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Handwerk (1979)
I. Betriebsformen
Handwerkliche Leistungen werden in der DDR zu 60 v. H. (Ende 1977) von privaten Betrieben und zu 40 v. H. von Produktionsgenossenschaften des H. (PGH) erbracht. Damit ist das H. der einzige Wirtschaftsbereich in der DDR, in dem sich Eigentum an Produktionsmitteln und Verfügungsgewalt überwiegend in privater Hand befinden.
Ein privater H.-Betrieb darf grundsätzlich nicht mehr als 10 Personen beschäftigen; der Inhaber muß die Meisterprüfung abgelegt haben und Mitglied der Handwerkskammer sein. Die 157 Tätigkeiten, die handwerksmäßig betrieben werden können, enthält das Verzeichnis der H.-Berufe von 1957 (GBl. I, Nr. 78). Nach der ab 1. 1. 1975 geltenden Ausbildungsordnung für Meister des II. (GBl. I, Nr. 9) wurden die Fachrichtungen zunächst auf 62 verringert und inzwischen wieder auf 70 erweitert (in der Bundesrepublik Deutschland gibt es gegenwärtig 125).
Neben den privaten H.-Betrieben werden seit 1950 auch die sog. Kleinindustriebetriebe zum H. gerechnet; ihre Beschäftigtenzahl ist ebenfalls auf 10 begrenzt; sie sind in die Gewerberolle der H.-Kammern eingetragen.
Die PGH sind sozialistische Genossenschaften. Ihre rechtliche Grundlage bildet das Musterstatut [S. 503]vom Februar 1973 (GBl. I, Nr. 14), welches das alte Musterstatut von 1955 abgelöst hat.
Die PGH entstehen durch Zusammenschluß ehemals Selbständiger aus H. und Kleinindustrie und deren Beschäftigten. Unabhängig von ihrer ehemaligen Stellung haben sie als Mitglieder der PGH den gleichen sozialen Status.
Ähnlich den Typen der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) werden die PGH entsprechend ihrem Vergesellschaftungsgrad nach Stufen unterschieden. In der Stufe I wird noch mit Produktionsmitteln in privaten Werkstätten produziert, genossenschaftliches Eigentum entsteht erst durch Investitionen, die aus dem genossenschaftlichen Fonds finanziert werden. In Stufe II geht das Eigentum an Maschinen, Werkzeugen, Produktions- und Lagerraum durch Verkauf an die PGH über. 1977 gehörten 92 v. H. aller PGH der Stufe 11 an. Das neue Musterstatut dient dazu, die „Arbeits- und Lebensbedingungen“ in den PGH denjenigen in den VEB anzugleichen. Das betrifft sowohl die Planung, das Fondssystem, die Vergütung als auch die Ausarbeitungen von Betriebsordnungen entsprechend den Arbeitsordnungen in den VEB. Mitglieder dürfen nur noch aus dem H. und Kleingewerbe aufgenommen werden, Lohnarbeiter dürfen, abgesehen von Einzelfällen (Rentner, Schwerbeschädigte usw.), überhaupt nicht mehr beschäftigt werden.
II. Leitung und Planung
Seit 1972 sind die PGH und privaten Handwerker unmittelbar in die Leitung und Planung der örtlichen Organe einbezogen. Die gesetzliche Handhabe dazu bilden das Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen von 1973 (GBl. I, Nr. 32) im Zusammenhang mit der VO über die Förderung des H. von 1972 (GBl. II, Nr. 47) und das neue Musterstatut der PGH. Mit Ausnahme des Kfz- und des Bau-H. ist das H. Bestandteil der sog. örtlichen Versorgungswirtschaft ÖVW. Das Kfz-H. wird zum Verkehrswesen und das Bau-H. zur Bauwirtschaft gerechnet.
Die örtlichen Staatsorgane, d. h. die Abteilung ÖVW der Kreise und Gemeinden, planen und bilanzieren die Arbeitskräfte und die Lehrlinge für das H. Seit 1972/73 ist das wichtigste Planungsinstrument die staatliche Planauflage für die PGH und — in erheblichem Umfang — auch für die privaten Handwerker und Gewerbetreibenden. Die PGH mußten bereits seit 1966 ihren Betriebsplan der Volkswirtschafts- und Perspektivplanung anpassen.
Die staatlichen Planauflagen enthalten Vorgaben über die Leistung bzw. die Leistungsarten, den Anteil der Leistung für die Bevölkerung, bestimmte Sortimente in Menge und Umfang, Lieferfristen. Öffnungszeiten und Kundendienste. Privaten Handwerkern, die gegen die Planauflagen verstoßen, kann die Gewerbegenehmigung entzogen werden.
III. Entwicklung der Beschäftigten und Umsätze
Die Zahl der Beschäftigten im gesamten H. ging von 1950 bis 1977 von 858.300 auf 401.100 zurück. Der Anteil an der Gesamtzahl der Beschäftigten in der DDR beträgt weniger als 5 v. H. Die privaten Betriebe verringerten sich im gleichen Zeitraum von 303.821 auf 85.111. Seit 1978 ist wieder ein Anstieg der Zahl der privaten Betriebe zu erwarten. Bei den PGH zeichnet sich in den letzten Jahren ein Konzentrationsprozeß ab. Bei wachsender Beschäftigtenzahl nimmt die Zahl der PGH ab.
47 v. H. der gesamten handwerklichen Umsätze entfielen Ende 1977 auf die Produktion ohne Bau, knapp 23 v. H. auf die Bauproduktion und rd. 30 v. H. auf Reparatur- und Dienstleistungen. Der Anteil der direkten Reparatur- und Dienstleistungen für die Bevölkerung konnte trotz der seit 1973 eingeleiteten Maßnahmen nur von etwas mehr als 15 v. H. auf knapp 18 v. H. gesteigert werden.
[S. 504]
IV. Handwerkspolitik
Die H.-Politik der SED-Führung ist in den vergangenen Jahren durch häufigen Wechsel sowohl restriktiver wie fördernder Maßnahmen gekennzeichnet: Einerseits sollte eine möglichst rasche und weitgehende Anpassung eines noch immer überwiegend privat produzierenden Wirtschaftsbereiches an das sozialistische Wirtschaftssystem erfolgen, andererseits mußten dadurch entstehende Reibungsschwierigkeiten bei der Versorgung der Bevölkerung mit durch Importe nicht zu ersetzenden Leistungen wie z. B. Reparaturen, Dienstleistungen und individuelle Produktion soweit wie möglich vermieden werden.
Je nachdem, wie die Parteiführung diesen beiden volkswirtschaftlichen Zielen Priorität verlieh, lassen sich 4 Phasen der H.-Politik unterscheiden.
A. Die Gleichschaltung 1946--1960
In der Zeit von 1950 bis 1960 ist versucht worden, das H. vollständig in die Planwirtschaft der DDR einzubeziehen. Bereits 1946 waren die fachlichen Selbstverwaltungsorgane (Innungen) durch den SMAD-Befehl Nr. 161 beseitigt worden. Die regionalen Selbstverwaltungsorgane (Handwerkskammern) wurden umgestaltet. Auf der Grundlage des heute noch geltenden Gesetzes zur Förderung des Handwerks von 1950 (GBl. Nr. 91) erfolgte eine neue Abgrenzung und Verkleinerung des H.-Sektors. Zum H. rechnen seitdem auch Kleinindustriebetriebe, die ebenfalls höchstens 10 Beschäftigte haben dürfen. Die ausgegliederten Betriebe mit höherer Beschäftigtenzahl wurden den Industrie- und Handelskammern zugeordnet und unterlagen damit den Steuersätzen der privaten Industrie.
Weitere Ausgliederungen erfolgten 1957 durch eine Verkürzung der Positivliste auf 157 Berufe und 1958 durch Überführung aller Betriebe an die IHK, deren Handelsumsätze mehr als 50 v. H. der Gesamtumsätze betrugen. Im Gegensatz zur privaten Industrie wurde der noch verbleibende H.-Sektor seit 1950 steuerlich erheblich begünstigt (Handwerkssteuer).
Nahezu sämtliche privaten Betriebe mußten sich in den Einkaufs- und Liefergenossenschaften (ELG) organisieren, die bis heute als Auftrags- und Materialverteiler fungieren (1977 gab es rd. 1100 ELG). Die ELG galten als Wegbereiter der Sozialisierung des H. Den Auftakt dazu bildete die 2. Parteikonferenz der SED (1952), auf der Ulbricht die Bildung der sozialistischen PGH ankündigte. Als auf dem V. Parteitag der SED (1958), analog zur Landwirtschaft, der Startschuß zur Vollkollektivierung des H. gegeben wurde, war die volkswirtschaftliche Bedeutung der PGH mit einem Anteil von nur 3 v. H. am H.-Umsatz immer noch extrem niedrig. Mit direktem und indirektem Zwang wurde nunmehr versucht, den Anschluß der privaten Handwerker an die PGH, die ebenso wie ihre Mitglieder bis 1967 fast völlige Steuerfreiheit genossen und bei Materialverteilungen bevorzugt wurden, zu erreichen. Versorgungsschwierigkeiten zwangen jedoch im Frühsommer 1960 zum Abbruch der Kollektivierungskampagne und zur Maßregelung örtlicher „übereifriger“ Organe durch Ulbricht.
B. Die Stabilisierung 1961--1970
In der Zeit von 1961 bis 1970 setzte sich zwar der Schrumpfungsprozeß im privaten H. erheblich verlangsamt fort, die Leistungen konnten jedoch gesteigert werden. Durch die Ausbreitung der PGH nahm auch das Gesamt-H. einen erheblichen Aufschwung. Trotz gesamtwirtschaftlichem Arbeitskräftemangel hatte das H. durch Abwerbung aus der volkseigenen Wirtschaft mit Hilfe von höheren Vergütungen seine Beschäftigtenzahl schneller steigern können als die Industrie.
Im Zuge der seit 1965 in verstärktem Maß propagierten sozialistischen Kooperation wurden im Rahmen der Erzeugnis- und Versorgungsgruppenarbeit die Zulieferbeziehungen zur Industrie ausgebaut.
C. Die Umstrukturierung 1971--1975
Von Ende 1970 an sind die Umstrukturierung bzw. Rückführung des H. auf seine „ursprünglichen Aufgaben“ sowie die nahezu völlige Einbeziehung in die staatliche Planung eingeleitet worden. Sowohl die günstige Arbeitsmarktlage im H., bedingt durch die bessere Einkommenssituation vor allem der PGH, als auch die Bevorzugung der Produktion gegenüber Reparaturen und Dienstleistungen waren wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch unerwünschte Erscheinungen.
Mit massiven steuerlichen Maßnahmen für beide Eigentumsformen und mit einem Einstellungsstopp für die PGH wurde 1971 dieser Situation begegnet. Besonders die gegen die industriell produzierenden PGH gerichteten Maßnahmen ließen bereits eine Verstaatlichung entsprechend der 1956 eingeleiteten Verstaatlichung der sowjetischen produzierenden Gewerbegenossenschaften vermuten. Sie wurde im Frühjahr 1972 im Zuge der Umwandlung von privaten und halbstaatlichen Industriebetrieben in VEB (unveröffentlichter Politbüro- und Ministerratsbeschluß vom 8./9. 2. 1972) für ca. 1.600 industriell produzierende PGH überwiegend der Stufe II durchgeführt.
Die VO über die Förderung des H. bei Dienst- und Reparaturleistungen und die Regelung der privaten Gewerbetätigkeit vom Juli 1972 bilden nunmehr die rechtliche Grundlage für die Herauslösung der noch verbliebenen PGH und der privaten Betriebe aus der Produktion. Danach werden Dienst- und Reparaturleistungen steuerlich begünstigt. PGH und private Betriebe hatten die Auflage, ihre Mitarbeit in Er[S. 505]zeugnisgruppen bis Ende 1973 einzustellen und sich grundsätzlich auf die Mitarbeit in Versorgungsgruppen zu konzentrieren. Die Herauslösung aus den Erzeugnisgruppenbeziehungen führt zu einer Reihe von Schwierigkeiten mit Partnern in der Industrie, die von den Vertragsgerichten entschieden werden müssen. Weiterhin mußten die PGH bis Ende 1973 alle Lohnarbeiter entlassen oder in Ausnahmefällen als Mitglieder aufnehmen. (Nach dem alten Statut durften sie noch mit behördlicher Genehmigung 10 v. H. der Mitglieder als Lohnarbeiter einstellen.) Starke Überalterung und damit verbundene zunehmende Betriebsschließungen, fast völlig fehlende Nachwuchsförderung — Gewerbegenehmigungen wurden nur noch in Ausnahmefällen erteilt wie z. B. an Bäcker — sowie eine verstärkte Kollektivierungskampagne bis Mitte 1975 führten zu einer Stagnation der Gesamthandwerksleistung gerade in einem Zeitraum, in dem im Rahmen der Erfüllung der ökonomischen Hauptaufgabe seit dem VIII. Parteitag der SED (1971) Verbesserungen, insbesondere auf dem Dienstleistungssektor, eintreten sollten.
D. Die Förderungspolitik seit 1976
Der unveröffentlichte Politbüro- und Ministerratsbeschluß vom 12. 2. 1976 „Zur Förderung privater Einzelhandelsgeschäfte, Gaststätten und Handwerksbetriebe für Dienstleistungen im Interesse der weiteren Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung“ war das Eingeständnis einer verfehlten Politik und führte zu einer erheblichen Kurskorrektur in der H.-Politik. Finanzielle Starthilfen, steuerliche Erleichterungen und vor allem Nachwuchsförderung, verbunden mit der Erteilung von Gewerbegenehmigungen, kennzeichnen diese neue Politik ebenso wie eine bis dahin ungewohnt positive Berichterstattung in den Medien. Erste Erfolge der Förderung des H. lassen sich bereits ablesen. 1976 und 1977 nahm die Zahl der Lehrlinge im H. deutlich zu. und 1978 stieg auch erstmals in der Geschichte der DDR die Gesamtzahl der privaten H.-Betriebe wieder an. Daß der neuen Einstellung zum H., insbesondere zum privaten, gegenwärtig nicht nur taktische, sondern auch „strategische“ Bedeutung zukommen soll, begründen die Propagandisten der SED damit, daß die Förderung des privaten H. ausdrücklich in das auf dem IX. Parteitag (1976) verabschiedete neue Parteiprogramm der SED aufgenommen wurde.
Maria Haendcke-Hoppe
Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 502–505