Architektur (1979)
I. Theorie
A. als das Ergebnis einer Tätigkeit, die sich mit der Gestaltung der räumlichen Umwelt befaßt, hat von jeher einen ästhetischen (Baukunst) und ökonomischen (Bauwesen) Aspekt. Nach Auffassung der Theoretiker in der DDR sind durch die Veränderungen des gesellschaftlichen Systems seit 1945 zum ersten Male auf deutschem Boden die Voraussetzungen geschaffen worden, den Dualismus zwischen der künstlerischen und ökonomischen Seite des Bauens zu überwinden. Der Gegensatz von wenigen Kunstbauten und der Vielzahl kunstloser Bauten sei beseitigt und das Künstlerische zu einem durchgängigen Moment der Umweltgestaltung geworden, weil mit dem Marxismus-Leninismus die Möglichkeit bestehe, die objektiven Funktionen und Wirkungen der A. für die gesellschaftliche Produktions- und Lebensweise zu erkennen.
Es liegen keine Untersuchungen darüber vor, inwieweit die aufgrund dieser Prinzipien gebaute A. tatsächlich milieu- und bewußtseinsprägend geworden ist. Jedoch zeigen die Auseinandersetzungen in der bisherigen Geschichte der A. der DDR um die Begriffe Formalismus und Funktionalismus, daß die jeweils konkret realisierte Verbindung von Ökonomie und Kunst nicht widerspruchsfrei war. So hat die Bekämpfung des Formalismus zugunsten des sozialistischen Realismus zu Qualitätsmängeln in der A. der DDR geführt, weil sich zeitweise eine durch die Ökonomie des industriellen Bauens forcierte Monotonie breitmachte. Die Gefahren einer verbalen Ablehnung des Funktionalismus bei gleichzeitiger Praktizierung eines mit Zweckmäßigkeit begründeten Schematismus sind seit längerem in der DDR bekannt. Die jüngere DDR-A. versucht mit z. T. neuen Konzepten (Städtebau) diesen Gefahren zu entgehen, scheitert jedoch oft an den begrenzten ökonomischen Möglichkeiten der DDR oder an politischen Vorgaben, die Monumentalität als Alternative zur Monotonie verstehen.
II. Geschichte
Die gesellschaftlichen Veränderungen in der SBZ/DDR nach 1945 schufen vor allem durch die Änderung der Eigentumsverhältnisse und Eigentumsvorbehalte die Voraussetzungen für neue Möglichkeiten des Bauens: Grund und Boden sind überwiegend gesellschaftliches Eigentum bzw. können ohne größere Schwierigkeiten enteignet werden (Aufbaugesetz) (Inanspruchnahme); der größte Teil der Gebäude wie auch der Baubetriebe ist ver[S. 78]staatlicht; staatliche Organe sind nahezu die alleinigen Auftraggeber. Trotzdem hat es fast 20 Jahre gedauert, bis die städtebauliche Planung in die Volkswirtschaftspläne voll integriert war. bis über Verflechtungsbilanzen Städtebau, Industrieinvestition, Verkehrsplanung, Wohnungsbau und Raumplanung aufeinander bezogen wurden.
Es lassen sich 3 Etappen der A. der DDR unterscheiden:
1945–1955: Erste Wiederaufbauphase, Schaffung der theoretischen und praktischen Grundlagen für eine Neuorientierung des Bauens in der SBZ/DDR.
1955–1966: Durchsetzung der neuen Prinzipien des Bauens in der DDR, vor allem deutlich in der Industrialisierung des Bauwesens.
Seit 1966: Über die Grundprinzipien bestehen keine Diskussionen mehr. Die tatsächliche Bauleistung hängt von Entscheidungen der Parteiführung ab (z. B. Ulbricht: Ausbau der Stadtzentren, Honecker: Lösung der Wohnungsfrage).
Schon seit längerem ist die Verabschiedung eines grundlegenden Städtebaugesetzes geplant.
Am bedeutsamsten für die Entwicklung des Bauens war die Zeit von 1954 bis 1967, in der sich die für die DDR typische Form der A. (industrialisierter Massenwohnungsbau — Akzentuierung der gesellschaftlichen Bauten) herausbildete. In dieser Phase wandelte sich die gesamte Bauwirtschaft von einem Handwerkszweig in einen Bereich der industriellen Fertigung mit allen Konsequenzen, die das für Architekten, Wissenschaftler, Baufunktionäre und auch für Auftraggeber und Benutzer der A. hatte. Erst gegen Ende dieser Etappe gelang es jedoch, die Volkswirtschaftspläne und die Stadtplanung aufeinander zu beziehen (Generalbebauungsplan). Im einzelnen ist auf folgende Etappen hinzuweisen: 1946 Wohnungsbauprogramm der KPD („Planwirtschaft im Wohnungsbau“).
1950 1. Deutsche Bautagung in Leipzig (Fünfjahrplan: Industriezentren und Städtebau): 16 Grundsätze des Städtebaus; Aufbaugesetz.
1951 Gründung der Deutschen Bauakademie; Karl-Marx-Allee (1. Bauabschnitt).
1952 Beginn des Aufbaus von Eisenhüttenstadt (Grundstein 21. 8. 1950); Industriebau: Eisenhüttenkombinat Ost, Groß-Kokerei Lauchhammer, Eisenhüttenwerk Calbe, Stahlwerk Freital u. a.; Bund Deutscher Architekten (BDA) gegründet; 1. Ausgabe von „Deutsche Architektur“ (April).
1953 Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft/AWG gegründet.
1954 21. Tagung des ZK der SED: Industrialisierung des Bauens gefordert (Rationalisierung, Typisierung).
1955 1. Baukonferenz der DDR „Programm der umfassenden Industrialisierung und Typisierung des Bauens“; Ministerrat: Wichtige Aufgaben im Bauwesen (Beschluß); 2. wissenschaftlich-technische Konferenz der DDR (Standardisierung, Typisierung, Normung); Richtlinien für eine einheitliche Typenprojektierung.
1956 Beginn: Hoyerswerda; Industriebau: Schwarze Pumpe, Überseehafen Rostock, Reaktor Rossendorf, Kraftwerk Lübbenau u. a.
1958 Karl-Marx-Allee (2. Abschnitt); 2. Baukonferenz: Stärkung der örtlichen Bauindustrie; IX. RGW-Tagung: Ständige Kommission Bauwesen gegründet (Schaffung einer RGW-Maßordnung für den Fertigbau: TGL statt DIN).
1960 Industriebau: Petrolchemie (Schwedt/Leuna II); Ministerrat: Grundsätze zur Planung und Durchführung des Aufbaus der Stadtzentren (Beschluß).
1961 Ablösung von Kurt Liebknecht als Präsident der DBA.
1963 Ministerrat: Anwendung der Grundsätze des NÖSPL im Bauwesen (Beschluß).
1965 Berlin (Ost): Straße Unter den Linden (1962–1965) fertiggestellt.
1966 4. Baukonferenz: Überwindung der Monotonie im Bauwesen; Anfänge der Metalleichtbauweise; Reorganisation des Instituts für Städtebau und A. der DBA.
1967 VII. Parteitag: Komplexe Generalbebauungspläne der Bezirke und Städte gefordert.
1968 4. Tagung des ZK der SED: Beschleunigter Aufbau der Zentren der wichtigsten Städte der DDR.
1969 Ensemble Alexanderplatz Berlin (Ost) (1966- 1971); Ausstellung: Architektur und bildende Kunst.
1973 10. Tagung des ZK der SED: Orientierung auf den Wohnungsbau (bis 1990) und die Sanierung der Altbausubstanz.
1976 Beschlüsse des Ministerrates zur Förderung des genossenschaftlichen und privaten Wohnungsbaus; Palast der Republik (Berlin [Ost]); Architekturpreis der DDR (gegr.)
Nach Auffassung der Architekten in der DDR drückt sich das Neue der DDR-A. insbesondere in 2 Bereichen aus: im Wohnungsbau und bei den gesellschaftlichen Bauten (z. B. beim Bau der Stadtzentren. Städtebau). In diesen Bereichen zeigt sich auch die Entwicklung der A. in der DDR am deutlichsten: Im Wohnungsbau wurde die Industrialisierung des Bauens durchgesetzt. Die Entwicklung von Hoyerswerda bis zu den letzten Abschnitten von Halle-Neustadt, desgleichen in Berlin (Ost) (Karl-Marx-Allee, 1. Abschnitt bis Umgebung Alexanderplatz) weist deutliche Fortschritte auf. Trotz großer Anstrengungen ist jedoch der Wohnungsbestand in der DDR stark überaltert und noch immer unzureichend ausgerüstet. Deshalb muß in den nächsten Jahren die Renovierung der Altbausubstanz eine noch größere Rolle spielen. Dies dürfte für die A. neue Probleme mit sich bringen, da sich die Bau[S. 79]weise des vergangenen Jahrzehnts — Aufbau 5stöckiger Wohnhäuser in Montagebau auf großen Freiflächen — in den Zentren der mittleren und kleineren Städte nicht fortsetzen läßt.
Die Konzentration der Mittel auf den Wohnungsbau hat — etwa seit Mitte 1971 — dazu geführt, daß für den Bereich der „strukturbestimmenden“ gesellschaftlichen Bauten weniger finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Das ambitionierte Programm des Umbaus der Stadtzentren aller größeren Städte der DDR wird nur dort, wo es wegen der Investitionen der Vergangenheit unumgänglich ist, weitergeführt. Die A. der DDR, die mit dem Aufbau der Zentren ein eigenes Gesicht zu bekommen schien, wurde durch die Diskussionen über die Verbindung mit der bildenden Kunst und die geforderte Umsetzung von Ergebnissen der Informationswissenschaften (Semiotik: Die A. soll unverwechselbare monumentale Zeichen geben) zunächst belebt, ist heute jedoch mehr oder weniger mit sozialpolitischen Aufgaben (Wohnungsbau) beschäftigt.
Nach dem erklärten Willen von Partei- und Staatsführung der DDR soll die Wohnungsfrage bis 1990 durch den Bau (bzw. Um- oder Ausbau) von 2,8–3 Mill. Wohnungen gelöst sein. Die Gesamtkosten werden für die Jahre 1975–1990 auf über 200 Mrd. Mark geschätzt. Im laufenden Fünfjahrplan sollen 550.000 Wohnungen neu gebaut und 200.000 modernisiert werden. Seit 1971 wird der private Eigenheimbau in begrenztem Umfang gefördert (verstärkt seit 1976). Gegenwärtig werden jährlich etwa 10.000 Eigenheime fertiggestellt (ohne Wochenendhäuser, „Datschen“ o. ä.).
III. Organisation
An der Spitze des Bauwesens in der DDR steht das Ministerium für Bauwesen (Minister: Wolfgang Junker — seit 1963 —; 1. Stellv. Minister und Staatssekretäre Dr. Karl Schmiechen und Karl-Heinz Martini). Im Parteiapparat steht dem MfB die Abteilung Bauwesen beim ZK der SED zur Seite (Leiter: Gerhard Trölitzsch). Das MfB wurde 1949 als Mf Aufbau eingerichtet und 1958 umbenannt.
Im Bereich des MfB arbeiten etwa 600.000 Bauschaffende. Dem Ministerium unterstehen die Bau- und Montagekombinate sowie die Bauämter der Bezirke, die Baumaterialindustrie und der Baumittelhandel. Das MfB ist Träger der staatlichen Bauaufsicht. Als zentrale Bildungs- und Forschungsinstitution sowie als Experimentierwerkstatt steht ihm die Bauakademie der DDR zur Verfügung. Zentraler Fachverband der Architekten und Bauingenieure ist der Bund der Architekten der DDR (Architekten).
Die städtebauliche Planung in der DDR ist auf zentraler Ebene abhängig von den Fünfjahrplänen bzw. den Volkswirtschaftsplänen (1 Jahr) der Staatlichen Plankommission. Gesamtkapazität der Bauleistung, Schwerpunkte der Investitionen und territoriale Verteilung sind damit weitgehend festgelegt. Auf dieser Grundlage gibt das MfB Richtlinien für die Planung der Städte und Bezirke heraus (Ausarbeitung: Institut für Städtebau und A. der Bauakademie der DDR). Anhand dieser Richtlinien erarbeiten die Büros für Territorialplanung, Verkehrsplanung und Städtebau die Generalbebauungspläne der Bezirke und Städte.
IV. Ausbildung
Die Ausbildung der Lehrlinge erfolgt in 28 Bauberufen mit oder ohne Spezialisierung auf ganz bestimmte Fachbereiche. Die Studenten des Bauwesens können sich an den Hochschulen in 1 1 verschiedenen Fachrichtungen ausbilden lassen. Ausbildungsstätten:
- Hochschule für Architektur und Bauwesen. Weimar (gegründet 1860, wiedergegr. 1946; Architektur, Städtebau, Bauingenieurwesen, Baustoffkunde, Gebietsplanung; Weiterbildungsinstitut seit 1969)
- Technische Universität Dresden (der Bereich Bauwesen der TU umfaßt ca. 40 Institute; Sektion Architektur: Gesellschaftswissenschaftliche und gestalterische Grundlagen, Technische Entwurfsgrundlagen, Siedlung und Territorium, Hochbau, Landwirtschaftsbau. Rekonstruktion und Gebäudeerhaltung)
- Technische Hochschule Leipzig (bis 1977: Hochschule für Bauwesen; insbes. Bautechnologie)
- Kunsthochschule Berlin (Ost) (Grundstudienrichtung Architektur)
- Hochschule für Verkehrswesen „Franz List“, Dresden (Bereich Verkehrsbauten)
- Hochschule für industrielle Formgestaltung. Halle-Burg Giebichenstein (Sektion: Produkt- und Umweltgestaltung im Bereich des Wohnungs- und Gesellschaftsbaus)
sowie
- Bauakademie der DDR (s. dort)
- Ingenieurschulen für Bauwesen:
- a) Fachrichtung Hochbau in Berlin (Ost), Cottbus, Erfurt, Gotha, Leipzig. Magdeburg, Neustrelitz;
- b) Fachrichtung Tiefbau in Berlin (Ost), Cottbus, Gotha, Leipzig, Magdeburg, Neustrelitz;
- c) Fachrichtung Baustoffe/Bauelemente an der Ingenieurschule für Baustofftechnologie in Apolda.
Fachrichtungen:
- Ingenieurbau (Konstruktion und Statik): TU Dresden, HS Weimar, HS Leipzig
- Kommunaler Tiefbau
- Technologie der Bauproduktion (Leipzig, Ingenieurhochschule Wismar und Cottbus)[S. 80]
- Architektur (Weimar, Dresden)
- Städtebau (Weimar)
- Landschaftsarchitektur (Dresden)
- Vorfertigung im Bauwesen (Dresden)
- Silikattechnik (Weimar)
- Informationsverarbeitung (Weimar)
- Betriebswirtschaft und Ingenieurökonomie im Bauwesen (Leipzig, Dresden)
- Gebiets- und Stadtplanung (Weimar)
V. Information und Dokumentation
Dokumentationskartei: Zeitgeschichte des Bauwesens der DDR, I. 1945–1970, II. 1971–1976 (Bauakademie der DDR).
Schriftenreihe für Bauforschung der Bauakademie der DDR, insbes. Reihe: Städtebau und Architektur; VEB Verlag für Bauwesen, Berlin.
Zeitschrift „Architektur der DDR“ (1952 als „Deutsche Architektur“ gegr.). Bau- und Wohnungswesen.
Manfred Ackermann
Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 77–80