
Kybernetik (1979)
Siehe auch die Jahre 1963 1965 1966 1969 1975 1985
Der K. standen die Parteiideologen der SED lange Zeit ablehnend gegenüber. Diese Ablehnung hatte ihren Grund in dem vermeintlichen Anspruch der K., allgemeine Gesetzmäßigkeiten in Natur. Technik und Gesellschaft entdecken und erklären zu können. Eine Wissenschaft mit einem derartig universellen Gültigkeitsanspruch, die ähnliche Aufgaben wie der Marxismus-Leninismus als „wissenschaftliche Weltanschauung“ zu lösen vorgibt, konnte nur als eine Konkurrenzwissenschaft eingestuft werden. Da sie ferner nicht ohne weiteres mit der orthodoxen Lehre vereinbar schien, mußte sie als schlechthin falsch gelten. So wurde noch 1952 die K. als eine „kapitalistische Pseudowissenschaft“, als eine „Wissenschaft der Obskuranten“ abgestempelt. Erst nach dem Tode Stalins, etwa seit 1954, vollzog sich auch in der DDR mit der Aufgabe der starren dogmatischen Haltung gegenüber der K. ein Wandel. Die Diskussionen wandten sich Mitte der 50er Jahre Versuchen zu. die K. selbst und die in ihr verwendeten Begriffe neu zu bestimmen und dem Marxismus-Leninismus anzupassen. Trotzdem scheiterten in dieser Anfangsphase erste Versuche, sowohl die K. als auch die Elektronische ➝Datenverarbeitung insbesondere für die Volkswirtschaft nutzbar zu machen. Die ideologischen Bedenken gegen die K. als Wissenschaft wurden vollends erst 1960/61 zurückgestellt, wesentlich deshalb, weil man aufgrund der angespannten wirtschaftlichen Lage hoffte, mit Hilfe der K. das wirtschaftliche Planungssystem zu verbessern.
In der DDR wandte sich vor allem der Technikphilosoph und Systemtheoretiker G. Klaus der K. und ihren Anwendungsproblemen zu. Er versuchte u. a. die Aussagen der K. mit zentralen Axiomen und Postulaten des Dialektischen Materialismus zu vereinen, um sie so in das marxistische Weltbild integrieren zu können. Klaus arbeitete zwischen dem von Marx, Engels und Lenin entwickelten Kategoriengebäude der Dialektik und der K. Gemeinsamkeiten heraus und interpretierte Teile der marxistischen Lehre neu. Der theoretische Durchbruch der K. als eines neuen Forschungsgebiets kündigte sich auf der im April 1961 veranstalteten Gründung der „Kybernetik-Philosophie-Gesellschaft“ an.
Für die weitere Durchsetzung kybernetischer Vorstellungen in der DDR lieferte dann u. a. das 1961 von Klaus verfaßte Buch „Kybernetik in philosophischer Sicht“ die notwendige ideologische Absicherung. Im Jahr 1961 wurde schließlich eine Kommission für K. bei der Akademie der Wissenschaften der DDR gegründet. In den Jahren 1962–1968 kam es zu einer Reihe von Aktivitäten, die die K. „aufwerten“ und popularisieren sollten. Hervorzuheben ist vor allem die K.-Konferenz im Oktober 1962 zum Thema „Die Bedeutung der K. für Wissenschaft, Technik und Wirtschaft in der DDR“ mit Beteiligung von Wissenschaftlern aus anderen RGW-Ländern. Zur Rationalisierung der Wirtschaft kündigte der Erste Sekretär der SED, Ulbricht, [S. 638]den Einsatz der K. und der elektronischen Datenverarbeitung auf der 2. ZK-Tagung im November 1962 an. Auf dem VI. Parteitag der SED (1963) erfuhr die K. im Zuge umfangreicher Reformvorschläge zur Wirtschaftsplanung und -Verwaltung besondere Beachtung. So enthielt das auf diesem Parteitag verabschiedete Parteiprogramm mehrere grundsätzliche Aussagen über die Rolle und Bedeutung von K. und elektronischer Datenverarbeitung für die Durchführung der neuen Wirtschaftspolitik. Dieser politisch-ideologischen Leitlinie folgend, zeigte sich auch auf dem VII. Parteitag der SED im April 1967 das Bestreben von Partei- und Wirtschaftsführung, die K. auch weiterhin als Instrument des Planungssystems einzusetzen. Die zunehmende Bedeutung der K. machte jedoch 1968 einer distanzierteren Betrachtungsweise Platz. Gleichwohl entwickelte sich die K. für andere sozialwissenschaftliche Disziplinen zu einem unentbehrlichen Instrument. Ihre Anwendungsmöglichkeiten in der marxistisch-leninistischen Organisationswissenschaft wurde ebenso wie ihre Bedeutung im Rahmen der Sozialistischen Betriebswirtschaftslehre herausgestellt.
Im Zuge der auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 beschlossenen stark modifizierten polit-ökonomischen „Generallinie“ wurden auch neue ordnungspolitische Prioritäten gesetzt. Die SED-Führung glaubte, einen Trend zur Entideologisierung, ja Entdogmatisierung wichtiger Wissenschaftsbereiche festzustellen. Das Politbüromitglied K. Hager machte auf diesbezügliche Gefahren aufmerksam: „So wichtig Kybernetik und Systemtheorie sind und bleiben, so können wir natürlich nicht zulassen, daß sie an die Stelle des Dialektischen und Historischen Materialismus, der politischen Ökonomie des Sozialismus, des wissenschaftlichen Kommunismus oder auch der sozialistischen Leitungswissenschaft treten.“ Seine Kritik an der Systemtheorie gipfelte in der Warnung vor der Gefahr, daß „die Sprache einer Spezialwissenschaft die politische Sprache einer Partei wird“ und daß die Partei damit aufhöre, „eine marxistisch-leninistische Partei zu sein“ (K. Hager, Einheit Nr. 11/1971, S. 1215). Diese Kritik machte den Bruch mit den bisher auch von der Parteiführung vertretenen Positionen besonders deutlich. K., Informationswissenschaft oder Operationsforschung wurden in ihrer politisch-ideologischen Bedeutung stark reduziert und auf den Status von instrumentellen Hilfswissenschaften zurückgestuft. Aufgrund dieser neuen Einschätzung spielte seitdem in der Gesellschaftspolitik der SED die K. nur noch eine relativ untergeordnete Rolle.
Gelegentliche offiziöse Aussagen zeigen jedoch, daß die neue Parteiführung unter Honecker auf eine kontrollierte Anwendung der K. nicht zu verzichten gedenkt. So soll nach den von der SED auf dem IX. Parteitag (1976) festgelegten Beschlüssen u. a. die mathematisch-kybernetische Grundlagenforschung der Akademie der Wissenschaften der DDR weiterhin eine beachtliche Rolle spielen (Mathematik). Information.
Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 637–638