Wirtschaftswissenschaften (1979)
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Bezeichnung für Wissenschaften, die wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge, Prozesse und Erscheinungen untersuchen und „ökonomische Gesetze“ in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen erforschen. Sie umfassen Forschung und Lehre. Zu den W. des Sozialismus werden gezählt: 1. die Politische Ökonomie, 2. eine „Theorie der Volkswirtschaftsplanung“, 3. eine Sozialistische Betriebswirtschaftslehre, 4. eine Lehre der Sozialistischen Wirtschaftsführung, 5. Spezialdisziplinen wie Industrieökonomie, Agrarökonomie, Handelsökonomie, Verkehrsökonomie, Finanzökonomie, 6. Disziplinen im Grenzbereich zu anderen Wissenschaften wie Wirtschaftsstatistik, Wirtschaftsmathematik, Ökonometrie, Wirtschaftsrecht, Wirtschaftsgeographie.
Die W. beschränkten sich lange auf die aus dem Russischen übersetzte Politische Ökonomie als einer normativistischen Lehre auf der Grundlage — wie als Bestandteil — des Marxismus-Leninismus. Für die Planung. Leitung und Kontrolle eines industriellen Wirtschaftssystems erwies sie sich als nicht ausreichend, so daß heute die Anwendung von Ergebnissen und Methoden der W. auch anderer Länder und Gesellschaftssysteme diskutiert und experimentiert werden. Heute versucht man. durch empirische Untersuchungen die Daten und Strukturen wirtschaftlich-sozialer Abläufe in einer sozialistisch verfaßten Industriegesellschaft zu gewinnen. Dies geschieht im Rahmen einer besonders seit Einführung des Neuen Ökonomischen Systems 1963 geforderten „schöpferischen Weiterentwicklung“ der W., speziell der „ökonomischen Lehren des Sozialismus und des Übergangs zum Kommunismus“. In erster Linie erfolgt die Weiterentwicklung durch die Anwendung der Mathematik, entweder zur Formalisierung ökonomischer Strukturen (z. B. in der Form der Verflechtungsbilanzen) oder als Operationsforschung. Durch das NÖS bzw. ÖSS erfuhren die W. eine Aufwertung.
Im Anschluß an den VIII. Parteitag der SED (1971) erfolgte eine engere Verbindung der Einzeldisziplinen mit der traditionellen Politischen Ökonomie. Das unter der Leitung des Politbüros des ZK der SED erarbeitete Buch „Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR“, Berlin (Ost) 1969, wurde zurückgezogen und zunächst durch sowjetische Lehrbücher ersetzt.
Seit 1973/74 sind erneut Lehrbücher zur Politischen Ökonomie, zur Volkswirtschaftsplanung und zur sozialistischen Betriebswirtschaft als DDR-Publikationen veröffentlicht worden, allerdings erneut in enger Anlehnung an die sowjetische Forschung und Lehre.
Die wesentlichen Aufgaben der W. sind:
1. Grundlagen für die Beratung der Wirtschaftspolitik der SED und des Ministerrats zu schaffen;
2. neue Erkenntnisse, Analysen und Vorschläge für die Lösung grundsätzlicher und aktueller Fragestellungen bereitzustellen;
3. Wissenschaftler und Fachleute für die verschiedenen Wirtschaftsbereiche und die wirtschaftlich-politische Leitung und Planung aus- und weiterzubilden.
Der Gegenstand von Forschung und Lehre wird in erheblichem Umfang durch aktuelle Probleme der Wirtschaftspolitik bestimmt. Durch die Neuorientierung der Wirtschaftspolitik seit dem VIII. SED-Parteitag erfuhren die „Theorie der Volkswirtschaftsplanung“ und die „sozialistische Betriebswirtschaftslehre“ eine Aufwertung als selbständige Teildisziplinen.
Im Zentrum der W. steht jedoch unverändert die Politische Ökonomie; als wichtiges neues Arbeitsgebiet wurden die Probleme der zukünftigen wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit RGW-Mitgliedsländern („sozialistische ökonomische Integration“, Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe) aufgenommen. Die Schwerpunkte der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung liegen bei den Themen a) der Politischen Ökonomie des Sozialismus, b) der sozialistischen Wirtschaftsführung (Leitungswissenschaft), c) der Planung, wirtschaftlichen Rechnungsführung und der wirtschaftlichen Anreizsysteme, d) der Wirtschaftsintegration und e) der Arbeitswissenschaft. Die Lehre umfaßt in der Grundstudienrichtung W. folgende Hauptgebiete: a) Politische Ökonomie des Sozialismus und des Kapitalismus, b) Geschichte der Politischen Ökonomie, c) Lehre der Volkswirtschaftsplanung, d) Betriebswirtschaftslehre, e) Statistik, f) Leitung der Wirtschaft, g) Wirtschaftsgeschichte und h) elektronische Datenverarbeitung. Als allgemeines Kriterium für Forschung und Lehre wird die Nutzanwendung in der Praxis gesehen.
Die W. sind an fast allen Universitäten vertreten, ferner an einer Reihe spezieller Hochschulen (z. B. Hoch[S. 1190]schule für Landwirtschaft Bernburg) und Fachschulen. Wirtschaftswissenschaftliche Forschung wird auch an den Industriezweiginstituten der Ministerien, VVB und Großbetriebe durchgeführt. Von herausragender Bedeutung sind die Hochschule für Ökonomie „Bruno Leuschner“ in Berlin-Karlshorst und das Institut für Wirtschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften der DDR. Leitende Institutionen für die W. sind das Zentralinstitut für sozialistische Wirtschaftsführung und die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. Im Bereich des Staatsapparates sind es das „Ökonomische Forschungsinstitut“ bei der Staatlichen Plankommission und das Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. Zur einheitlichen Leitung und Koordinierung der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung bestand von 1963 bis 1968 ein „Beirat für ökonomische Forschung“ bei der Staatlichen Plankommission. 1972 wurde mit dem „Wissenschaftlichen Rat für die wirtschaftswissenschaftliche Forschung“ ein ähnliches Gremium bei der Akademie der Wissenschaften gegründet. Der Rat gliedert sich in 8 spezielle Räte für Hauptgebiete der W. Ratsvorsitzender ist Prof. Dr. Helmut Koziolek (Direktor des Zentralinstituts für sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK der SED). 19.229 Hochschulstudenten studierten 1976 W. Zwischen 1968 und 1972 stieg die Studentenzahl von 15.789 auf 25.456; seit dem Jahr 1972 sank die Studentenzahl von Jahr zu Jahr. Von 1972 bis 1976 absolvierten im Jahresdurchschnitt 5.341 Studenten ein wirtschaftswissenschaftliches Studium.
Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 1189–1190
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