Kaderpolitik (1979)
I. Entwicklung des Kaderbegriffs
„Kader in der sozialistischen Gesellschaft sind Persönlichkeiten, insbesondere aus der Arbeiterklasse, die als Leiter, Funktionäre und Spezialisten in allen Bereichen der Gesellschaft aufgrund ihrer politischen, fachlichen u. a. Fähigkeiten und Eigenschaften tätig sind bzw. als Nachwuchskräfte dafür vorbereitet werden“ (Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie. Berlin [Ost] 1977, S. 325). Zu den Kadern werden daher Leitungskräfte („Leitungskader“) aus den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft (Partei-, Staats- und Wirtschaftsapparat, Massenorganisationen, Massenmedien, Wissenschaft, Kultur, Bildung u. a.) und wissenschaftlich ausgebildete Spezialisten ohne Leitungsbefugnisse gezählt. Es wird jedoch darauf hingewiesen, daß die Tätigkeit von Leitern nicht mit der von Spezialisten gleichgesetzt werden könne, weil letztere mit der Entscheidungsvorbereitung, nicht aber, wie die Leiter, mit der Durchführung von Entscheidungen betraut seien.
Ziel der K. der SED ist es aber, auch den Leitern eine möglichst qualifizierte wissenschaftliche Ausbildung [S. 571]zu vermitteln. Von daher werden die Spezialisten zum „natürlichen“ Rekrutierungsreservoir für leitende Positionen und Funktionen.
Mit dieser Definition des Begriffs Kader ― sie wurde in der DDR in dieser Form erstmals 1964 gewählt ― vollzog sich eine Abkehr vom stalinistischen Kaderbegriff, wie ihn Georgi Dimitroff 1935 auf dem VII. Weltkongreß der Komintern bestimmt hatte und wie er später von Stalin übernommen worden war. Nach diesem Verständnis waren die Kader politische Beauftragte der kommunistischen Partei und prinzipiell deren Weisungen unterworfen. „Nicht beliebige Leiter, Ingenieure und Techniker“, so formulierte Stalin, seien erwünscht, sondern solche, „die fähig sind, die Politik der Arbeiterklasse unseres Landes zu begreifen, die fähig sind, sich diese Politik zu eigen zu machen, und die bereit sind, sie gewissenhaft zu verwirklichen“ (Stalin, Werke, Bd. 13, S. 60). Erst in zweiter Linie wurden von ihnen auch das Fachwissen und der Sachverstand gefordert, die nötig sind, um große Organisationen und Verwaltungsapparate zu lenken und zu leiten.
Nach anfänglicher Rücksichtnahme auf die ehemaligen SPD-Mitglieder in der neu gegründeten SED wurde mit ihrer Umwandlung zur „Partei neuen Typus“ (seit 1949) nach dem Vorbild der KPdSU auch deren Vorstellung von den Kadern übernommen. Sie blieb bis zur Einführung des Neuen Ökonomischen Systems 1963 im wesentlichen gültig. Bereits Ende der 50er Jahre begann sich jedoch in der SED-Führung die Einsicht durchzusetzen, daß die Kader neben ihrer politischen Zuverlässigkeit auch über eine hohe fachliche Qualifikation, technische und ökonomische Kenntnisse, Verantwortungsfreude, Risikobereitschaft und psychologisches Einfühlungsvermögen verfügen müßten. (Diese Kriterien nannte Walter Ulbricht 1964.) Die vom VIII. Parteitag der SED (1971) vorgenommene Korrektur der politischen Linie der Partei hat zwar erneut zu einer verstärkten Betonung der politischen Eignung der Kader, jedoch zu keiner grundsätzlichen Neuorientierung der K. geführt.
Dies belegt der jüngste „Beschluß des Sekretariats des Zentralkomitees über die Arbeit mit den Kadern“ vom 7. 6. 1977 (Neuer Weg, Nr. 13, 1977, Beilage), der einen ähnlichen Beschluß aus dem Jahr 1965 ablöst.
II. Aufgaben der Kaderpolitik
Der Beschluß des ZK-Sekretariats bezeichnet die K. als eine „erstrangige politische Aufgabe“; ihr wichtigstes Ziel sei es, die „marxistisch-leninistische und fachliche Bildung“ der Kader zu erhöhen und dafür zu sorgen, daß die zukünftigen Inhaber leitender Positionen und Funktionen im Partei-, Staats- und Wirtschaftsapparat, in den Massenorganisationen sowie im wissenschaftlichen und kulturellen Bereich langfristig auf ihre Aufgaben vorbereitet und planmäßig ausgewählt werden.
In der Regel wird in der DDR zwischen K. und Kaderarbeit unterschieden. Während unter K. die Festlegung der grundsätzlichen Konzeption der Auswahl und des Einsatzes von Kadern auf der Grundlage der Partei- und Regierungsbeschlüsse verstanden wird, wird als Kaderarbeit die konkrete, personenbezogene Auswahl, der Einsatz und die Weiterbildung der Kader bezeichnet. Eine solche Unterscheidung erscheint insofern problematisch, als Kaderarbeit mehr ist als die Anwendung organisatorisch-technischer Mittel; sie ist immer auch, durch die kaderpolitischen Grundsätze der SED bedingt, politisch-organisatorisches Mittel zur Sicherung des Herrschaftsanspruchs der Partei.
III. Geschichte der Kaderpolitik
Bereits unmittelbar nach ihrer Wiederzulassung 1945 hatte die KPD in der SBZ „Personalpolitische Abteilungen“ eingerichtet, deren Aufgaben die Auswahl neuer Parteimitglieder, die Förderung neuer Funktionäre und vor allem die Kontrolle bei der Besetzung von Verwaltungspositionen waren. Mit ihrer Hilfe gelang es nicht nur, nach der Vereinigung von KPD und SPD zur SED ein deutliches Übergewicht im Parteiapparat zu erlangen, diese Abteilungen hatten auch die faktische Entscheidungsgewalt bei der Besetzung leitender Positionen im Staats- und Wirtschaftsapparat sowie den Massenorganisationen. Nach Gründung der DDR 1949 wurden verstärkte Versuche unternommen, die Personalpolitik aller Bereiche der alleinigen Kompetenz des zentralen Parteiapparates zu unterstellen. In den folgenden Jahren wurden die verschiedensten organisatorischen Konzepte erprobt, die jedoch immer an dem offensichtlich nicht lösbaren Grundkonflikt von Zentralisierungsbestrebungen seitens des Parteiapparates und Verselbständigungstendenzen der einzelnen Apparate (Staat, Wirtschaft usw.) scheiterten. Diesen Umständen wurde erst seit 1957 verstärkt Rechnung getragen: die SED entschloß sich, durch eine Unterteilung ihrer umfangreichen Personalkarteien in eine „Hauptnomenklatur“ für leitende Kader und eine „Kontroll- oder Registraturnomenklatur“ für „Reservekader“ nur noch die Positionen und Funktionen in eigener Verantwortung zu besetzen, die sie als politische Führungspositionen ansah, sich im übrigen aber auf eine Kontrolle der Personalpolitik der einzelnen Apparate zu beschränken.
IV. Methoden der Kaderpolitik
1. Die Nomenklatur. Eines der wesentlichen Instrumente der K. ist die Nomenklatur. Sie ist ein Verzeichnis von Positionen und Funktionen auf allen gesellschaftlichen Gebieten, über deren Besetzung die [S. 572]SED entweder direkt entscheidet oder für die sie verbindliche Modalitäten festlegt und sich eine Kontrolle vorbehält. Die erfaßten Positionen und Funktionen sind, differenziert nach der ihnen zugemessenen politischen Bedeutung, Nomenklaturstufen (I, II und III) zugeordnet.
Die in den Nomenklaturen erfaßten Personen werden als Nomenklaturkader bezeichnet. Nomenklaturen existieren auf den verschiedenen Ebenen der einzelnen Apparate. Sie sind den Prinzipien des Demokratischen Zentralismus entsprechend hierarchisch geordnet und weisen die Entscheidungsbefugnis über den Einsatz, die Versetzung oder Ablösung von Kadern der jeweils übergeordneten Leitungsebene bzw. der dort zuständigen Kaderabteilung zu.
Schwer zu erfassen ist dieses System besonders dadurch, daß die Kader des Wirtschafts- und Staatsapparates oder der Massenorganisationen nicht nur in der Nomenklatur dieser Apparate, sondern zugleich auch in der der Partei ― und somit doppelt ― geführt werden. Es besteht für nomenklaturmäßig erfaßte Positionen und Funktionen daher eine doppelte personalpolitische Zuständigkeit, wobei der Entscheidung des Parteiapparates ein besonderes Gewicht zukommt. Das heißt jedoch nicht, daß die Partei in jedem Fall und auf allen Ebenen die Initiative ergreift; die Parallelführung der Nomenklatur erlaubt [S. 573]es ihr, jede personalpolitische Entscheidung wirkungsvoll zu kontrollieren und im Konfliktfall an sich zu ziehen. Von dieser doppelten Erfassung sind die Positionen ausgenommen, über deren Besetzung das Politbüro der SED entscheidet.
2. Kaderbedarfsplanung. Die Nomenklatur selbst sagt nur etwas über die formale Zuordnung zu personalpolitischen Entscheidungsebenen aus; sie sichert allein noch keine kontinuierliche Planung des Kaderbedarfs. Dieses Problem versucht die SED durch die Unterscheidung von 3 quantitativ und qualitativ unterschiedlich gewichteten Rekrutierungsfeldern in den Griff zu bekommen: durch das Kaderreservoir, den Kadernachwuchs und die Kaderreserve.
Zum Kaderreservoir werden alle Hoch- und Fachschulabsolventen und Leitungsmitglieder der unteren Ebenen des Parteiapparates und der Massenorganisationen gezählt. Um diesen Personenkreis, aus dem die zukünftigen Leitungskader hervorgehen, sollen sich die Kaderabteilungen in besonderer Weise kümmern. Ihnen sollen vor allem Aufgaben übertragen werden, die sie in die Lage versetzen, Erfahrungen für die spätere Übernahme von Leitungspositionen zu sammeln. Diejenigen, die sich dabei bewähren, können nach einem Kadergespräch, an dem der unmittelbare Vorgesetzte, aber auch Partei-, Gewerkschafts- und gegebenenfalls FDJ-Vertreter teilnehmen und das dazu dient, herauszufinden, welche konkreten Vorbereitungen zur Übernahme einer leitenden Funktion oder Position zu treffen sind; in den Kadernachwuchs aufgenommen werden. Dies bedeutet zugleich die Aufnahme in die Nomenklatur, entsprechend der Nomenklaturstufe der in Betracht gezogenen Leitungsposition. Mit der Aufnahme in den Kadernachwuchs beginnt die Ausarbeitung individueller Entwicklungs- und Qualifizierungsprogramme, die Festlegung zukünftiger Tätigkeitsfelder und das Ingangsetzen eines erneuten Erprobungsprozesses, an dessen Ende ― nach 2, 3 oder auch 5 Jahren ― ein weiterer Auswahlprozeß steht. Hat sich der Nachwuchskader bei der Erfüllung der ihm übertragenen Aufgaben bewährt, wird er in die Kaderreserve aufgenommen. Hat er sich jedoch nicht bewährt, erfolgt in der Regel eine Rückstufung in den Stand des Kaderreservoirs. Die Aufnahme in die Kaderreserve bedeutet gezielte Vorbereitung und Ausbildung eines relativ engen Kreises von Kadern für festgelegte Funktionen und Positionen. Es beginnt ein erneuter Prozeß der Erprobung [S. 574]und Weiterbildung, der mit der Entscheidung darüber endet, ob der Reservekader die vorgesehene Aufgabe übernimmt, ob es dazu weiterer Vorbereitung bedarf oder ob er in den Status des Kadernachwuchses zurückversetzt wird.
Neben diesen individuellen Maßnahmen entwickeln die einzelnen Leitungsapparate auf den jeweiligen Ebenen jährliche „Kaderpläne“ und langfristige „Kader- und Bildungsprogramme“, die an die Laufzeit der Fünfjahrpläne in der Volkswirtschaft der DDR angeglichen werden sollen. Beide dienen der quantitativen Erfassung und Planung des zukünftigen Kaderbedarfs.
3. Weiterbildung der Kader. Die Weiterbildung der Kader dient vor allem dazu, ihnen die Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln, die für ihre spezifische Funktion oder Position erforderlich sind und die sie in ihrer bisherigen Ausbildung nicht erhalten haben. Dabei ist zwischen verschiedenen Wissensbereichen zu unterscheiden. Kader, vor allem die Spezialisten, benötigen Fachwissen, d. h. Kenntnisse von Zusammenhängen, die sich auf der Grundlage einer wissenschaftlichen Aufbereitung von Problembereichen erschließen und die zur sachgerechten Entscheidungsfindung notwendig sind. Soweit diese Kenntnisse nicht bereits in der Ausbildung an einer Fach- oder Hochschule erworben wurden, sollen sie im Rahmen der Weiterbildung vermittelt werden, und zwar vorrangig in den Einrichtungen des Einheitlichen sozialistischen Bildungssystems. Demgegenüber vermitteln eigens für die Weiterbildung der Kader eingerichtete und vom einheitlichen Bildungssystem getrennte Bildungseinrichtungen und das System der Parteischulung das Sachwissen und die politisch-organisatorischen Fähigkeiten, die zur Lenkung und Leitung großer Apparate für erforderlich erachtet werden. Es handelt sich hier insbesondere um Kenntnisse aus den leitungswissenschaftlichen Disziplinen, der Soziologie, Psychologie usw., vor allem aber um die Verbreitung im Leitungsprozeß selbst gewonnener Erfahrungen.
Um eine enge Verbindung von K. und Weiterbildung der Kader zu gewährleisten, sind die Weiterbildungseinrichtungen den einzelnen Nomenklaturstufen zugeordnet. Ihr Besuch ist — von wenigen Ausnahmen abgesehen — den Kadern der jeweiligen Stufe (I, II oder III) vorbehalten.
IV. Ergebnisse der Kaderpolitik
Die Verfeinerung des kaderpolitischen Instrumentariums und die umfangreichen Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen haben das Qualifikationsniveau der Kader merklich erhöht. So ergibt sich z. B. in den örtlichen Räten folgendes Bild:
Von nicht minder großer Bedeutung sind die Auswirkungen der organisationseigenen Bildungsmaßnahmen, über die aber keine zuverlässigen Angaben vorliegen. (Die Tatsache, daß hier nur in Ausnahmefällen formale Abschlüsse erworben werden, erklärt dies nur zum Teil.) Äußerungen nach dem VIII. Parteitag der SED (1971) deuten darauf hin, daß, gemessen an den Erwartungen, die mit der Einrichtung einer Vielzahl von Bildungsinstitutionen verbunden worden waren, der Effekt eher bescheiden ist. Daher wird in letzter Zeit betont, daß „die Hauptform der Qualifizierung stets der Arbeitsprozeß“ und damit die „unmittelbare Leitungstätigkeit“ sei, daß die Bildungsmaßnahmen der apparateigenen Bildungseinrichtungen „nur Impulse“ geben könnten. Dagegen scheinen sich die Prinzipien der K. im Hinblick auf die Auswahl eines zuverlässigen Leitungspersonals weitgehend bewährt zu haben. Der K. der SED ist es seit Anfang der 60er Jahre gelungen, politische Zuverlässigkeit und fachliche Qualifikation des Leitungspersonals, die in den 50er Jahren meist auseinanderfielen, zu vereinen.
Gert-Joachim Glaeßner
Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 570–574
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