DDR von A-Z, Band 1979

Gerichtsverfassung (1979)

 

 

Siehe auch die Jahre 1953 1954 1956 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1975 1985

 

I. Grundsätzliche Bestimmungen

 

 

Nach Artikel 92 der Verfassung wird die Rechtsprechung in der DDR durch das Oberste Gericht, die Bezirksgerichte, die Kreisgerichte und die Gesellschaftlichen Gerichte ausgeübt; in Militärstrafsachen besteht eine besondere Militärgerichtsbarkeit. Aufbau und Organisation der staatlichen Gerichte werden durch das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) vom 27. 9. 1974 (GBl. I, S. 457) geregelt, das mit Wirkung vom 1. 11. 1974 an die Stelle des GVG vom 17. 4. 1963 (GBl. I, S. 45) getreten ist, nachdem mit dem ersten GVG der DDR vom 2. 10. 1952 (GBl., S. 985) die alte, in Deutschland seit 1879 bestehende G. beseitigt worden war.

 

In den grundsätzlichen Bestimmungen betont das GVG die Unabhängigkeit der Richter, hebt die der Rechtsprechung gestellten Aufgaben hervor (Rechtswesen, II.) und legt die Zulässigkeit des Rechtsweges für alle Straf-, Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen fest, soweit nicht die Zuständigkeit anderer Staatsorgane begründet ist. Die Arbeitsgerichtsbarkeit ist also Teil der ordentlichen Gerichtsbarkeit; selbständige Kreis- und Bezirksarbeitsgerichte bestanden nur bis zum 25. 4. 1963. Das GVG beinhaltet ferner den Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung Rechtswesen, IV.), der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, das Recht auf Verteidigung (Verteidiger), die Möglichkeit der Kassation gerichtlicher Entscheidungen und die Zulässigkeit der Gerichtskritik. Ausnahmegerichte sind unstatthaft. Die Gerichtssprache ist deutsch (in der Lausitz kann in sorbischer Sprache verhandelt werden), und die Urteile werden „Im Namen des Volkes“ verkündet.

 

[S. 455]II. Das Oberste Gericht (OG)

 

Das höchste Organ der Rechtsprechung ist das Oberste Gericht (§ 36 GVG) mit dem Sitz in Berlin (Ost), das von einem Präsidenten (Dr. Toeplitz) geleitet wird. Es leitet die Rechtsprechung aller Gerichte und hat die „einheitliche und richtige Gesetzesanwendung durch alle Gerichte“ zu sichern. Mit der Bestimmung, daß das OG der Volkskammer und zwischen ihren Tagungen dem Staatsrat verantwortlich ist (§ 36 Abs. 2 GVG), wurde das Prinzip des Demokratischen Zentralismus auch in der Rechtsprechung durchgesetzt. In Verwirklichung dieses Prinzips wurde ein umfassendes „System der wissenschaftlichen Leitung der Rechtsprechung“ entwickelt, das insbesondere die Anleitung der unteren durch die oberen Gerichte und durch das OG sowie die mit dem neuen GVG vom 27. 9. 1974 erneut eingeführte Anleitung und Kontrolle der Bezirks- und Kreisgerichte durch das Ministerium der Justiz regelt. In Art. 74 der Verfassung ist dem Staatsrat die ständige Aufsicht über die Verfassungsmäßigkeit und Gesetzlichkeit der Tätigkeit des OG übertragen. Diese Aufsichtsbefugnis erstreckt sich nach der Stellung des OG auf die gesamte Rechtsprechung der DDR, dürfte jedoch in der Praxis angesichts der erheblich geminderten Rolle des Staatsrats kaum mehr Bedeutung erlangen.

 

Die Organe des OG sind das Plenum, das Präsidium, die Kollegien für Straf-, Militärstraf-, Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen und die bei den Kollegien gebildeten Senate. Dem Plenum gehören der Präsident, die Vizepräsidenten, die Oberrichter und die Richter des OG, die Direktoren der Bezirksgerichte und die Leiter der Militärobergerichte an. Mitglieder des Präsidiums sind der Präsident, die Vizepräsidenten und die Oberrichter des OG. Die Mitglieder des Präsidiums werden auf Vorschlag des Präsidenten vom Staatsrat berufen. Die Rechtsprechung liegt in Händen der Senate, die mit einem Oberrichter als Vorsitzendem und zwei beisitzenden Richtern besetzt sind. In Arbeitsrechtssachen entscheidet der zuständige Senat mit einem Oberrichter, einem weiteren Richter und drei Schöffen.

 

Seit 1967 sind bei den Senaten des OG, ohne daß es dafür eine gesetzliche Grundlage gibt, „Konsultativräte“ gebildet worden, die mit beratender Funktion ausgestattet sind. Es bestehen — soweit erkennbar — Konsultativräte für Familienrecht und LPG-Recht (beide beim 1. Zivilsenat des OG), für Urheber- und Patentrecht sowie 2 Konsultativräte für Strafrecht beim 3. und 5. Strafsenat des OG. Betont wird, daß die Konsultationen vor Durchführung einer Verhandlung keine „vorweggenommene Beweisaufnahme“ sein dürfen.

 

Plenum und Präsidium können zur Leitung der Rechtsprechung Richtlinien und Beschlüsse erlassen, die für alle Gerichte verbindlich sind. Seit 1953 hat das OG 32 Richtlinien beschlossen, von denen allerdings, bedingt durch die Verabschiedung neuer Gesetze, die Mehrzahl inzwischen wieder aufgehoben wurde. Anträge auf Erlaß solcher Richtlinien und Beschlüsse können der OG-Präsident, der Generalstaatsanwalt, der Minister der Justiz und der Bundesvorstand des FDGB stellen. Das Plenum, an dessen Tagungen der Generalstaatsanwalt, der Minister der Justiz und ein Vertreter des Bundesvorstandes des FDGB teilzunehmen berechtigt sind, tagt grundsätzlich einmal in 3 Monaten. Entgegen der bis zum 31. 10. 1974 geltenden Regelung ist der Staatsrat an Plenartagungen des OG nicht mehr beteiligt.

 

Das Präsidium bereitet die Tagungen des Plenums vor und beruft diese ein, ist zuständig für die Entscheidung, wenn ein Senat des OG in einer grundsätzlichen Rechtsfrage von der Entscheidung eines einem anderen Kollegium angehörenden Senats oder des Präsidiums abweichen will, wertet die Rechtsprechung der Gerichte und die Eingaben der Bürger aus, organisiert die Tätigkeit des OG und regelt die Geschäftsverteilung. Ferner ist das Präsidium Kassationsinstanz (s. u.). Es ist dem Plenum verantwortlich und rechenschaftspflichtig.

 

In der Rechtsprechung ist das OG zuständig:

 

1. in erster und letzter Instanz für Strafsachen, in denen der Generalstaatsanwalt wegen ihrer überragenden Bedeutung Anklage vor dem OG erhebt;

 

2. in zweiter Instanz für die mit einem Rechtsmittel angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidungen der Bezirksgerichte und Militärobergerichte und für die Entscheidung über die Berufung in bestimmten Patentsachen;

 

3. als Kassationsgericht (Kassation) in Straf-, Militärstraf-, Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen. Auf Anforderung des Ministerrates hat das OG Rechtsgutachten zu Fragen des Straf-, Zivil-, Familien-, Arbeits- und Prozeßrechts zu erstatten.

 

III. Die Bezirksgerichte (BG)

 

 

In jedem Bezirk besteht ein BG, das von einem Direktor geleitet wird. Das BG leitet im Bezirk die Tätigkeit der Kreisgerichte und der gesellschaftlichen Gerichte. Nachdem mit dem neuen GVG das Plenum des BG weggefallen ist, fungiert als beratendes Kollegialorgan für den Direktor das Präsidium, dem der Direktor des BG, seine Stellvertreter und die Oberrichter angehören. Das Präsidium ist Kassationsinstanz und entscheidet als solche in der Besetzung mit dem Direktor oder einem Stellvertreter als Vorsitzendem und vier vom Direktor zu bestimmenden Mitgliedern des Präsidiums.

 

Die Rechtsprechung des BG in Straf-, Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen liegt in den Händen der Senate, deren Zahl bei den einzelnen BG unterschiedlich ist. Diese sind in der ersten Instanz mit ei[S. 456]nem Oberrichter oder Richter als Vorsitzendem und zwei Schöffen, in der zweiten Instanz mit einem Oberrichter als Vorsitzendem und zwei weiteren Richtern besetzt. In Arbeitsrechtssachen entscheiden auch in zweiter Instanz ein Oberrichter und zwei Schöffen.

 

Das BG ist zuständig:

 

1. als Gericht erster Instanz a) in Strafsachen für die Entscheidung über Verbrechen gegen die Souveränität der DDR, den Frieden, die Menschlichkeit und die Menschenrechte, Staatsverbrechen, über vorsätzliche Tötungsverbrechen, schwerere Verbrechen gegen die Volkswirtschaft und in allen anderen Strafsachen, in denen die Anklage durch den Staatsanwalt vor dem BG erhoben wird, b) in Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen für die Entscheidung über Streitigkeiten, in denen wegen der Bedeutung, Folgen oder Zusammenhänge der Sache der Staatsanwalt des Bezirks die Verhandlung vor dem BG beantragt oder der BG-Direktor die Sache an das BG heranzieht (durch diese Zuständigkeitsregelung wird die Verfassungsgarantie des gesetzlichen Richters — Artikel 101 der Verfassung — eingeschränkt);

 

2. in zweiter Instanz für die mit einem Rechtsmittel angefochtenen Entscheidungen der Kreisgerichte in Straf-, Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen;

 

3. als Kassationsgericht für die Kassation rechtskräftiger Entscheidungen der Kreisgerichte.

 

IV. Die Kreisgerichte (KrG)

 

 

In jedem Kreis besteht ein KrG, das von einem Direktor geleitet wird und in Kammern für Straf-, Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen gegliedert ist. Die Kammern sind mit einem Richter als Vorsitzendem und zwei Schöffen besetzt.

 

Das KrG ist zuständig:

 

1. für alle Straf-, Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen, soweit nicht die Zuständigkeit des BG oder des OG begründet ist. Es gehören also grundsätzlich alle Zivilsachen in erster Instanz vor das KrG;

 

2. für Entscheidungen über den Einspruch gegen eine Entscheidung der Konfliktkommission oder Schiedskommission (Gesellschaftliche Gerichte);

 

3. für die Entscheidung über die Beschwerde gegen eine Entscheidung des Staatlichen Notariats oder eines Einzelnotars;

 

4. für die Verhandlung über den Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen eine polizeiliche Strafverfügung wegen einer Verfehlung;

 

5. für Vollstreckbarkeitserklärungen von Entscheidungen der Gesellschaftlichen Gerichte;

 

6. für Einsprüche gegen die Nichtaufnahme in die Wählerliste zur Wahl der Volksvertretungen.

 

Als Neuregelung im GVG ist vorgesehen, daß in bestimmten, vom Gesetz festgelegten Fällen ein Richter allein verhandeln und entscheiden kann. Insoweit ist auch in § 6 GVG der Grundsatz der „Kollektivität der Rechtsprechung“ eingeschränkt.

 

Bei jedem KrG besteht eine Rechtsauskunftsstelle zur Beratung der Bevölkerung. An die Stelle des früheren Urkundsbeamten der Geschäftsstelle ist bei jedem Gericht der Sekretär des Gerichts getreten; bei Gerichten mit mehreren Sekretären gibt es einen „leitenden Sekretär“. Die Bezeichnung „Rechtspfleger“ gibt es nicht. Der Sekretär des Gerichts bzw. der leitende Sekretär ist für die Durchsetzung der ihm übertragenen materiellen, finanziellen und technisch-organisatorischen Aufgaben am KrG verantwortlich. Ihm obliegt daneben die Vollstreckung aus gerichtlichen Entscheidungen (Zivilprozeß). Gerichtsvollzieher gibt es in der DDR nicht mehr.

 

V. Gerichtsorganisation in Berlin (Ost)

 

 

In Berlin (Ost) besteht eine eigene Gerichtsorganisation seit der Auflösung des Kammergerichts im Herbst 1961 nicht mehr. In jedem der 8 Stadtbezirke gibt es ein Stadtbezirksgericht (Zuständigkeit wie Kreisgericht).

 

Mit der Zuständigkeit eines Bezirksgerichts ausgestattet ist das Stadtgericht. Über Rechtsmittel und Kassationsanträge gegen dessen Entscheidungen entscheidet seit der Auflösung des Kammergerichts das Oberste Gericht.

 

VI. Die Militärgerichtsbarkeit

 

 

Die Militärgerichtsbarkeit war durch die Militärgerichtsordnung (Erlaß des Staatsrats) vom 4. 4. 1963 (GBl. I, S. 71) eingerichtet worden. Sie wurde durch die AO des Nationalen Verteidigungsrates (Militärgerichtsordnung [MilGO] vom 27. 9. 1974, GBl. I; S. 481) neu geregelt. Die Rechtsprechung in Militärstrafsachen wird von dem OG, bei dem ein Militärkollegium gebildet ist, von den Militärobergerichten und den Militärgerichten ausgeübt. Die Leitung der Rechtsprechung liegt beim OG. Die Militärgerichte sind nicht nur in Strafsachen gegen Militärpersonen zuständig, sondern für alle Personen, die Straftaten gegen die militärische Sicherheit begehen. Der Standort und die örtliche Zuständigkeit der Militärgerichte und Militärobergerichte werden vom Minister für Nationale Verteidigung unter Berücksichtigung ihrer militärischen Notwendigkeit festgelegt. (MilOG in Leipzig, Neubrandenburg, Berlin [Ost]). Als Grundlage für die Tätigkeit der Militärgerichte nennt die MilGO an erster Stelle die Beschlüsse der SED.

 

Die sachliche Zuständigkeit ist entsprechend der allgemeinen Zuständigkeit in Strafsachen geregelt. Darüber hinaus sind die Militärstrafsenate des OG zuständig für die Entscheidung über strafbare Handlungen, die von Militärpersonen ab Dienstgrad Generalmajor/Konteradmiral oder Dienststellung Di[S. 457]visionskommandeur begangen werden, die Militärobergerichte ab Dienstgrad Oberst/Kapitän zur See oder ab Dienststellung Regimentskommandeur. Für die Organisierung der Tätigkeit der Militärgerichte und Militärobergerichte sind deren Leiter allein verantwortlich. Das MilOG, das weder ein Plenum noch ein Präsidium hat, entscheidet über Kassationsanträge (Kassation) gegen Entscheidungen des MilG. Kassationsinstanz sind ebenfalls (bei Entscheidungen der MilOG ausschließlich) die Militärstrafsenate des Militärkollegiums.

 

Walther Rosenthal


 

Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 454–457


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.