
Oder-Neiße-Grenze (1979)
Siehe auch:
Bezeichnung für die geographische Linie, die von der tschechoslowakischen Grenze dem Lauf der westlichen Neiße folgt und von deren Odermündung entlang der Oder bis südlich Stettin verläuft. Sie markiert die gegenwärtige Grenze zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen. (Die ONG. stellt nur einen Teil der Grenze zwischen beiden sozialistischen Ländern dar; im Norden verläuft die Grenze entlang einer Linie, die südlich von Stettin die Oder verläßt, westlich an der Stadt vorbei nach Norden verläuft und westlich von Swinemünde die Ostsee trifft. Durch diese willkürliche Grenzziehung am Ende des II. Weltkrieges fielen auch die Städte Stettin und Swinemünde und ihr Hinterland unter polnische Verwaltung.)
Im Febr. 1945 wurde auf der Krim-Konferenz von Roosevelt, Churchill und Stalin eine Entschädigung Polens für die von der UdSSR annektierten polnischen Ostgebiete auf Kosten Deutschlands anerkannt, ohne daß Vereinbarungen über den Umfang des Gebietes getroffen worden wären. Nach Abschnitt IX des Potsdamer Abkommens wurde die diesbezügliche Meinung der Provisorischen Polnischen Regierung lediglich „geprüft“, doch „bekräftigten die Häupter der drei Regierungen die Auffassung, daß die endgültige Festlegung der Westgrenze Polens bis zur Friedenskonferenz zurückgestellt werden solle“. Ferner ergab die Potsdamer Konferenz darin Übereinstimmung, daß die in Frage stehenden deutschen Gebiete „unter die Verwaltung des polnischen Staates kommen und in dieser Hinsicht nicht als Teil der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland betrachtet werden sollen“.
In der Folgezeit wurde von Seiten der Westmächte bei jedem diplomatischen Anlaß der vorläufige Charakter der ONG. betont, während Polen und die UdSSR die Vereinbarungen des Potsdamer Abkommens als endgültige Regelung betrachten. Polen paßte den Verwaltungs- und Wirtschaftsaufbau den polnischen Verhältnissen an und begann mit einer polnischen Besiedlung der ehemals deutschen Gebiete. Bemerkenswert ist u. a. die Tatsache, daß die ONG. in erster Linie ein Produkt der Diskussion zwischen den Kriegsalliierten um die polnische Westgrenze war, die ihrerseits wegen der sowjetischen Ansprüche auf ostpolnisches Gebiet nach Westen verschoben werden mußte („Westverschiebung Polens“).
Die Haltung der SED zur ONG. hat sich seit Ende des II. Weltkrieges gewandelt.
Am 16. 10. 1946 erklärte z. B. einer der beiden Vorsitzenden der SED, W. Pieck: „Wir werden alles tun, da[S. 771]mit bei den Alliierten die Grenzfrage nachgeprüft und eine ernste Korrektur an der jetzt bestehenden Ostgrenze vorgenommen wird“ (Berliner Zeitung, Nr. 243 vom 17. 10. 1946). Dagegen heißt es in der Regierungserklärung Grotewohls vom 12. 10. 1949: „Die Oder-Neiße-Linie ist für uns eine Friedensgrenze …“ Im Abkommen der DDR mit der Republik Polen vom 6. 7. 1950 (Görlitzer Abkommen) wird die ONG. als „unantastbare Friedens- und Freundschaftsgrenze“ bezeichnet und damit der Versuch unternommen, die ONG. völkerrechtlich festzulegen. Im Jahr 1970 behauptete der Erste Sekretär der SED, W. Ulbricht, mit dem Abschluß des Görlitzer Abkommens habe die SED „für alle Deutschen gehandelt“.
Aus westlicher Sicht waren und sind zum Problem der ehemaligen deutschen Ostgebiete zwei Auffassungen geäußert worden:
1. Die Abmachungen der Kriegsalliierten sähen eine endgültige Grenzregelung erst bei Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland als Ganzem vor. Die Entscheidung über territoriale Fragen, insbesondere über die Abtretung deutschen Gebietes, muß einem aus freien Wahlen hervorgegangenen gesamtdeutschen Souverän vorbehalten bleiben. Daher sei der Görlitzer Grenzvertrag zwischen DDR und Polen völkerrechtlich ungültig und für keine deutsche Regierung bindend. Faktische und rechtliche Gründe für eine Gebietsabtretung diesen Ausmaßes seien nicht gegeben. Diesen formalen, völkerrechtlich schwer angreifbaren Standpunkt vertraten alle Bundesregierungen der Bundesrepublik Deutschland bis 1969, dem Jahr des Regierungsantritts der Kleinen Koalition aus SPD und FDP.
2. Die nationalen Interessen der Bundesrepublik Deutschland erforderten eine Normalisierung ihrer Beziehungen auch zu den osteuropäischen Ländern. Daher sei es aus politischen und moralischen Gründen notwendig und möglich, mit der Volksrepublik Polen — ohne Aufgabe prinzipieller Rechtsauffassungen — über eine Anerkennung der bestehenden Grenze zur DDR zu verhandeln. Das Beharren auf Rechtspositionen müsse auf Dauer die Bundesrepublik vom europäischen Entspannungsprozeß abkoppeln, sie auch im Westen isolieren und eine Verständigung mit der DDR auf unabsehbare Zeit vertagen. Zudem erfordere die Situation um Berlin (West) einen auszuhandelnden Modus vivendi mit der UdSSR, der ohne eine Verständigung mit der Regierung Polens nicht zu erreichen sei.
Die Bundesregierung unter Bundeskanzler W. Brandt und Außenminister W. Scheel unterzeichnete am 7. 12. 1970 in Warschau einen „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen“. In diesem Vertrag, als Gewaltverzichtsvertrag apostrophiert, anerkennt die Bundesrepublik (für sich), daß die bestehende Grenze, die ONG., die westliche „Staatsgrenze der Volksrepublik Polen“ bildet, „unverletzlich“ („jetzt und in der Zukunft“) sei und beide Staaten gegeneinander keine Gebietsansprüche haben.
Damit hat die Bundesrepublik Deutschland einen Schritt getan, den die DDR schon 1950 — allerdings unter sowjetischem Druck — vollzogen hatte. Ihre prinzipielle Auffassung — daß eine gesamtdeutsche Regierung vor einem Friedensvertrag nicht durch Gebietsabtretungen gebunden werden kann — wurde davon nicht berührt. Deutschlandpolitik der SED.
Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 770–771
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