Es kann dem Kläger Gelegenheit geben, unschlüssige Klagen zu korrigieren. Offensichtlich unbegründete Klagen kann es durch Beschluß abweisen (§ 28). Ebenfalls durch Beschluß ist die Klage als unzulässig abzuweisen, wenn Gründe vorliegen, die eine Verhandlung und Entscheidung in der Sache ausschließen (§ 31). Bei der Vorbereitung der Verhandlung hat der Vorsitzende gegebenenfalls auch einen Beauftragten eines Kollektivs der Werktätigen oder einer gesellschaftlichen. Organisation zu laden. In Arbeitsrechtssachen ist der zuständige Kreisvorstand des FDGB zu benachrichtigen. Erfordert es die Bedeutung der Sache, ist der Staatsanwalt zu informieren (§ 32). Mehrere Ansprüche können vom Gericht miteinander verbunden oder voneinander getrennt werden (§ 34). Ein von einem Verfahren Betroffener kann auf Antrag als Kläger oder Verklagter in den Prozeß einbezogen werden (§ 35). Einer Prozeßpartei, die ihre Interessen nicht selbst wahrnehmen kann, hat das Gericht einen Prozeßbeauftragten zu bestellen (§ 36).
Für die Verhandlung gelten die Grundsätze der Mündlichkeit (§ 42), wovon Ausnahmen zulässig sind (§ 65), und der Öffentlichkeit (§ 43), wobei das Gericht, wenn die Bedeutung und die Auswirkung der Sache dies erfordern, die Anwesenheit von Kollektiven aus den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen veranlassen, sich in der Terminierung hierauf einstellen und auch den Verhandlungsort außerhalb des Gerichtsgebäudes wählen kann (erweiterte Öffentlichkeit) (§ 43). Der Ausschluß der Öffentlichkeit ist aus Gründen der Staatssicherheit, der öffentlichen Ordnung, der Geheimhaltung und der Sittlichkeit, in Ehescheidungssachen darüber hinaus im Interesse der Sachaufklärung oder der Überwindung des Ehekonflikts möglich (§ 44). Bei der Verhandlung hat das Gericht auf eine Einigung (Vergleich) hinzuwirken (§ 45), sie muß jedoch den Grundsätzen des sozialistischen Rechts entsprechen (§ 46). In Ehescheidungssachen ist im Normfall eine Aussöhnungsverhandlung durchzuführen, in deren Ergebnis das Ehescheidungsverfahren bis zu einem Jahr ausgesetzt werden kann (§§ 48, 49). Über unaufgeklärte oder streitige Tatsachen hat das Gericht Beweis zu erheben. Es kann auch über von den Prozeßparteien nicht vorgebrachte Tatsachen Beweis erheben (Inquisitionsmaxime) (§ 54). Als Beweismittel gelten: Zeugenaussagen (einschließlich schriftlicher Erklärungen von Zeugen), Aussagen über Tatsachen von Beauftragten von Kollektiven, Sachverständigengutachten, Aussagen von Prozeßparteien, Urkunden und sonstige Aufzeichnungen oder Gegenstände, Auskünfte von staatlichen Organen, Betrieben oder gesellschaftlichen Organisationen (§ 53). Ein Zeugnisverweigerungsrecht haben der Ehegatte, Geschwister, Verwandte in gerader Linie und durch Annahme an Kindes Statt mit einer Prozeßpartei verbundene Personen; außerdem jeder Zeuge, der sich oder eine Person, zu der er in einer der erwähnten Beziehungen steht, durch seine Aussage der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen würde. Das Zeugnisverweigerungsrecht besteht nicht, soweit nach dem Strafgesetz eine Anzeigepflicht besteht (§ 56). Eine Vereidigung von Zeugen und Sachverständigen ist nicht mehr vorgesehen (Eid).
Die Entscheidung zur Sache ergeht durch Urteil auf der Grundlage des festgestellten Sachverhalts. Eine Sachentscheidung darf nur ergehen, wenn der Sachverhalt geklärt ist; ein Versäumnisurteil gibt es nur mehr unter dieser modifizierten Voraussetzung (§§ 66, 67). Grundsätzlich ist das Urteil schriftlich zu begründen (Ausnahmen in § 78 Abs. 3); es ist zu verkünden und den Prozeßparteien innerhalb von zwei Wochen zuzustellen. Bei Verurteilungen zur Zahlung soll das Urteil zugleich Bestimmungen über Art und Weise der Erfüllung enthalten, darüber hinaus können Leistungsfristen und Ratenzahlungen festgelegt werden (§ 79). Ein Urteil wird spätestens zwei Wochen nach Zustellung rechtskräftig, sofern kein Rechtsmittel eingelegt wurde.
Ordentliche Rechtsmittel sind die Berufung der Prozeßparteien, der Protest des Staatsanwalts gegen alle erstinstanzlichen Urteile, mit Ausnahme von Ehescheidungsurteilen, und die Beschwerde gegen Beschlüsse. Berufung und Protest bewirken eine Überprüfung des angefochtenen Urteils in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht (§ 154). Berufungsgericht für erstinstanzliche Urteile des Kreisgerichts ist das Bezirksgericht, für erstinstanzliche Urteile des Bezirksgerichts das Oberste Gericht. Das Berufungsgericht kann das angefochtene Urteil aufheben und in der Sache selbst entscheiden oder die Berufung abweisen. Eine Zurückweisung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung soll nur ausnahmsweise erfolgen (§ 156). Rechtskräftige Entscheidungen können binnen eines Jahres nach Eintritt der Rechtskraft vom Generalstaatsanwalt oder vom Präsidenten des Obersten Gerichts (Entscheidungen des Kreisgerichts auch vom Bezirksstaatsanwalt oder vom Direktor des Bezirksgerichts) durch Kassation angefochten werden (§ 160). Das Kassationsgericht kann die angefochtene Entscheidung aufheben und in der Sache selbst entscheiden, den Fall zur erneuten Verhandlung zurückverweisen oder den Kassationsantrag abweisen (§ 162). Daneben besteht unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens (§ 163).
Im Vollstreckungsrecht räumt die ZPO bei der Vollstreckung gegen Einzelschuldner der Pfändung der Arbeitseinkünfte Vorrang ein (§ 86). Dabei wird dem Betrieb ebenso wie dem Arbeitskollektiv eine Hilfsfunktion bei der Vollstreckung zugedacht. Bei der Pfändung von Arbeitseinkünften des Schuldners wegen regelmäßiger Zahlungsansprüche von Familienunterhalt, Unterhalt und Miete sind die Beträge nach Abzug der unpfändbaren Einkünfte in voller Höhe vom Betrieb einzubehalten (§ 101). Bei der Pfändung wegen sonstiger Ansprüche wird der pfändbare Betrag auf der Grundlage des monatlichen Nettodurchschnittsverdienstes im Einzelfall ermittelt (§ 102). Bei Vollstreckungen gegen Volkseigene Betriebe muß das übergeordnete Organ die Erfüllung aus Mitteln des Betriebes veranlassen; bei Genossenschaften und gesellschaftlichen Organisationen erfolgt die Vollstreckung nur in Geld und Sachen, die nicht Grundlage ihrer Tätigkeit oder Aufgaben sind (§ 87). Vollstreckungsgericht ist das Kreisgericht. Mit der Durchführung ist der Sekretär betraut; er kann im Interesse des Gläubigers oder des Schuldners Entscheidungen über die Art und Weise der Erfüllung eines Anspruchs treffen oder diese ändern (§ 94).
Der Z. ist grundsätzlich kostenpflichtig (Gerichtskosten und außergerichtliche Kosten). Keine Gerichtskosten werden in Arbeitsrechtssachen, für einstweilige Anordnungen, für Entmündigungsverfahren, für Vollstreckbarkeitserklärungen von Beschlüssen gesellschaftlicher Gerichte und für das Kassationsverfahren erhoben (§ 168). Eine Prozeßpartei, die nicht über die erforderlichen Geldmittel verfügt, kann von der Vorauszahlungspflicht befreit werden; außerdem kann ihr ein Rechtsanwalt auf Staatskosten beigeordnet werden (§ 170). Der Grundsatz, daß die unterliegende Partei die Kosten des Verfahrens zu tragen hat, ist, von Ausnahmen abgesehen, beibehalten worden (§ 174).
Im Rechtsverkehr mit anderen Staaten gilt der Grundsatz der Gleichbehandlung von Bürgern anderer Staaten, Staatenlosen und juristischen Personen, deren Rechtsstellung sich nach fremdem Recht bestimmt (§ 181). Für die Gewährung von Rechtshilfe gegenüber Gerichten anderer Staaten gilt der Grundsatz des Ordre public und der Gegenseitigkeit (§ 187); Entsprechendes gilt für die Anerkennung von Entscheidungen von Gerichten anderer Staaten (§ 193).
Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 1214–1215