DDR von A-Z, Band 1979

Chemische Industrie (1979)

 

 

Siehe auch die Jahre 1953 1954 1956 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1975 1985


 

Vor der Spaltung Deutschlands hatte die mitteldeutsche ChI. bei einer Anzahl von Erzeugnissen überdurchschnittliche Produktionsanteile, bei einigen wichtigen chemischen Grundstoffen bestand sogar eine weitgehende Abhängigkeit Westdeutschlands von der mitteldeutschen ChI. Das größte Chemiewerk Europas, das Leunawerk, die 3 IG.-Farbenwerke in Bitterfeld und andere Werke waren Lieferanten Westdeutschlands und der ganzen Welt. 1945 entfielen 35 v. H. der Produktion und der Beschäftigten der deutschen ChI. auf die damalige sowjetische Besatzungszone, nahezu zwei Drittel auf die Westzonen. Auf dem Territorium der späteren DDR befand sich nach 1945 die Produktion von Grundchemikalien. Ihre Rohstoffgrundlage bestand in den Braunkohlevorkommen, den Salzlagerstätten und einem Rohstoffreservoir an Gips, Kalk und Ton. Die Verteilung des Produktionspotentials der ChI. entsprach nach der Teilung in etwa der Bevölkerungsproportion, allerdings ergaben sich aus der Sicht der Branchenstruktur erhebliche Disproportionen. In der sowjetischen Besatzungszone wurden vor allem Grundchemikalien gewonnen, während in den Westzonen vornehmlich die verarbeitende ChI. konzentriert war. Die Produktion anorganischer Chemikalien war seit 1949 in der DDR bereits relativ gut entwickelt, mit Ausnahme der Schwefelsäureproduktion. Ein besonderer Mangel bestand weiterhin an einigen hochveredelten chemischen Erzeugnissen, deren Produktion im westdeutschen Raum konzentriert war. Die Herstellung von Farbstoffen auf Teergrundlage, die Paraffinverarbeitung und die Produktion von Pharmazeutika lagen zum größten Teil auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland.

 

 

Bei verhältnismäßig geringen Kriegsschäden mußte die ChI. 1945–1946 empfindliche Demontagen hinnehmen. Die wichtigsten Chemie-Großbetriebe wurden von der UdSSR beschlagnahmt. Nach dem Wiederaufbau verfügten die Sowjets über mehr als 52 v. H. aller Kapazitäten in der ChI. (Stand: Anfang 1952).

 

Erst am 1. 1. 1954 wurden die SAG-Betriebe der ChI. an die deutsche Verwaltung zurückgegeben. In der Periode des ersten Siebenjahrplans sollte die Produktion der ChI. bis 1965 gegenüber 1958 annähernd verdoppelt werden (Chemieprogramm von 1958). Entwicklungsschwerpunkte waren Kunststoffe (Plaste) und synthetische Fasern. Die Kraftstofferzeugung und die Düngemittelproduktion sollten gegenüber 1958 um 100 v. H. gesteigert werden. Alle Planziele wurden jedoch nicht erreicht. Nach 4 Jahren Laufzeit des ersten Siebenjahrplans hat die ChI. nur 45 v. H. des in dieser Zeit geplanten Zuwachses der Produktion erzielt.

 

Gegenwärtig ist die ChI. entsprechend ihrer Beschäftigtenzahl mit 335.488 Arbeitern und Angestellten, die 1976 in 556 Betrieben tätig waren, der viertgrößte, entsprechend ihrem Produktionswert nach dem Maschinen- und Fahrzeugbau und der Lebensmittelindustrie der drittgrößte Industriebereich der DDR. Ihr Anteil an der industriellen Bruttoproduktion der DDR betrug 1976 14,4 v. H. Von 1960 bis 1976 konnte die ChI. die Bruttoproduktion um das 3,37fache steigern (zum Vergleich: Steigerung der gesamten industriellen Brutto[S. 241]produktion im gleichen Zeitraum um das 2,62fache). Im einzelnen umfaßt die ChI. folgende Industriezweige: Kali- und Steinsalzindustrie; Erdöl-, Erdgas- und Kohlewertstoffindustrie; Anorganische und organische Grundchemie; Pharmazeutische Industrie; Plasteindustrie; Gummi- und Asbestindustrie; Chemiefaserindustrie; Industrie chemischer und chemisch-technischer Spezialerzeugnisse.

 

Die einzelnen Industriezweige in der ChI. der DDR zeigten in den letzten Jahren eine Entwicklung, wie sie internationalem Standard entspricht. Relativ hohe Produktionszuwächse erzielten die Kunststoff- und die Faserindustrie, aber auch die pharmazeutische Industrie. Die Faserproduktion soll bis 1980 nur noch um 4,5 v. H. jahresdurchschnittlich steigen; dies deutet auf gewisse Sättigungserscheinungen hin.

 

 

Die Hauptstandorte der ChI. liegen in den Bezirken Halle, Frankfurt (Oder), Leipzig und Dresden.

 

Die ChI. ist auch heute noch überwiegend Braunkohlenchemie, d. h., sie basiert primär auf der Verarbeitung der noch reichlich verfügbaren Braunkohle. Allerdings ist seit einigen Jahren ein bedeutsamer Strukturwandel im Rohstoffeinsatz — von der Braunkohlen- zur Mineralölverarbeitung — eingetreten. In beachtlichem Umfang sind die Kapazitäten der Petrochemie und Erdölverarbeitung erweitert worden. Die Erdölverarbeitung stieg von 10,6 Mill. t (1960) auf 17 Mill. t (1975) und soll bis 1980 auf 23 Mill. t wachsen. Das über 5.000 km lange Pipelinesystem „Freundschaft“ transportiert Erdöl aus Westsibirien in die Verarbeitungswerke von Schwedt (Bezirk Frankfurt/Oder), Böhlen (Bezirk Leipzig) und Leuna (Bezirk Halle). Die bedeutendsten VVB und VEB des Ministeriums für Chemische Industrie sind:

  • VEB Chemiefaserkombinat Schwarza „Wilhelm Pieck“ (27.000 Beschäftigte)
  • VEB Chemiekombinat Bitterfeld
  • VVB Agrochemie und Zwischenprodukte
  • VEB Petrolchemisches Kombinat Schwedt (28.000 Beschäftigte)
  • VVB Plast- und Elastverarbeitung
  • VVB Pharmazeutische Industrie
  • VVB Lacke und Farben
  • VEB Filmfabrik Wolfen, Fotochemisches Kombinat
  • VVB Leichtchemie
  • VEB Leuna-Werke „Walter Ulbricht“ (30.000 Beschäftigte)
  • VEB Chemische Werke Buna (18.000 Beschäftigte)
  • VVB Chemieanlagen
  • VEB Reifenkombinat Fürstenwalde

 

Die Spezialisierung führt aber dazu, daß neben den „Industriegiganten“ 1975 noch 467 Betriebe mit weniger als 200 Beschäftigten bestanden, die 76,4 v. H. aller Chemiebetriebe ausmachten.

 

Absolut ist das Produktionsniveau in der Bundesrepublik Deutschland bei fast allen wichtigen chemischen Erzeugnissen erheblich höher als in der DDR; dies gilt auch in den meisten Fällen beim Vergleich der Produktion pro Kopf der Bevölkerung. Ausnahmen bilden hiervon u. a. die Produktion von Steinsalz, Kali-Düngemitteln, Phosphatdüngern, Kalziumkarbid und Viskosefasern. Den technologischen Rückstand der DDR dokumentieren die hohen Produktionszahlen bei Viskosefasern und Kalziumkarbid, da sie einerseits die noch in den Anfängen befindliche Umstellung auf synthetische Fasern und andererseits die verzögerte Umstellung der Rohstoffbasis von Kohle auf Erdöl zeigen. In der Bundesrepublik Deutschland wurde die organische Chemie zu 95 v. H. auf Erdöl- bzw. Erdgasbasis umgestellt gegenüber ca. 60 v. H. in der DDR, eine Relation, die in der Bundesrepublik Deutschland bereits 1963 erreicht war. Vor allem in denjenigen Bereichen ist sie im längerfristigen Vergleich in der Enwicklung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland zurückgeblieben, in denen weltweit der stärkste Technologiewandel stattgefunden hat, also bei Kunststoffen. Arzneimitteln, syn[S. 242]thetischen Fasern sowie deren Vorprodukten und Verarbeitungsstufen.

 

 

Innerhalb des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe hingegen hält die ChI. der DDR technologisch meist eine Spitzenposition. Das zeigt sich u. a. auch darin, daß die ständige RGW-Kommission für die ChI. ihren Sitz in Berlin (Ost) hat und vom Minister für ChI. geleitet wird. Zwischen der DDR und den anderen RGW-Ländern bestanden im Chemiebereich 1978 bereits über 30 Regierungsabkommen und mehr als 20 Spezialisierungs- und Kooperationsverträge. Die bedeutsamsten Objekte sind gegenwärtig die Zusammenarbeit zwischen der DDR und der ČSSR ― hier sind seit 1975 aufgrund eines 1972 unterzeichneten Vertrages die Chemischen Werke in Böhlen (DDR) mit dem Chemischen Betrieb in Litvinov (ČSSR) durch eine Rohrleitung miteinander verbunden, wobei die DDR Olefine, die ČSSR Polyolefine liefert ― sowie die gemeinsame Entwicklung eines Hochdruck-Polyäthylen-Verfahrens und der dazugehörigen Anlagen durch sowjetische und deutsche Spezialisten.

 

Die DDR-Chemie ist an 4 Wirtschaftsorganisationen des RGW beteiligt: Mit der Sowjetunion gemeinsam trägt die DDR die Organisationen „Assofoto“ (Fotoprodukte und Magnetaufzeichnungsmaterial) und „Domochim“ (Produkte der Haushaltschemie). Die beiden anderen Organisationen „Interchim“ (kleintonnagige Chemikalien) und „Interchimwolokno“ (Chemiefasern) arbeiten multinational.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 240–242


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.