
SED (1979)
Siehe auch:
Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands konstituierte sich am 21./22. 4. 1946 auf dem sog. Vereinigungsparteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD/DKP) im sowjetisch besetzten Berlin.
I. Geschichte der SED und ihrer Herrschaft
A. Vorgeschichte
Im Gegensatz zu anderen in Deutschland von 1933 bis 1945 verbotenen und verfolgten Parteien besaß die KPD im Moskauer Exil am Ende des II. Weltkrieges eine intakte Führung. Unter Kontrolle der Sowjets hatte dort die Parteiführung in den Jahren nach 1933 Weiterarbeiten, unter den kriegsgefangenen Offizieren und Soldaten agitieren (Nationalkomitee Freies Deutschland) und sich auf die politische Arbeit im Nachkriegsdeutschland vorbereiten können.
In enger Zusammenarbeit mit der Politverwaltung der sowjetischen Streitkräfte wurde unter der Leitung des damaligen Mitgliedes des Politbüros und Sekretärs des Zentralkomitees der KPD, W. Ulbricht, Anfang Februar 1945 eine Kommission ins Leben gerufen, die Einzelheiten der politischen Arbeit im Nachkriegsdeutschland festlegte. Die von dieser Kommission ausgearbeiteten Thesen, die sich auf Vorarbeiten aus den Jahren 1943/44, so das „Aktionsprogramm des Blocks der Kämpferischen Demokratie“ (1. Fassung Oktober 1944), stützten, wurden einer ausgewählten Gruppe von kommunistischen Emigranten in Schulungskursen vorgetragen. Sie können als Leitlinien der frühen sowjetischen Deutschlandpolitik angesehen werden:
1. Das deutsche Volk ist kollektiv verantwortlich für die Entfesselung des II. Weltkrieges und die Kriegsgreuel (Kollektivschuld).
2. Nach dem Krieg ist die „bürgerlich-demokratische Umgestaltung“ zu vollenden; die Losung vom unmittelbaren revolutionären Übergang zum Sozialismus liegt nicht im Interesse der kommunistischen Bewegung (antifaschistisch-demokratische Ordnung).
3. Nach Kriegsende sind alle antifaschistischen Kräfte in einem „Block“ zu sammeln; linkssektiererische Gruppen sind aufzulösen (Konzept eines antifaschistisch-demokratischen Blocks).
4. Die Einheit der Arbeiterklasse ist herbeizuführen. (Das Ziel der „Einheitsfront“ bezog sich zu dieser Zeit — da die Gründung politischer Parteien in Deutschland zunächst nicht vorgesehen war — auf die „Zusammenarbeit im Block“. Erst nach der Zulassung von Parteien durch die sowjetische Besatzungsmacht richtete sich diese Forderung speziell an SPD und KPD.)
Ein unmittelbar danach verabschiedetes 14-Punkte-Programm legte Einzelmaßnahmen fest und sollte die bürgerlichen Freiheitsrechte garantieren. Ziel war die „Vollendung der bürgerlichen Revolution“ und nicht die „sozialistische Revolution“.
Im Gegensatz zu solchen Vorstellungen der Moskauer Exil-KP waren unter den in Deutschland verbliebenen, z. T. inhaftierten Mitgliedern der SPD [S. 928](nicht selten in Kontakt und Übereinstimmung mit ehemaligen KPD-Mitgliedern, die das Schicksal der Verfolgung und Inhaftierung teilten) andere Auffassungen für die Neuordnung nach dem Kriege entwickelt worden. Die sog. „Buchenwälder Plattform“ vom 1. 5. 1944 und das „Buchenwälder Manifest“ vom 13. 4. 1945 optierten klar für die „Verwirklichung des Sozialismus“.
B. Eroberung einer Mitgliederbasis in der Phase der antifaschistisch-demokratischen Ordnung (1945 bis 1947)
Ende April 1945 kehrte die erste Gruppe kommunistischer Emigranten, die sog. Gruppe Ulbricht, aus der Sowjetunion nach Berlin zurück. Am 10. 6. 1945 erließ die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) den Befehl Nr. 2, der die Gründung antifaschistischer Parteien und Gewerkschaften gestattete. Bereits am nächsten Tag trat die KPD mit einem Aufruf, der überwiegend von den aus Moskau zurückgekehrten Kommunisten unterzeichnet war, an die Öffentlichkeit. Der Aufruf zielte auf eine flexible Machtübernahme entweder in Gesamtdeutschland oder in dessen Teilen. Der zentrale Gedanke war die Errichtung einer „einheitlichen“, „friedliebenden“, „antifaschistisch-demokratischen“ deutschen Republik. Es wurde hervorgehoben, daß es nicht sinnvoll sei, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen. Die Bildung einer Einheitspartei der Arbeiterklasse wurde zunächst nicht ins Auge gefaßt. (Die Parteiführung wollte vermutlich erst einmal die eigenen Kader sammeln und schulen.)
Besonders unter den in Deutschland aktiv gebliebenen KPD-Mitgliedern und vor allem bei den Überlebenden der Konzentrationslager regte sich gegen den Aufruf vom 11. Juni Widerstand. In ihren Augen bedeuteten die Konzeptionen der von der SMAD gesteuerten KPD-Führung eine Absage an die revolutionären Traditionen der deutschen Kommunisten.
Ferner riefen die SPD (15. 6.), die CDU (26. 6.) und die LDPD (5. 7.) zur Neugründung auf. Alle 3 Parteien erhielten von der SMAD die Genehmigung zur Aufnahme ihrer Tätigkeit, hatten aber durch ihre Zusammenfassung mit der von den Sowjets gestützten KPD im „antifaschistisch-demokratischen Block“ (Bündnispolitik) diese als politisch willensbildende Kraft anzuerkennen. Die KPD in der SBZ und in Berlin ihrerseits sah sich in der Lage, zwar die von der sowjetischen Besatzungsmacht favorisierte Partei zu sein, gleichzeitig jedoch war sie zunächst nur eine politische Kraft unter mehreren. Der Weg zur Alleinherrschaft lag noch vor ihr. Ehemalige Mitglieder der SPD, die in der Zeit 1933–1945 in Deutschland geblieben waren, im Untergrund gekämpft hatten und sich nach Kriegsende in Berlin zusammenfanden, hatten als Führungsgremium der wieder aufzubauenden Partei den Zentralausschuß (ZA) unter O. Grotewohl gebildet. Der Gründungsaufruf des ZA forderte Demokratie in Staat und Gemeinde sowie Sozialismus in Wirtschaft und Gesellschaft. Aus den Erfahrungen des mit den Kommunisten z. T. gemeinsam gefochtenen Untergrundkampfes gegen das NS-Regime heraus traten die Sozialdemokraten für die organisatorische Einheit der beiden Arbeiterparteien ein. Die aus Moskau heimgekehrten Kommunisten jedoch lehnten die Einheit nachdrücklich ab. Der Haltung der SPD in dieser Frage lag auch die Vorstellung zahlreicher ihrer Führer und Mitglieder zugrunde, daß der Zusammenbruch der Weimarer Republik hätte verhindert werden können, wenn es rechtzeitig zu einer Aktionseinheit von SPD und KPD gekommen wäre. Hinzu kam, daß die SPD-Führung annehmen konnte, aufgrund der Stärke ihrer Partei sei den Kommunisten der Weg zur alleinigen Machtausübung versperrt. Diese Einschätzung mag sich noch verstärkt haben, nachdem am 15. 6. 1945 (Gründungsaufruf) erstmals in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung die Gründung einer überparteilichen Einheitsgewerkschaft (FDGB) möglich zu werden schien.
Als die SPD — aufgrund der Aufnahme ihrer Tätigkeit auch in den Westzonen unter K. Schumacher, der von der Londoner Exil-SPD Unterstützung erhielt, sowie aufgrund ihrer starken gesamtdeutschen Ambitionen — politisch zu mächtig zu werden drohte und als zudem die Kommunisten im Herbst bei den Wahlen in Österreich und Ungarn in der Minderheit blieben, nahm die KPD in der SBZ nunmehr ihrerseits konsequenten Kurs auf eine Vereinigung mit der SPD. Der Berliner ZA unter O. Grotewohls Vorsitz stellte nun Vorbedingungen an das formal von W. Pieck und de facto von W. Ulbricht im Einvernehmen mit der SMAD geführte ZK der KPD. Zu echten Verhandlungen zwischen beiden Spitzengremien ist es jedoch nicht gekommen. Vielmehr ließen der zunehmende Druck der sowjetischen Besatzungsmacht, einzelne Verhaftungen von SPD- Funktionären, jedoch auch Spannungen in der Partei selbst (insbesondere mit Schumacher in Hannover) Grotewohl Ende des Jahres 1945 nachgeben. Hinzu kam, daß in den SPD- und KPD-Landesverbänden von Sachsen, Thüringen und Mecklenburg zahlreiche Stimmen für eine Vereinigung beider Parteien laut wurden. Schon im Februar 1946 war es dann auf der Kreisebene zu Vereinigungen gekommen, wobei eventueller Widerstand durch Überredung und Gewalt seitens der Besatzungsmacht gebrochen wurde. Die SMAD erlaubte weder gesamtdeutsche Parteitage beider Parteien noch eine Urabstimmung ihrer Mitglieder. Die einzige freie Urabstimmung fand in der SPD in den Westsektoren von Berlin am 31. 3. 1946 statt. Hier entschieden sich bei einer Wahlbeteiligung von ca. 73 v. H. mehr als 80 v. H. [S. 929]der Sozialdemokraten gegen eine Einheitspartei. Allerdings sprachen sich die SPD-Mitglieder in den Westsektoren von Berlin deutlich für eine Zusammenarbeit von SPD und KPD aus.
In der SBZ wurden die Vereinigungsbeschlüsse auf dem 40. Parteitag der SPD und dem 15. der KPD gefaßt (19./20. 4. 1946). Der I. Parteitag der SED (Vereinigungsparteitag, 21./22. 4. 1946) fand dann im Admiralspalast in Berlin statt. Die Mehrheit der (1055) Delegierten kam entsprechend dem Mitgliederstand aus der SPD, 230 Delegierte waren aus den Westzonen angereist.
Die Partei gab sich ein (Organisations-)Statut. Gemäß diesem (1.) Statut wählte der Parteitag einen 80köpfigen Parteivorstand (PV), aus dem ein 14 Personen umfassendes Zentralsekretariat (ZS) hervorging. Die Bildung von Landes- und Kreisvorständen (später, nach Auflösung der Länder im Jahre 1952, Bezirksleitungen [BZL] und Kreisleitungen [KL] genannt, s. u.) war ebenfalls in dem Statut festgelegt. Für den Organisationsaufbau wurde zwischen der früheren Organisationsform der SPD (Wohnbezirksgruppen) und der KPD (Betriebsgruppen) ein Kompromiß insofern gefunden, als neue Mitglieder zwar von den „Ortsgruppen“ aufgenommen, aber berufstätige Mitglieder gleichzeitig der „Betriebsgruppe“ der SED angehören mußten.
Territorial- und Produktionsprinzip bestanden nebeneinander (s. u. III, B). Alle Leitungsfunktionen — von Betriebs- und Ortsgruppen bis zum ZS — wurden paritätisch aus ehemaligen KPD- und SPD-Mitgliedern besetzt. Pieck und Grotewohl wurden zu Vorsitzenden der Partei, Ulbricht und P. Fechner zu stellvertretenden Vorsitzenden gewählt. Das ZS, das auf dem II. Parteitag um je einen Vertreter von KPD und SPD erweitert wurde, faßte selbständig Beschlüsse. In besonders wichtigen Fällen wurden sie dem PV zur Entscheidung unterbreitet.
Die SED hatte sich in den vom I. Parteitag verabschiedeten „Grundsätzen und Zielen“ programmatisch auf einen „demokratischen“ deutschen Weg zum Sozialismus festgelegt. Das lag auf der Linie der vom späteren ZS-Mitglied A. Ackermann im Auftrag der sowjetischen Führung erarbeiteten und im Februar 1946 in der Zeitschrift „Einheit“ vertretenen These vom besonderen deutschen Weg zum Sozialismus. Das Ziel, der Sozialismus, sollte auf demokratischem Wege „erstrebt“ werden, wenn nicht „die kapitalistische Klasse den Boden der Demokratie verläßt“. Obwohl sich die SED — wenn auch bis 1948 nicht offen — als „sozialistische“ Partei verstand und auf den Marxismus als grundlegende Theorie berief, wurden in die für ganz Deutschland konzipierten „Gegenwartsforderungen“ der „Grundsätze“ Programmpunkte (z. B. Bestrafung aller Kriegsverbrecher, Punkt. 1) aufgenommen, die zeigten, daß die Partei eine breite Basis suchte. Bekenntnisse zur Meinungs- und Koalitionsfreiheit und zum Streikrecht standen allerdings erst an 8. und 9., die „Einheit Deutschlands“ an 12. Stelle des Programms, und Forderungen wie: Beseitigung der kapitalistischen Monopole (Punkt 2), Entmachtung der Großgrundbesitzer und Durchführung der demokratischen Bodenreform (Punkt 3), wirtschaftlicher Aufbau auf der Grundlage von Wirtschaftsplänen (Punkt 6), gaben dem Gegenwartsprogramm sozialistisch-kommunistische Züge. Solche Ambivalenz in den „Grundsätzen“ war nicht zufällig, denn die von der Parteiführung in ihrem Streben nach Erweiterung der Herrschaftsbasis zu berücksichtigenden Interessenlagen waren sehr unterschiedlich.
Die Verbreitung eines demokratischen Profils bei der Mitgliedschaft und der Bevölkerung lag im Interesse der Parteiführung. Sie versprach sich davon Erleichterungen in der Verfolgung gesamtdeutscher Ziele. Damals wie auch in den folgenden Jahren war die SED vorbereitet, in Übereinstimmung mit der sowjetischen Deutschlandpolitik durch Ausdehnung ihrer Organisation aktiv Einfluß auch in den Westzonen auszuüben. Das starke gesamtdeutsche Engagement wurde deutlich, als der PV am 7. 5. 1946 in einem offenen Brief alle SPD- und KPD-Mitglieder in den drei westlichen Besatzungszonen aufforderte, auch in ihrem Gebiet eine Sozialistische Einheitspartei zu gründen.
Im Herbst 1946 fanden in der SBZ die ersten Wahlen statt. Die SED erhielt in den Gemeindewahlen im Durchschnitt 58,5 v. H., in den Kreistagswahlen 50,3 v. H. und in den Wahlen zu den Landtagen 47,5 v. H. aller Stimmen, obwohl CDU und LDPD starken Behinderungen unterlagen. In den meisten größeren Städten konnte die SED nicht die absolute Mehrheit erlangen. Damit war sie — trotz Hilfestellung von Seiten der Besatzungsmacht — hinter ihrem selbstgesteckten Ziel zurückgeblieben. Andererseits war sie stärker und besser organisiert als die bürgerlichen Parteien. Ihr Mitgliederstand wuchs (s. u. III. D.), und die Zahl der Grundorganisationen stieg von ca. 13.000 (I. Parteitag) auf 24.000 (II. Parteitag). Den Aufbau ihres hauptamtlichen Apparates hatte die SED der sowjetzonalen Verwaltungsstruktur angeglichen und sich durch die Gründung Personalpolitischer Abteilungen (PPA) bei den verschiedenen Parteiorganisationen wirksame Instrumente geschaffen, um die Personalpolitik in allen Bereichen des öffentlichen Lebens mitbestimmen zu können. Noch war allerdings innerhalb der SED die Moskau-orientierte ehemalige KPD, die vor allem für solche Maßnahmen verantwortlich zeichnete, auf die SPD und andere Gruppierungen angewiesen.
Die einheitliche Ausrichtung und Umwandlung der neuen Partei im Sinne einer „Partei neuen Typus“ sollte die Aufgabe der kommenden Jahre sein.[S. 930]
C. Umorganisationen im Sinne der Kaderpartei und der volksdemokratischen Ordnung (1947--1955)
Der II. Parteitag (20.–24. 9. 1947) beschloß die weitere Geltung der „Grundsätze und Ziele“ bis zur Verabschiedung eines neuen Parteiprogramms, zu der es allerdings erst 1963 kam. Der Marxismus — nicht ausdrücklich seine Verbindung mit dem Leninismus — sollte der „sichere Kompaß“ auf dem Weg zur demokratischen Neugestaltung und zur Einheit Deutschlands sein. Der Kampf um diese Einheit wurde zur „Hauptaufgabe“ der Arbeiterklasse erklärt; dabei verstand die SED sich als politisch führende Kraft in ganz Deutschland.
Gleichzeitig wurde gefordert, in den Volkseigenen Betrieben die Überlegenheit der neuen demokratischen Wirtschaftsordnung über die „kapitalistische Wirtschaftsanarchie“ zu beweisen. Besondere Bedeutung kam dabei der politischen Aktivität der ca 13.000 Betriebsgruppen der SED zu, auf die sich nun immer mehr das Schwergewicht der politischen Arbeit verlagerte. Dies zeigte sich auf der zentralen Organisations-Schulungskonferenz, die vom 27. 1. bis 6. 2. 1948 im Gebäude der Karl-Marx-Parteihochschule (Parteihochschule „Karl Marx“ beim ZK der SED) stattfand. Auf ihr waren folgende Richtlinien zur Verbesserung der Arbeitsmethoden der Parteileitungen und der Arbeit der Grundeinheiten erlassen worden: Die Betriebsgruppen sollten die „führende Kraft“ in allen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Fragen des Betriebes sein. Die Betriebsgruppen der staatlichen Industrieverwaltungen erhielten die Aufgabe, diese Institutionen von „reaktionären Elementen“ zu säubern und bürokratische Hemmnisse zu beseitigen. Die Richtlinien legten ferner fest: Jede Betriebsgruppe hatte einen Arbeitsplan aufzustellen; in jedem Betrieb mit über 1.000 Parteimitgliedern waren hauptamtliche Parteisekretäre zu wählen und zu beschäftigen. Betriebsgruppen mit mehreren tausend Mitgliedern, wie die Buna- und Leunawerke, erhielten die Pflichten und Rechte einer eigenen Kreisleitung der SED und neben dem 1. Sekretär auch weitere hauptamtliche Parteisekretäre für festgelegte Arbeitsgebiete. Gleichzeitig wurden von der SED erste Formen der späteren Aktivistenbewegung, der organisatorischen Vorform des Sozialistischen Wettbewerbs, in einzelnen Betrieben eingeführt.
Die SED der Jahre 1946 und 1947 kann weder als eine Fortsetzung der alten KPD noch als eine Kaderpartei leninistischen Typs angesehen werden. Erst der sich verschärfende Ost-West-Gegensatz, die auf der Gründungskonferenz des Kominform im Herbst 1947 von Stalins Vertrautem, dem Ersten Sekretär der Leningrader Parteiorganisation Shdanow, erstmalig nach dem Ende des II. Weltkrieges wieder erneuerte orthodoxe Einteilung der Welt in zwei feindliche Lager (Zwei-Lager-Theorie) und der Konflikt der Sowjetunion mit Jugoslawien führten zu eindeutigeren Strukturen. Innenpolitisch wurde diese Entwicklung gestützt durch die von der SMAD befohlenen gesellschaftlichen Umwandlungen (Besatzungspolitik; Agrarpolitik; Enteignung), die zunehmende Anpassung an das sowjetische Wirtschaftsmodell (Planung), die Aufwertung der Deutschen Wirtschaftskommission, die Auflösung der Betriebsräte und die Stärkung der Betriebsgruppen sowie schließlich die generelle Einführung der Aktivistenbewegung. Zwar sollte die SED eine Massenpartei bleiben, jedoch wurde nun die Übernahme von Organisations- und Befehlsstrukturen, wie sie für eine leninistische Kaderpartei typisch sind (Demokratischer Zentralismus), angezielt.
Die außen- und innenpolitisch motivierte Ausrichtung der SED an der KPdSU und der SBZ/DDR an der UdSSR wurde seit 1948 konsequent verfolgt. So forderte der PV im Juni 1948, die SED zu einer „Partei neuen Typus“ (s. u.) zu entwickeln. Grotewohl erklärte außerdem auf der 11. Tagung des PV am 29./30. 6. 1948 die Spaltung Deutschlands für vollzogen und lehnte für Deutschland jegliche Brückenfunktion im Ost-West-Konflikt ab. Von ihm wie von Ulbricht wurde betont, daß die SBZ sich eindeutig am volksdemokratischen Vorbild (Staatslehre) zu orientieren und von der UdSSR zu lernen habe.
Nachdem sich das ZS in einer Resolution vom 3. 7. 1948 auf die Seite Stalins und des Kominform-Büros gegen die jugoslawischen Kommunisten gestellt hatte, begann in allen Parteiorganisationen der SED eine Kampagne, die eine positive Haltung zur Politik der KPdSU-Führung und zum gesellschaftspolitischen Modell der Sowjetunion erzwingen sollte. Den Funktionären des Verwaltungsapparates wurde die angezielte Einordnung in den Sowjetblock und deren Konsequenzen für die Funktionsweise des Staatsapparates (Beseitigung der Selbstverwaltung. Durchsetzung des Prinzips des Demokratischen Zentralismus) auf der 1. Staatspolitischen Konferenz in Werder (23./24. 7. 1948) erläutert.
Gegen die neue Linie der Partei erhob sich besonders in den Reihen ehemaliger SPD-Mitglieder Widerstand. Nach Shdanows Rede über die „zwei Lager“ hatten außerdem die sowjetischen Organe ehemalige Sozialdemokraten verschärft überwacht. Reden führender Funktionäre, die jetzt der SED angehörten, wurden zensiert bzw. durften in der Parteipresse nicht publiziert werden. In der Sicht derjenigen Sozialdemokraten, die den Zusammenschluß mit der KPD als ein Experiment, das in ganz Deutschland einen demokratisch-sozialistischen Neubeginn vorbereiten sollte, betrieben hatten, war die Einheitspolitik gescheitert. Sie konnten nicht verhindern, daß der von den Sowjets gestützte Ulbricht immer mächtiger wurde. Im Gegenteil: Ulbricht forderte nun die Beseitigung des Prinzips der [S. 931]paritätischen Besetzung der Führungspositionen der SED, und auf der 12. und 13. PV-Tagung gelang es ihm, Beschlüsse durchzusetzen, die eindeutig gegen nicht anpassungswillige ehemalige SPD-Mitglieder gerichtet waren.
Die 12. PV-Tagung (28./29. 7. 1948) beschloß die „organisatorische Festigung der Partei“ und „ihre Säuberung von feindlichen und entarteten Elementen“ sowie, zur Unterstützung der jetzt nach dem Prinzip des Demokratischen Zentralismus arbeitenden Leitungen, die Bildung von Parteiaktivs, die die zuverlässigsten Mitglieder umfassen sollten. Die 13. PV-Tagung (15./16. 9. 1948) beschloß die Errichtung der Zentralen Parteikontrollkommission (Kontrollkommissionen der SED) und den sofortigen Aufbau von Parteikontrollkommissionen bei den Landes- und Kreisvorständen (s. u. III. C.). Ihre Bedeutung bestand zunächst darin, oppositionelle Sozialdemokraten zu entfernen. In mehreren Fällen wurden auch oppositionelle Alt-Kommunisten bzw. Angehörige ehemaliger kommunistischer Splittergruppen ausgeschlossen. Gleichzeitig wurde die Aufnahme von neuen Mitgliedern in die Partei erschwert.
Im Vordergrund der 12. und 13. PV-Tagungen stand ferner die Eliminierung der von Ackermann entwickelten These vom besonderen deutschen Weg zum Sozialismus. Gleichzeitig suchte die SED die verstärkte Übernahme sowjetischer Herrschaftsmethoden und die Anpassung der Verhältnisse in der SBZ an das sowjetische Gesellschaftsmodell zu rechtfertigen. indem sie auf die größeren „Erfahrungen“ der KPdSU beim Aufbau des Sozialismus verwies und die Propagierung der Lehren Stalins in allen gesellschaftlichen Bereichen verstärkte. Im September 1948 wurden alle Parteimitglieder zum Studium von Stalins Schrift „Kurzer Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B)“ verpflichtet.
Durch den Beschluß der 14. PV-Tagung (20./21. 10. 1948) „Zur Verbesserung der Arbeit der Parteibetriebsgruppen in den Großbetrieben“ wurde die Arbeit der Partei (später: Betriebsparteiorganisationen, BPO) konzentriert. Auch dies war ein Schritt der Abkehr von den Organisationsprinzipien der SPD und der Hinwendung zur leninistischen Kaderpartei (Grundorganisationen der SED; Kaderpolitik).
Unmittelbar vor der 1. Parteikonferenz wurde auf der 16. PV-Tagung (24. 1. 1949) das Prinzip der paritätischen Besetzung von Leitungsfunktionen aufgehoben; nur in der Einrichtung zweier Parteivorsitzender blieb es weiter bestehen. Auf dieser Tagung wurde auch erstmals in der Geschichte der SED ein Politisches Büro (Politbüro [PB], seinerzeit mit 7 Mitgliedern und 2 Kandidaten unter der Leitung von Pieck und Grotewohl) eingerichtet sowie ein sog. Kleines Sekretariat des Politbüros (5 Mitglieder unter der Leitung von Ulbricht). Entsprechende Änderungen wurden für die SED-Landes- und Kreisvorstände beschlossen. Schließlich wurde die Kandidatenzeit als Bedingung für die Aufnahme in die Partei eingeführt.
Für eine kurze Zeit der Geschichte der SED bestanden ZS, PB und das Kleine Sekretariat des PB nebeneinander, denn das ZS wurde erst im Laufe des Jahres 1949 aufgelöst. Im PB fielen, unter Berücksichtigung entsprechender sowjetischer Weisungen, alle wichtigen Entscheidungen; dem Kleinen Sekretariat des PB (ab 1950: Sekretariat des ZK der SED) oblag die Durchführung der Beschlüsse des PB und damit zugleich die Anleitung und Kontrolle der einzelnen Abteilungen des Parteiapparates.
Die 1. Parteikonferenz (25.–28. 1. 1949) bestätigte den vorangegangenen organisatorisch-politischen Wandel, in dessen Verlauf die Massenpartei SED typische Elemente einer Kaderpartei übernommen hatte. Danach war Fraktionsbildung in der Partei strikt verboten. Die führende Rolle der Sowjetunion und der KPdSU (B) wurde jetzt als für alle Mitglieder verbindlicher politischer Grundsatz noch stärker betont. Das bereits auf dem II. Parteitag 1947 in Frage gestellte Prinzip der paritätischen Besetzung aller Leitungsgremien der Partei mit ehemaligen KPD- und SPD-Mitgliedern wurde endgültig aufgegeben; die neue Führungsspitze (PB) bildeten 5 frühere Mitglieder der KPD und 4 frühere Mitglieder der SPD. Im Februar 1949 wurde die Kandidatenzeit nach sozialer Herkunft differenziert. Für Arbeiter war nun eine 1jährige, für andere Gruppen eine 2jährige Kandidatenzeit vorgeschrieben. Die 1. Organisationskonferenz der SED (7./8. 6. 1949) verpflichtete erneut alle Mitglieder in den Betrieben, sich in BPO zu organisieren. Sämtliche SED-Mitglieder wurden zu verstärktem Selbststudium der Werke Stalins angehalten. Im Oktober des gleichen Jahres wurden die PPA entsprechend dem sowjetischen Vorbild in Kaderabteilungen umbenannt und ein Nomenklatursystem für leitende Funktionäre eingeführt (Nomenklatur).
Nach der Gründung der DDR (7. 10. 1949) entwickelte sich die SED zur dominierenden Partei auch im Staatsapparat. Alle wichtigen Leitungspositionen in Regierung, Verwaltung und Gesellschaft wurden in zunehmendem Maße mit als politisch zuverlässig geltenden SED-Mitgliedern besetzt. Die Vorsitzenden der SED traten an die Spitze des Staates: Pieck als Präsident, Grotewohl als Ministerpräsident.
Trotz des damit bereits erkennbaren Vormarsches der SED zur herrschenden Partei war ihre „Suprematie“ (S. Mampel) noch nicht verfassungsmäßig verankert. Die Verfassung von 1949 sieht für die DDR vielmehr ein Mehrparteiensystem vor. Zu den bestehenden drei Parteien waren 1948 noch der DBD und die NDPD hinzugekommen. Der „antifaschistisch-demokratische Block“, dem sie und die wichtigsten Massenorganisationen ange[S. 932]hörten, ging mit der Gründung der DDR in der Nationalen Front auf.
Spätestens bei den ersten Wahlen zur Volkskammer (15. 10. 1950) wurde jedoch klar, daß ein Mehrparteiensystem im westlich-demokratischen Verständnis von der sowjetischen Besatzungsmacht und der SED nicht geduldet wurde. Über die Nationale Front und die entsprechenden Bestimmungen im Wahlgesetz vom 9. 8. 1950 war es der SED möglich, alle zu wählenden Kandidaten selbst zu ernennen oder zu billigen und mit Hilfe der Einheitslisten auch wählen zu lassen (Wahlen). Die von der SED besetzte Volkskammer wählte ferner die Regierung der DDR. Unersetzlich für die Erreichung dieser Stufe ihrer Herrschaft war für die SED der Staatssicherheitsdienst, dessen organisatorischer Aufbau im Februar 1950 mit der Schaffung des Ministeriums für Staatssicherheit abgeschlossen worden war.
Der III. Parteitag (20.–24. 7. 1950) verabschiedete das (2.) Statut. Hier definierte sich die SED als „die Partei der deutschen Arbeiterklasse, ihr bewußter und organisierter Vortrupp, die höchste Form ihrer Klassenorganisation“, die „den fortschrittlichsten Teil der Werktätigen in ihren Reihen“ vereinigt. In ihrem Selbstverständnis war die SED eine auf eine Massenbasis gestützte Kaderpartei, die die führende Rolle der KPdSU bedingungslos anerkannte, oder — wie es in der Entschließung des Parteitages hieß — eine „Partei neuen Typus“. Gleichzeitig rief der Parteitag zum „Kampf gegen die Überreste des Sozialdemokratismus in der SED“ auf. Die „Grundsätze und Ziele“ von 1946 wurden für überholt erklärt, die Vorbildrolle der KPdSU (B) sowie die Einbindung der DDR in das System der Volksdemokratien bestätigt. Gesamtdeutsche Ambitionen wurden allerdings nicht aufgegeben: Der III. Parteitag verabschiedete (wie seinerzeit der Vereinigungsparteitag) ein „Manifest an das deutsche Volk“. Auch als „Partei neuen Typus“ spiegelte die SED damit eine Ambivalenz der Zielsetzungen: Moskau-Gebundenheit bzw. -Hörigkeit einerseits, Deutschland-Orientierung andererseits, wider. Der Verzicht auf die Bezeichnung „revolutionär“ deutete diese Ambivalenz ebenfalls an. Das Verhältnis der Partei zu den anderen gesellschaftlichen Organisationen in der DDR wurde mit den Worten, daß die SED auf diese „Einfluß ausübe“, umschrieben; eine normative Setzung der „Suprematie“ war also noch nicht erfolgt.
Die vorher eingeleiteten innerparteilichen Umstrukturierungen erfuhren im Statut ihre Sanktionierung. Der PV wurde durch ein Zentralkomitee (ZK: 51 Mitglieder und 30 Kandidaten) mit 2 Vorsitzenden (Pieck und Grotewohl) ersetzt. Das ZK seinerseits wählte anstelle des ZS das PB (9 Mitglieder und 6 Kandidaten, unter ihnen nur noch 3 ehemalige Sozialdemokraten) und das Sekretariat des ZK (11 Mitglieder) mit Ulbricht als Generalsekretär des Zentralkomitees an der Spitze. In dieser Funktion hatte Ulbricht im politischen Entscheidungsprozeß größere Macht als die Parteivorsitzenden. Über die- inzwischen aufgegebene - Praxis der paritätischen Zusammensetzung der Leitungsorgane wurde im Statut nichts ausgesagt. Pieck und Grotewohl blieben jedoch gleichgestellte Vorsitzende der Partei. In der Absicht, die Masse der passiven Mitglieder zu aktiven „Parteiarbeitern“ und zuverlässigen politische Kadern zu erziehen, wurden die statutenmäßigen Ansprüche an die Mitglieder erhöht und der Parteiausschluß (der zu dieser Zeit überwiegend den Verlust der beruflichen Stellung nach sich zog) denen angedroht, die die Forderungen der Partei (Parteiauftrag) nicht erfüllten. Die BPO wurden zur wichtigsten Grundeinheit.
Am 1. 11. 1950 begann das 1. Parteilehrjahr, in dessen Verlauf 1 Mill. Mitglieder und Kandidaten systematisch mit Grundfragen des Marxismus-Leninismus, der Geschichte der deutschen und sowjetischen Arbeiterbewegung sowie der Strategie und Taktik der SED vertraut gemacht werden sollten (Parteischulung der SED). Gleichzeitig ist im 1. Halbjahr 1951 der Umtausch der Parteimitgliedsbücher und -kandidatenkarten durchgeführt worden. Die in den osteuropäischen Nachbarländern stattfindenden Schauprozesse („Titoisten“-Prozesse) wurden von der SED-Führung zwar mit Beifall kommentiert, jedoch vermied sie es, ähnliche Prozesse in der DDR zu veranstalten. Bereits die 2. ZK-Tagung (24. 8. 1950) beschloß jedoch Säuberungen in der Partei- und Staatsspitze. Ehemalige KPD-Mitglieder, die während der NS-Zeit in den Westen emigriert waren und nach ihrer Rückkehr führende Positionen in der DDR bekleideten, wurden unter Spionagebeschuldigungen (sog. Affäre Noel H. Field) aus der Partei ausgeschlossen. Das prominenteste unter ihnen war P. Merker, seit Juli 1946 ununterbrochen Mitglied des ZS bzw. des PB. seit Oktober 1949 außerdem Staatssekretär im Ministerium für Land- und Forstwirtschaft. Er wurde im August 1950 seiner Ämter enthoben, allerdings erst im Dezember 1952 verhaftet.
Insgesamt waren die Jahre 1950–1952 durch permanente Säuberungen der Partei vor allem von Altkommunisten mit „Westvergangenheit“, oppositionellen Sozialdemokraten, sog. Zionisten und Angehörigen linker Splittergruppen der Arbeiterbewegung gekennzeichnet. Allein im Jahre 1951 wurden 150.696 Mitglieder ausgeschlossen. Von November 1950 bis Juni 1951 wurden keine neuen Parteimitglieder aufgenommen. Eine zentrale Kaderkonferenz (25. 1. 1952) forderte, in der Nomenklatur auf Westemigranten weitgehend zu verzichten und eine neue Intelligenz heranzuziehen.
Im Mai 1953 schließlich gelang es Ulbricht, seinen damals stärksten Opponenten in der SED-Spitze, F. Dahlem (Altkommunist, Westemigrant und Mit[S. 933]glied der KPD- bzw. SED-Führung seit 1945), seiner Funktionen zu entheben und ihn aus dem PB und dem ZK-Sekretariat auszuschließen. (Dahlem wurde allerdings schrittweise rehabilitiert und 1957 wieder in das ZK aufgenommen.)
Zugleich verstärkte die Parteiführung die Propagierung der Sowjetideologie und begründete die administrative Übernahme zahlreicher Merkmale des sowjetischen Wirtschaftsmodells (Vertragssystem; Wirtschaftliche Rechnungsführung; Kollektivierung). Der Kult um Stalin und das sowjetische Gesellschaftsmodell nahm groteske Züge an.
Nachdem die innerparteilichen Umorganisationen im Sinne der „Partei neuen Typus“ besiegelt und alle parteipolitischen Kräfte prinzipiell unter Kontrolle gebracht worden waren, präsentierte sich die SED mit eindeutig sozialistisch-kommunistischen gesellschaftspolitischen Vorstellungen auf der 2. Parteikonferenz (9.–12. 7. 1952). Hier wurde das Ende der „antifaschistisch-demokratischen Phase“ verkündet und der „planmäßige Aufbau des Sozialismus“ im Sinne des „Klassenkampfes nach innen“ beschlossen. Mit dieser Periodisierung der eigenen Geschichte rechtfertigte die SED die vorangegangenen Umorganisationen in Wirtschaft und Gesellschaft (Frauen; Jugend; Kirchen; Kulturpolitik; Polytechnische Bildung; Rechtswesen; Universitäten und Hochschulen) und leitete die Kollektivierung in der Landwirtschaft, verschärfte Maßnahmen in der Arbeitspolitik sowie eine umfassende Verwaltungsneugliederung (Länder; Bezirke) ein.
Der Tod Stalins (5. 3. 1953) führte zu einer der schwersten politischen Krisen der SED, denn die von den Sowjets noch immer eindeutig abhängige SED-Führung wurde durch die aus der Stalin-Nachfolge erwachsende Unsicherheit im Ostblock besonders stark erfaßt. Hinzu kam, daß sich in der DDR selbst als Folge der Kollektivierungsmaßnahmen auf dem Lande und der Steigerung der Arbeitsnormen (ohne entsprechende Erhöhung der Löhne) in der Industrie eine explosive Stimmung entwickelt hatte. In dieser Situation wurde Ulbricht gezwungen, das Tempo des gerade erst begonnenen Aufbaus des Sozialismus zu verlangsamen. Mit PB-Beschluß vom 9. 6. 1953 wurde der Neue Kurs verkündet. Diese Maßnahme ist ein Versuch gewesen, nicht nur die Unzufriedenheit in der Bevölkerung abzubauen, sondern auch innerparteiliche Kritik abzufangen.
In der Hoffnung auf einen Sieg der Malenkow-Berija-Gruppe im PB der KPdSU hatte sich im SED-Politbüro eine gegen Ulbrichts Politik gerichtete Fronde gebildet, die in den Personen des damaligen Ministers für Staatssicherheit, W. Zaisser (zugleich Mitglied des PB), und des damaligen Chefredakteurs des „Neuen Deutschland“, R. Herrnstadt (zugleich Kandidat des PB), eine personelle und sachliche Alternative darstellte. Es scheint heute sicher, daß Ulbricht mehrere Wochen keine Mehrheit in den SED-Führungsgremien, vor allem im PB, fand. Nach dem 17. Juni (Juni-Aufstand) jedoch konnte sich die Sowjetunion offenbar keine Experimente am Rande ihres Machtbereichs leisten, und Berija war inzwischen (Ende Juni 1953) ausgeschaltet worden. Daher erreichte Ulbricht auf der 15. ZK-Tagung (24.–26. 7. 1953) den Ausschluß Zaissers und Herrnstadts aus dem ZK (und damit automatisch auch aus dem PB) sowie ihre Amtsenthebung. Wegen ihrer Unterstützung der Zaisser-Herrnstadt-Opposition wurden ferner A. Ackermann, H. Jendretzky und E. Schmidt nicht wieder in das PB, das im Juli 1953 vom ZK gewählt wurde, aufgenommen, blieben jedoch zunächst Mitglieder des ZK. Im Gegensatz zu der relativ milden Behandlung, die diese Moskau-orientierte Gruppe altgedienter hoher KPD- bzw. SED-Funktionäre erfuhr, wurde im direkten Zusammenhang mit dem 17. Juni der aus der SPD gekommene damalige Justizminister und ehemalige stellvertretende Parteivorsitzende, M. Fechner, bedeutend härter gestraft. Er verlor seine Mitgliedschaft in der SED und wurde verhaftet. Ihm wurde zum Vorwurf gemacht, er hätte den Arbeitern nicht entschieden genug widersprochen, als sie am 17. Juni die Anerkennung ihres verfassungsmäßig garantierten Streikrechts forderten. Auf der 17. ZK-Tagung (22/23. 1. 1954) wurden Zaisser und Herrnstadt dann aus der SED ausgeschlossen, blieben aber auf freiem Fuß; ihre Sympathisanten sowie andere als oppositionell eingeschätzte Parteimitglieder erhielten schwere Parteistrafen.
Die anschließende Parteisäuberung erfaßte auch den Apparat und die einfachen Mitglieder. Von den 1952 gewählten Mitgliedern der 15 Bezirksleitungen schieden 62 v. H. bis zum IV. Parteitag im Jahre 1954 aus. Von den im Juni 1953 amtierenden 1. und 2. Kreissekretären wurden sogar 71 v. H. ausgewechselt. Unter den von Juli bis Oktober 1953 ausgeschlossenen einfachen Mitgliedern der Partei hatten fast ein Drittel mehr als 20 Jahre einer der vor 1933 bestehenden Arbeiterparteien angehört.
Obwohl die Parteiführung keine Fehler-Diskussion zuließ, machte sie der Bevölkerung doch politische wie soziale Zugeständnisse. Der Neue Kurs brachte einen vorübergehenden Halt in der Kollektivierung auf dem Lande und eine Reihe sozialer, vor allem lohnpolitischer Erleichterungen für die Arbeitnehmerschaft. Auch der IV. Parteitag (30. 3.–6. 4. 1954) fand noch unter den Zeichen des Neuen Kurses statt. Im Mittelpunkt der Diskussionen standen ferner die notwendige Modernisierung der Industrieproduktion und die Schaffung eines breiteren Konsumgüterangebots. Verschiedene Eigentumsformen sollten zwar noch längere Zeit nebeneinander bestehen können, doch wurde zugleich betont, daß die Partei zur „Schaffung der Grundlagen des Sozialismus“ übergegangen sei.
[S. 934]Der IV. Parteitag verabschiedete das (3.) Statut. In ihm wurde, entsprechend dem Bericht der ZPKK (durch H. Matern), erstmals der Charakter der Partei als „revolutionärer“ Avantgarde betont sowie ihre Führungsrolle („Suprematie“) gegenüber allen gesellschaftlichen Organisationen (s. u. III. E.) festgelegt. Die Vorsitzenden des ZK wurden abgeschafft, die Spitze der Partei nunmehr vom Ersten Sekretär des ZK gebildet. Im neuen Statut ist das Prinzip der kollektiven Führung wieder stärker betont worden. (Das zeigte sich u. a. darin, daß bei den BZL und KL Büros als kollektive Leitungsorgane gebildet wurden.) § 70 des Statuts legte fest, daß die Grundorganisationen das Recht der Kontrolle über die Tätigkeit der Betriebsleitungen in allen Volkseigenen Betrieben, einschließlich der verstärkt zu fördernden LPG, haben.
Ulbricht wurde zum Ersten Sekretär des ZK (bisher Generalsekretär) der SED gewählt, das Sekretariat auf 6 Mitglieder verkleinert. In das neue PB wurden 9 Mitglieder und 5 Kandidaten aufgenommen.
Im November 1954 wurde zugegeben, daß die Verfolgungen von Westemigranten auf erpreßten und verfälschten Geständnissen beruhten. Die erst 1956 zögernd eingeleitete Rehabilitierung (28. ZK-Tagung, 27.–29. 7. 1956) führte die seinerzeit gemaßregelten Funktionäre jedoch nicht in ihre alten Parteiämter zurück (Rehabilitierungen).
Ab 1954 unternahm die SED neue Anstrengungen, um die Effektivität der Wirtschaft zu erhöhen. Ulbricht forderte auf einer Konferenz mit 600 Wissenschaftlern und Ingenieuren (16. 6. 1954), sich an internationalen Spitzenleistungen zu orientieren und den Weltruf deutscher Erzeugnisse zu erhalten. Die BPO wurden nun verpflichtet, sich für die Qualitätssteigerung der produzierten Waren und ein strenges Sparsamkeitsregime einzusetzen sowie stärker als bisher Kosten- und Preisprobleme zu studieren. Die 21. ZK-Tagung (12.–14. 11. 1954) beschloß eine Vereinfachung der Planung. Die 1. Baukonferenz des ZK und des Ministeriums für Bauwesen (3.–6. 4. 1955: Beginn der Industrialisierung in der Bauwirtschaft) und die II. Wissenschaftlich-technische Konferenz (6.–8. 7. 1955) rückten die Probleme der technologischen Modernisierung noch eindeutiger in den Vordergrund. Im Beschluß der 24. ZK-Tagung (1./2. 6. 1955) über die Förderung des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts zeichnete sich die gleiche Tendenz ab. Auf der 25. ZK- Tagung (24.–27. 10. 1955) wurde dann neben der ideologisch-politischen Erziehungsarbeit die Propagierung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zur wichtigsten Aufgabe der leitenden Parteiorgane erklärt.
Auf dieser Tagung wurden außerdem neue Vorstellungen für eine deutsche Wiedervereinigung formuliert (Deutschlandpolitik der SED).
Vorausgegangen waren von Seiten der UdSSR der Verzicht auf noch ausstehende Reparationsleistungen sowie die Streichung aller Nachkriegsschulden und die Gewährung eines beträchtlichen Kredits (Wirtschaft). Mit diesen Maßnahmen wurden von den Sowjets nicht nur wirtschaftliche Ziele verfolgt, sondern es wurde u. a. auch die politische Stärkung der SED angezielt. Die SED wurde ferner gestützt durch die Auflösung der Sowjetischen Kontrollkommission (Besatzungspolitik) und die Unterzeichnung des „Vertrages über die Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ am 20. 9. 1955 (Außenpolitik).
Am Ende der Besatzungspolitik war die DDR in das System der Volksdemokratien, in das Sozialistische Weltsystem, eingegliedert (Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe; Warschauer Pakt). Die Umwandlung der SED zu einer Moskau-hörigen Kaderpartei mit Massenbasis kann zu diesem Zeitpunkt als abgeschlossen gelten.
D. Innerparteiliche Konsolidierung und Aufbau des Sozialismus in der DDR (1955--1961/62)
Chruschtschows Geheimrede und seine Enthüllungen über die Stalinschen Herrschaftsmethoden auf dem XX. Parteitag der KPdSU (14.–25. 2. 1956) stürzten die Führung der SED in eine neue Krise. Diesmal ging es — stärker als im Jahr 1953 — auch um den seit Kriegsende praktizierten Herrschaftsstil der Partei, um ihr Selbstverständnis als „führende Kraft der Arbeiterklasse“. Zwar konnte die SED-Führung auf erhebliche Aufbauleistungen verweisen, mußte sich jedoch gerade angesichts der sowjetischen Entwicklungen den Fragen der Parteimitglieder und der Bevölkerung nach ihrem Verhältnis zu Stalin und nach der „innerparteilichen Demokratie“ stellen.
In dieser Situation tagte die 3. Parteikonferenz (24.–30. 3. 1956). Entgegen den Erwartungen vieler Delegierter und Parteimitglieder erfolgte auf ihr keine deutliche Distanzierung von den stalinistischen Terrormethoden. Wie schon 1955 geplant, beschäftigte sich die Konferenz vielmehr überwiegend mit Struktur- und wirtschaftspolitischen Fragen. Ihr Beschluß „Zur breiteren Entfaltung der Demokratie in der DDR“ stellte der SED die Aufgabe, den Staatsapparat für die Organisation des „endgültigen Sieges der sozialistischen Produktionsverhältnisse“ vorzubereiten (vgl. Gesetz über die örtlichen Organe der Staatsmacht vom 17. 1. 1957; Gesetz über die Vervollkommnung und Vereinfachung der Arbeit des Staatsapparates vom 11. 2. 1958; Staatsapparat). Er zeigte aber gleichzeitig, daß die SED-Führung einen neuen Führungsstil suchte, wenn auch — angesichts der Erfahrungen von 1953 — in sehr vorsichtiger Weise. Die Ereignisse in Polen und Ungarn bestärkten die Parteiführung dann ferner in ihrer vorsichtig-abwartenden Haltung zur „Entstalinisierung“.
[S. 935]Die Betonung wirtschaftspolitischer Fragen auf der 3. Parteikonferenz wurde von zahlreichen Mitgliedern und Unterorganisationen der Partei als ein Manöver, das von den Fehlern der eigenen Vergangenheit ablenken sollte, empfunden. Die Kritik an der von Ulbricht geführten Partei und ihrer Politik wurde immer lauter. Die stärkste Opposition war in der Parteiführung selbst anzutreffen, wo die PB- Mitglieder K. Schirdewan (ZK-Sekretär für Organisation und Information) und F. Oelßner (Leiter der Kommission für Fragen der Konsumgüterproduktion und der Versorgung der Bevölkerung) sowie die Mitglieder des ZK G. Ziller (ZK-Sekretär für Wirtschaft). F. Selbmann (Stellvertretender Ministerpräsident) und E. Wollweber (Minister für Staatssicherheit) eine Reform der Parteispitze und der Parteiarbeit sowie eine Verlangsamung der gesellschaftlichen Umwälzungen forderten. Opposition regte sich ferner in verschiedenen Verlagen und Universitäten. W. Harich (Chefredakteur der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“, Dozent an der Humboldt-Universität) u. a. entwickelten Konzepte des Reformkommunismus (Dritter Weg; Opposition und Widerstand; Revisionismus) und der Parteireform, die ebenfalls die Parteispitze betroffen hätten. An mehreren Universitäten wandten sich Parteiorganisationen gegen die bisherige Anwendung des Prinzips des Demokratischen Zentralismus. Marxistische Wirtschaftstheoretiker und -praktiker, angeführt von F. Behrens (zu jener Zeit Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Marx-Universität Leipzig und Direktor des Staatlichen Zentralamtes für Statistik), A. Benary (damals Oberassistent am Institut für Wirtschaftswissenschaften der Deutschen Akademie der Wissenschaften [DAW] und dort Leiter der Abteilung „Sozialistische Wirtschaft“) und G. Kohlmey (seinerzeit Direktor des Instituts für Wirtschaftswissenschaften der DAW), forderten stärkere Dezentralisierungen der wirtschaftspolitischen Entscheidungen, Orientierung an realistischen wirtschaftlichen Daten, materielle Stimuli und echte Kostenpreise; andere, wie K. Vieweg (zu jener Zeit Leiter des Instituts für Agrarökonomik bei der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften, 1950–1953 ZK-Sekretär für Landwirtschaft), verlangten die Auflösung unrentabler LPG. Kritisiert wurde ferner die Deutschlandpolitik der Parteiführung.
Trotz einiger Teilerfolge der Opposition (vgl. z. B. die Stellungnahme des PB vom 8. 7. 1956 gegen Dogmatismus und Personenkult und den Beschluß der 28. ZK-Tagung über „Die nächsten ideologischen Aufgaben der Partei“ vom 29. 7. 1956) setzte sich Ulbricht — unterstützt von den Ereignissen in Polen und Ungarn sowie der sowjetischen Reaktion im Oktober/November 1956 — gegen seine Gegner in der SED durch. Zunächst traf allerdings nur die intellektuelle Opposition die volle Reaktion der Parteiführung. Harich und einige seiner Anhänger wurden am 29. 11. 1956 verhaftet und am 9. 3. 1957 zu Zuchthausstrafen verurteilt.
Ulbricht entwickelte auf der 30. ZK-Tagung (30. 1.–1. 2. 1957) sein „Konföderationskonzept“ (Deutschlandpolitik der SED) und forderte zugleich den verstärkten Ausbau der „sozialistischen Produktionsverhältnisse“ innerhalb der DDR. Damit sollte die gegensätzliche gesellschaftspolitische Entwicklung in beiden deutschen Staaten beschleunigt werden. Gegen die zur Durchsetzung dieser neuen Konzeption erforderliche Verstärkung administrativer Unterdrückungsmethoden wandten sich in der Parteiführung vor allem Schirdewan und Wollweber. Diese für Sicherheitsfragen und Kaderpolitik verantwortlichen Spitzenfunktionäre hatten aus den Ereignissen in Polen und Ungarn die Lehre gezogen, daß zu starker Druck von oben die Gefahr einer politischen Explosion auch in der DDR heraufbeschwören könnte. Auch an der Parteibasis (Halle, Jena, Dresden) wurde gegen die neue Linie opponiert. Um die entsprechenden Parteileitungen zu disziplinieren, entsandte der ZK-Apparat Agitationsbrigaden. In allen Fällen versteckte sich hinter dem Eingreifen des ZK-Apparates auch der Versuch Ulbrichts, seine damaligen Gegenspieler zu isolieren und aus der SED-Führung zu entfernen. Dies gelang ihm schließlich auf der 35. ZK-Tagung (3.–6. 2. 1958), auf der Schirdewan und Oelßner ihre Sitze im PB verloren, Schirdewan darüber hinaus zusammen mit Wollweber aus dem ZK ausgeschlossen und mit einer „strengen Rüge“ bestraft wurde. Ziller hatte zuvor Selbstmord begangen.
Auf dieser (35.) ZK-Tagung wurde außerdem im Vorgriff auf den V. Parteitag gefordert, die Volkswirtschaft der DDR so zu entwickeln, daß eine höhere Pro-Kopf-Produktion als in der Bundesrepublik Deutschland erzielt wird. Einige Monate später sind dann auf Beschluß der Volkskammer die Lebensmittelkarten für die Bevölkerung abgeschafft worden (Verbrauch, privater; Lebensstandard). Ferner wurde die Bildung der Wirtschaftskommission beim PB (Leitung: E. Apel) beschlossen; sie sollte Anfang der 60er Jahre eine qualitative Änderung der Parteiarbeit im Wirtschaftsbereich vorbereiten.
Der V. Parteitag (10.–16. 7. 1958) war — mehr als jeder andere Parteitag zuvor — der Parteitag Ulbrichts, der von da an mehr als ein Jahrzehnt keine offene Opposition in der Parteiführung zu fürchten hatte. Anknüpfend an die 2. Parteikonferenz des Jahres 1952 wurde eine wirtschaftliche Konzeption für den „Aufbau der materiell-technischen Basis des Sozialismus“ vorgelegt. Das bedeutete die vorrangige Entwicklung bestimmter Zweige der Volkswirtschaft und eine Veränderung des Produktionsprofils. Noch bestehende wirtschaftliche Abhängigkeiten von der Bundesrepublik sollten schrittweise beseitigt [S. 936]werden. Besonderes Gewicht wurde auf die vorrangige Förderung der chemischen Industrie (vgl. auch die Zentrale Chemiekonferenz des ZK und der Staatlichen Plankommission vom 3./4. 11. 1958) sowie auf die Produktion hochwertiger Maschinen und Industrieausrüstungen gelegt. Die Umgestaltung der Landwirtschaft sollte beschleunigt, und die noch existierenden privaten Unternehmer sollten in den sozialistischen Wirtschaftssektor eingeordnet werden.
Der Parteitag verkündete die wirtschaftliche Hauptaufgabe: „Die Volkswirtschaft der DDR ist innerhalb weniger Jahre so zu entwickeln, daß die Überlegenheit … der DDR gegenüber dem Bonner Staat eindeutig bewiesen wird und infolgedessen (bis 1961) der Pro-Kopf-Verbrauch unserer werktätigen Bevölkerung mit wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern den Pro-Kopf-Verbrauch in Westdeutschland erreicht und übertrifft.“
Eine verstärkte ideologische Kampagne („Kulturrevolution“) signalisierte die Verkündung der 10 Grundsätze der Sozialistischen ➝Moral und Ethik. Der Parteitag setzte ferner eine Kommission ein, die das erste Programm der Partei bis zur nächsten Zusammenkunft (1963) ausarbeiten sollte. Weiter waren Bemühungen zu erkennen, die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung neu zu interpretieren. Auf der 2. ZK-Tagung (18./19. 9. 1958) wurde vom ZK eine Kommission damit beauftragt, Thesen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung auszuarbeiten (vgl. hierzu auch die Beratung der Abteilung Wissenschaft beim ZK mit Historikern am 17. 12. 1958). Am 19. 1. 1960 wurde unter Leitung des PB-Mitgliedes K. Hager eine Ideologische Kommission beim PB geschaffen, die die Tätigkeit der gesellschaftswissenschaftlichen Institute der Partei sowie die gesamte gesellschaftswissenschaftliche Forschung koordinieren sollte. Bedeutung erlangte die Theoretische Konferenz des ZK in der Parteihochschule „Karl Marx“ (29./30. 1. 1960), die den Auftakt zum Massenstudium des sowjetischen Lehrbuches „Grundlagen des Marxismus-Leninismus“ darstellte.
Das (3.) Parteistatut wurde in einigen Punkten geändert; vor allem ist dabei der Gründung der Nationalen Volksarmee Rechnung getragen worden. Auf der Bezirks- und Kreisebene der Partei erfolgten im Anschluß an die Ausschaltung Schirdewans umfangreiche Säuberungen. Der Einfluß, den Schirdewan als Kaderchef hatte, mußte rückgängig gemacht werden; die Ideen, von denen die Opposition weitgehend getragen wurde, waren auch an der Basis auszurotten. Das ideologisch-dogmatische Training der Parteikader wurde verschärft. Im November 1960 schließlich führte die SED eine neue Aktion zum Umtausch der Mitgliedsbücher durch. Der innerparteiliche Kampf gegen die Schirdewan-Opposition war allerdings verknüpft mit den von Ulbricht getragenen Bestrebungen, in der SED jüngeren, gut geschulten und fachlich ausgebildeten Kräften eine größere Chance zu geben.
Mit der 7. ZK-Tagung (10.–13. 12. 1959) deutete sich eine Tendenz an, das ZK von einem Akklamationsorgan zu einem Konsultations- und Transformationsgremium umzugestalten. Die Tendenz, Wissenschaftler und Fachleute zu den Beratungen der ZK-Plenen hinzuzuziehen, wurde auch in den meisten der folgenden ZK-Tagungen unmittelbar vor und nach dem VI. Parteitag deutlich. Eine gewisse Versachlichung der Entscheidungsprozesse wie der gesamten Parteiarbeit wurde angestrebt. Gleichzeitig hatte die Parteiführung eine Elite heranzuziehen bzw. zu fördern, die das ehrgeizige wirtschaftspolitische Programm in die Praxis umsetzen konnte.
Den Beschlüssen des Parteitages folgten Veränderungen in der volkswirtschaftlichen Planung (Siebenjahrplan) sowie eine Reorganisation des Staats- und Wirtschaftsapparates, deren wichtigstes Merkmal die Gründung der VVB, der Staatlichen Plankommission und der Wirtschaftsräte bei den Bezirken (Bezirkswirtschaftsrat) waren (Wirtschaft).
Schließlich wurde in den Jahren 1958–1960 die sozialistische Umgestaltung in der Landwirtschaft auf dem Wege der Zwangskollektivierung der noch verbliebenen selbständigen Bauern zum Abschluß gebracht (Agrarpolitik). Die Parteigeschichtsschreibung konnte nunmehr den „Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse“ feiern: „Mit dem vollständigen genossenschaftlichen Zusammenschluß der Bauern war das sozialistische Eigentum an Produktionsmitteln in seinen zwei Formen — dem staatlich-sozialistischen und dem genossenschaftlich-sozialistischen — Grundlage der gesamten Volkswirtschaft geworden. Die Diktatur des Proletariats erhielt ein im wesentlichen einheitliches sozialökonomisches Fundament“ (Geschichte der SED. Abriß, Berlin [Ost] 1978, S. 403).
Im übrigen waren die Jahre seit 1957 wesentlich durch das Bemühen der SED gekennzeichnet, den Staatsapparat auch aufgrund formaljuristischer Kodifikationen unter ihre Kontrolle zu bekommen. Seit dem Gesetz vom 17. 1. 1957 (s. o.) konnte, nach S. Mampel, die „Suprematie“ der SED zum materiellen Verfassungsrecht gerechnet werden. Suprematie der SED bedeutete in den Jahren 1960–1971 auch Suprematie ihres Ersten Sekretärs Ulbricht, der am 10. 2. 1960 zusätzlich Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates und später außerdem Vorsitzender des nach dem Tode W. Piecks am 12. 9. 1960 geschaffenen Staatsrates der DDR wurde. Die aus dieser Ämterkumulation folgende Machtfülle war allerdings dadurch eingeschränkt, daß Ulbricht, vielleicht mehr als früher, Rücksichten im PB zu nehmen hatte.
Die Zwangsmaßnahmen zur Vollkollektivierung in [S. 937]der Landwirtschaft und das noch bestehende Berlin-Ultimatum der UdSSR ließen 1961 die Zahl der Flüchtlinge anschwellen. Um dem Exodus ein Ende zu bereiten, hat die SED schließlich — aufgrund des Beschlusses des Ministerrates vom 12. 8. 1961 — am 13. 8. 1961 die Mauer in Berlin zu errichten begonnen und die Bewachung der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland weiter verschärft.
Die seit 1961 bestehenden und bis in die Gegenwart ständig vervollkommneten Grenzbefestigungen der DDR sind im Selbstverständnis der SED-Führung von Anfang an die Voraussetzung für die volle Etablierung und Stabilisierung ihres Herrschaftssystems gewesen.
Vor allem auf wirtschaftlichem, außenpolitischem und kulturpolitisch-ideologischem Gebiet hat die SED in den folgenden Jahren versucht, sich zu profilieren. Es war ihr Bestreben, aus ihrer Isolierung gegenüber der Bevölkerung, in die sie sich durch ihre jahrelang verfolgte Gesellschaftspolitik selbst hineinmanövriert hatte, herauszutreten.
E. Profilierung als Partei des werktätigen Volkes und gesellschaftlich führende Kraft nach dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse (1961/62--1971)
In den Jahren 1958–1962 waren die Grundlagen gelegt worden, die es der SED erlaubten, sich auf dem VI. Parteitag (15–21. 1. 1963) in einem veränderten Licht zu präsentieren. Hier wird auch deutlich, daß es der Partei gelungen war, die nach Stalins Tod und Chruschtschows Entstalinisierung im gesamten Ostblock lebendigen Tendenzen einer „Liberalisierung“ ihrerseits aufzufangen und mit einer Dynamik in der eigenen Gesellschaft, die vor allem von der jüngeren, nach vorne drängenden Generation von Funktionären und Experten ausging, zu verbinden. Der VI. Parteitag verabschiedete erstmals in der Geschichte der SED ein Parteiprogramm (die „Grundsätze und Ziele“ von 1946 sind niemals offiziell als Programm bezeichnet worden, obwohl sie zunächst diese Funktion hatten). Das Programm enthielt: im Teil I („Weg und Ziel“) eine zusammenfassende Darstellung der Entstehung der SED und ihrer Entwicklung;
im Teil II („Der umfassende Aufbau des Sozialismus“) die ausführliche Erläuterung der Aufgaben, die die Partei in der DDR in Angriff zu nehmen hat; im Teil III („Der Kommunismus — die Zukunft der Menschheit“) Hinweise auf das gegenwärtige und zukünftige Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander unter der Parole „Der Sozialismus ist die Zukunft des ganzen deutschen Volkes“.
Außer dem Programm wurde das (4.) Statut beschlossen.
In Anlehnung an sowjetische Vorbilder aus dem Jahre 1961 definierten Statut und Programm die SED und ihre Aufgaben. Die SED verstand sich nach wie vor sowohl als Kader- wie als Massenpartei. Das Kaderprinzip wurde noch eindeutiger betont als in den vorangegangenen Statuten: Die SED ist „der bewußte und organisierte Vortrupp der deutschen Arbeiterklasse“, lautete jetzt der Kernsatz. Gleichzeitig wurde das Selbstverständnis über die „Arbeiterklasse“ hinaus ausgedehnt („… die Partei der Arbeiterklasse und des ganzen werktätigen Volkes“), die Partei mehr in Richtung auf eine Volkspartei bestimmt. In diesem Sinne sind auch die Aufnahmebedingungen für ehemalige Mitglieder anderer, in der DDR zugelassener Parteien erleichtert worden. Ferner traten Züge der Staatspartei stärker hervor. Die leitende Rolle der Partei gegenüber Staat und Wirtschaft wurde konkreter formuliert, die Förderung von Wissenschaft und Technik besonders betont. Schließlich fanden sich neben bekannten Behauptungen und Ansprüchen hinsichtlich der Bundesrepublik und Gesamtdeutschlands (Nationales Dokument; Deutschlandpolitik der SED) neue Ansätze eines nationalen Selbstbewußtseins im Rahmen des Marxismus-Leninismus bzw. des Proletarischen ➝Internationalismus.
Programm und Statut stellten darüber hinaus fest, die DDR befinde sich in der Entwicklungsetappe des „umfassenden Aufbaus des Sozialismus“ und sei dabei, ein „sozialistischer Staat“ zu werden.
Die bei aller Betonung der Kontinuität und Tradition dennoch erkennbare Neuorientierung der SED zeigte sich besonders in der Zusammensetzung des ZK auf dem VI. Parteitag und in der Gruppe der von ihm gewählten Kandidaten des PB. Für das ZK können eine Verjüngung und Verfachlichung der Mitglieder und vor allem der Kandidaten nachgewiesen werden (vgl. die Arbeiten von P. C. Ludz). Zu den neuen Kandidaten des PB zählten die Wirtschaftsexperten E. Apel, W. Jarowinsky und G. Mittag sowie die Landwirtschaftsfachleute G. Ewald und G. Grüneberg. Sie repräsentierten eine neue Generation von in der DDR aufgewachsenen und im Sinne der SED ausgebildeten Funktionären und Spezialisten, auf die die ältere Führungsgruppe der Partei offenbar nicht mehr verzichten konnte. Auf der Bezirks- und Kreisebene sind diese Gruppen im Zuge der Einführung des NÖS (s. u.) ebenfalls stärker herangezogen worden.
Auf dem VI. Parteitag erläuterte Ulbricht die Grundsätze des „Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ (NÖS) (Liberman-Diskussion), das auf einer gemeinsamen Wirtschaftskonferenz des ZK der SED und des Ministerrates der DDR am 24./25. 6. 1963 konkretisiert und durch Beschluß des Ministerrates vom 11. 7. 1963 zu Umorganisationen und einer prinzipiellen Umorientierung im wirtschaftlichen Bereich führte.
Parallel dazu und entsprechend dem Vorbild der KPdSU wurde im (4.) Statut der SED das Pro[S. 938]duktionsprinzip besonders betont und aufgrund des PB-Beschlusses vom 26. 2. 1963 („Über die Leitung der Parteiarbeit nach dem Produktionsprinzip“) in die parteiorganisatorische Praxis umgesetzt. Der Beschluß legte fest, daß beim PB ein Büro für Industrie und Bauwesen (Bfl), ein weiteres Büro für Landwirtschaft (BfL) und — um gleichzeitig die ideologische Arbeit zu verstärken und die gesamte gesellschaftspolitische Forschung besser koordinieren und anleiten zu können — eine Ideologische Kommission (IK) sowie eine Kommission für Agitation (KfA) eingerichtet wurden. Die Leitung dieser neuen Büros bzw. Kommissionen übernahmen Politbüromitglieder bzw. -kandidaten. Analog zur Entwicklung auf der zentralen Ebene wurden Bfl und/oder BfL sowie die IK auch auf der Bezirks- und Kreisebene des SED-Apparates gebildet. Die Spitze der BZL bestand nunmehr prinzipiell aus einem Sekretariat von 5 Mitgliedern: dem Ersten Sekretär, dem Sekretär für Parteiorganisation, den Leitern des Bfl, des BfL und der IK. Die Gesamtleitungen der Bezirke und Kreise blieben zahlenmäßig im wesentlichen unverändert.
Bei diesen organisatorischen Veränderungen wurde das im Parteiaufbau vorherrschende Territorialprinzip zwar zurückgedrängt, aber nicht völlig aufgegeben. Die neuen Büros und Kommissionen waren eine Zeitlang de facto, jedoch niemals formal voll selbständig. In der Praxis haben sich vor allem die Bfl, die überwiegend von dynamischen, kenntnisreichen und karrierebewußten jüngeren Funktionären geleitet wurden, besonders im Rahmen der BZL zu mächtigen Institutionen entwickelt. Die Parteiorganisationen in den Staatsorganen, die für die Leitung und Planung der Industrie, des Bauwesens, des Verkehrswesens und des Handels verantwortlich sind, sowie die Grundorganisationen in den Betrieben und Instituten unterstanden ihnen direkt. Damit waren die Einflußmöglichkeiten der Bfl auf Produktionsentscheidungen de facto häufig größer als die der Sekretariate.
Das NÖS und die es begleitenden innerparteilichen Umorganisationen bargen für die Suprematie der SED erhebliche Gefahren. Die Partei mußte befürchten, von der Dynamik der im wirtschaftlichen Bereich in Bewegung gesetzten Kräfte überrollt zu werden. Solche Befürchtungen kamen etwa in den Warnungen, die SED dürfe sich nicht zu einer „Wirtschaftspartei“ entwickeln, zum Ausdruck (vgl. die Verhandlungen des 7. ZK-Plenums vom 2. bis 5. 12. 1964). Schon bald sind daher, vor allem um den Einfluß der Bfl einzuschränken, folgende organisatorische Maßnahmen in Gang gesetzt worden: Verstärkte Anstrengungen beim Aufbau der im Mai 1963 gegründeten Arbeiter-und-Bauern-Inspektion als Kontrollorgan der SED und des Ministerrates auf allen Ebenen des Wirtschaftssystems; die Einführung von Produktionskomitees in den Betrieben; die Schaffung einer Kommission für Partei- und Organisationsfragen beim PB (vgl. Erich Honecker in seinem Referat „Die Vorbereitung der Parteiwahlen von 1964“ auf der 5. ZK-Tagung 3.–7. 2. 1964); die Einrichtung von Abteilungen für Parteiorganisation und Ideologie in allen Bfl und BfL (ebd.).
Die zuletzt genannten Abteilungen hatten ihre Arbeit mit der IK, deren Macht seit der 7. ZK-Tagung ständig zunahm, zu koordinieren. Wie stark die SED den von ihr initiierten Wirtschaftsreformen bzw. mit deren Auswirkungen befaßt war, zeigen die Diskussionen der 11. Tagung des ZK der SED vom 15. bis 18. 12. 1965, auf der die Durchführung einer 2. Etappe des NÖS beschlossen und die bis dahin bereits erfolgten Modifikationen der Reformen bestätigt wurden. Als unmittelbares Ergebnis dieser Tagung wurde u. a. der Volkswirtschaftsrat aufgelöst; an seine Stelle traten 9 Industrieministerien zur operativen Leitung der einzelnen Industriezweige.
Im Jahre 1966 wurden dann die Büros für Industrie- und Bauwesen sowie für Landwirtschaft stillschweigend wieder aufgelöst und ihre Leiter auf Bezirks- und Kreisebene als Sekretäre für Wirtschaft bzw. Landwirtschaft in die Sekretariate der Bezirke bzw. Kreise eingegliedert. Ein ähnliches Schicksal haben auch die 1963 gebildeten Kommissionen erfahren. Die Väter des NÖS, G. Mittag und E. Apel (gest. durch Selbstmord am 3. 12. 1965), verloren ihren Einfluß. Die innerparteilichen organisatorischen Veränderungen, die unter der Herrschaft des Produktionsprinzips eingeleitet worden waren, hatten damit keinen Bestand. Das Statut der SED (Art. 25,1) wurde auf dem VII. Parteitag entsprechend geändert (s. u.).
Trotzdem waren einige Grundideen des NÖS lebendig geblieben, und die ersten Erfolge stellten sich ein (Wirtschaft). Die Parteiführung versuchte in den folgenden Jahren, die Rationalisierung und Modernisierung des Wirtschaftssystems der DDR weiter zu betreiben (vgl. z. B. die sog. Rationalisierungskonferenz vom 23./24. 6. 1966). Ein wesentliches Problem bestand dabei darin, die Kader mit den Grundzügen und Problemen der Wirtschaftsreform vertraut zu machen und sie zu einer an wirtschaftlich-rationalen Maßstäben orientierten Denkweise zu erziehen. Die VVB und die Partei- und Staatsgremien arbeiteten zu diesem Zweck Programme aus, die der weiteren ökonomischen Fachausbildung dienen sollten (Kaderentwicklungsprogramme). Parteiseminare bei den BZL und KL, Sonderklassen der Fachschulen, Vorlesungszyklen an den Hochschulen und Industrieinstituten sowie spezielle Lehrgänge an den Sonderschulen der SED dienten der wirtschaftspolitischen Weiterbildung von Partei- und Staatsfunktionären. Am 24. 3. 1966 wurde von G. Mittag der 1. Lehrgang für Führungskader der Wirtschaft am Zentralinstitut für Sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK der SED eröffnet.
[S. 939]Das NÖS hatte für die SED und die DDR-Gesellschaft eine größere Bedeutung als lediglich die von Wirtschaftsreformen und (wieder rückgängig gemachten) innerparteilichen Veränderungen. Mit der — auch formellen — Einführung des Leistungsprinzips erreichte eine Maxime des NÖS jeden im Arbeitsprozeß und in der Ausbildung Stehenden (Gesetzbuch der Arbeit vom 17. 4. 1963 und Jugendgesetz vom 4. 5. 1964). Liberalisierungstendenzen in der Kulturpolitik, die allerdings schnell wieder zurückgenommen wurden, liefen parallel (vgl. hierzu die von Honecker und Hager auf der 11. Tagung des ZK 1965 gehaltenen Referate).
Insgesamt war der SED ein entscheidender psychologischer Schritt gelungen. Die nach den Maßnahmen des 13. 8. 1961 und den nicht sofort einsetzenden wirtschaftlichen Verbesserungen überwiegend verbitterte Bevölkerung in der DDR schöpfte erneut Hoffnung und fand sich unter den Bedingungen des NÖS zu einem Teilarrangement mit der Partei bereit. Als die wirtschaftspolitischen Umorganisationen dann auch tatsächliche Erfolge („Wirtschaftswunder DDR“) brachten, hat die SED-Führung geschickt den Stolz des DDR-Bürgers auf die eigene Leistung propagiert. So konnte sich seit den 60er Jahren ein gewisses Selbst- und Staatsbewußtsein in der DDR entwickeln, von dem die SED profitierte. Dies führte, besonders bei Ulbricht, zur stärkeren Betonung der Besonderheit der Bedingungen in der DDR gegenüber denen in der UdSSR und den anderen osteuropäischen Staaten. Es half ferner der SED, ihre Anstrengungen auf internationale Anerkennung der DDR mit größerem Selbstbewußtsein zu verfolgen (Außenpolitik). Die veränderte Lage hat die SED schließlich im Frühjahr 1966 der SPD einen Redneraustausch (Deutschlandpolitik der SED) vorschlagen lassen.
Der VII. Parteitag (17.–22. 4. 1967) befaßte sich mit der gesellschaftspolitischen Entwicklung in der DDR bis zur „Vollendung“ des Sozialismus. Im Vordergrund stand weiter die Diskussion wirtschaftlicher Probleme. Der Parteitag setzte die Linie des 9. ZK-Plenums (26.–28. 4. 1965) fort, auf dem die Entwicklung einer Wissenschaft von der Führung der Gesellschaft gefordert worden war. Das neue Ziel einer „Verwissenschaftlichung“ aller gesellschaftlichen Bereiche und Tätigkeiten drückte sich in dem starken Interesse an der Kybernetik, der Organisationswissenschaft und der Elektronischen ➝Datenverarbeitung aus. Die Wissenschaftlich-technische Revolution wurde von der SED als „objektiver Prozeß“ verstanden, der alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringen müsse. Als Aufgabe wurde proklamiert, die DDR als „entwickeltes gesellschaftliches System des Sozialismus“ zu gestalten. Das ökonomische System des Sozialismus (ÖSS) sollte das NÖS ablösen.
Mit der Formel von der „sozialistischen Menschengemeinschaft“ in der DDR, in der es keine antagonistischen Klassengegensätze mehr gäbe, umriß Ulbricht einerseits die psychologischen Erfolge, die die SED nach 1963 erzielt hatte. Andererseits diente ihm diese Behauptung dazu, ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen in der DDR als Element des sozialistischen ➝Staatsbewußtseins weiter zu fördern.
Das (4.) Statut von 1963 wurde revidiert. Das Territorialprinzip erhielt wieder Priorität. Die Rückversetzung in den Kandidatenstand für die Dauer eines Jahres wurde als Parteistrafe gestrichen; Parteiausschlüsse bedurften nun nur noch der Zustimmung der KL und nicht mehr der BZL.
Die BZL erhielten gleichzeitig den Auftrag, die Entwicklung ihres Bezirks zu prognostizieren. Die gesamte Parteiarbeit sollte sich am volkswirtschaftlichen Nutzeffekt orientieren.
Nach dem VII. Parteitag suchte die SED-Führung, die Leitungstätigkeit der verschiedenen Parteiorgane zu verbessern. Beim PB wurde ein „Strategischer Arbeitskreis“ unter Leitung des Ersten Sekretärs gebildet. Dieses Gremium konzentrierte sich auf Grundfragen der Innen- und Außenpolitik, der „wissenschaftlich-technischen Revolution“ und der Wirtschaftspolitik. Für die wirtschaftliche Leitungs- und Prognosetätigkeit wurde der Ministerrat als zuständig erklärt. Der Durchsetzung des Prinzips, daß dort entschieden werden soll, „wo das am sachkundigsten möglich ist“, diente z. B. ein Seminar des ZK und des Ministerrates für Partei-, Staats- und Wirtschaftskader vom 25. bis 29. 9. 1967.
Die Jahre ab 1967 waren beherrscht von außen-, block- und deutschlandpolitischen Anstrengungen der SED. wobei zum Teil die Initiativen der Ostpolitik der Bundesregierung abgefangen werden mußten. Angesichts der mehr oder minder gescheiterten Wirtschaftsreformen in der UdSSR und einzelnen osteuropäischen Staaten (z. B. der CSSR) und einer wirtschaftlichen Aufwärtsbewegung in der DDR (die DDR besitzt seit 1963 sicherlich den höchsten Lebensstandard unter den Staaten des RGW) wuchs das Selbstbewußtsein der SED. Ulbricht fand seine Politik der kontrollierten Öffnung der Partei gegenüber neuen Kräften und den Erfordernissen des technologischen Fortschritts bestätigt und brachte seine Befriedigung über die Entwicklung der DDR zum Ausdruck. Derartige Äußerungen wurden in Ost und West als Indiz dafür gewertet, daß Ulbricht die DDR anderen Staaten als beispielhaft empfehlen wollte.
Auf der „internationalen wissenschaftlichen Session“ zum Thema „100 Jahre ‚Das Kapital‘“, die am 12./13. 9. 1967 vom Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED in Berlin veranstaltet wurde, ordnete Ulbricht die neue gesellschaftliche Situation ideologiegeschichtlich unter das Rubrum „Sozialismus“ ein. Der Sozialismus, behauptete er, [S. 940]sei eine „relativ selbständige sozialökonomische Formation in der historischen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus“ und nicht eine nur „kurzfristige Übergangsphase in der Entwicklung der Gesellschaft“. Anläßlich der Feiern zur 150. Wiederkehr des Geburtstages von Karl Marx ging er noch weiter und stellte in seinem Referat am 2. 5. 1968 fest: „Die Lehre von der Gesellschaftsformation und … begründen unsere Schlußfolgerung, daß der Sozialismus eine qualitativ neue Gesellschaftsformation ist …“ Und: „ …, nach dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse entsteht die sozialistische Produktionsweise, eine qualitativ neue materielle Grundlage der neuen Gesellschaftsordnung“ (ND, 4. 5. 1968, S. 5). Hinter solchen Äußerungen verbarg sich die ideologische Aufarbeitung des NÖS. Die mit dem NÖS teilweise übernommenen Kategorien der „kapitalistischen Ökonomie“ (wie Gewinn, Preis usw.) sowie die damit einhergehende Aufgeschlossenheit gegenüber bürgerlich-kapitalistischen Fachwissenschaften (vor allem Kybernetik, Systemtheorie) sollten nicht als „unvermeidliches Übel“ auf dem Weg von der bürgerlichen zur kommunistischen Gesellschaft betrachtet werden. Es sollte sichergestellt werden, daß sie ihren „objektiven“ und „positiven“ Platz in der sozialistischen Gesellschaft haben.
Solche Vorstellungen verbanden sich mit einer vorsichtigen Betonung nationaler Komponenten, die für das Ende der Ulbricht-Ära typisch war und in die Verfassung von 1968 Eingang fand.
Obwohl die SED-Führung unter Ulbricht einen relativ eigenständigen Sozialismus für die DDR in Anspruch nahm, hat sie nach außen die führende Rolle der UdSSR nach wie vor stark betont. In manchen Fällen war die Interessenidentität evident: Wie die sowjetischen Führer erblickte die SED-Spitze beispielsweise in der tschechoslowakischen Entwicklung des Jahres 1968 eine ernste Gefahr für ihr Herrschaftssystem und ihr Selbstverständnis vom Sozialismus. In anderen Fällen, vor allem hinsichtlich der Deutschland- und Berlinproblematik, waren dagegen die Interessen nicht völlig gleich gelagert. So scheint es ab 1969 zu Differenzen zwischen der KPdSU-Führung und Ulbricht über die Entspannungspolitik, die Einschätzung der Sozialdemokratie und über die Theorie der entwickelten sozialistischen Gesellschaft gekommen zu sein. Ulbrichts Konzept der begrenzten Abweichung vom Sowjet-Modell und seine Entspannungsskepsis stießen wahrscheinlich bei der herrschenden Breshnew-Gruppe in der KPdSU zunehmend auf Ablehnung.
II. Die Gegenwart: Die SED unter den Bedingungen der entwickelten sozialistischen Gesellschaft
Der VIII. Parteitag (15.–19. 6. 1971) war der erste Parteitag in der Geschichte der SED. an dem Ulbricht nicht mehr teilnahm. Er hatte auf dem 16. Plenum des ZK (3. 5. 1971) das Amt des Ersten Sekretärs des ZK an Erich Honecker abgeben müssen. Obwohl er weiterhin Vorsitzender des Staatsrates und — allerdings nur bis wenige Tage nach dem VIII. Parteitag (24. 6. 1971) — des Nationalen Verteidigungsrates blieb und zusätzlich den seit dem Tode Piecks abgeschafften Posten des Parteivorsitzenden erhielt, war mit der Abgabe des Vorsitzes des Zentralkomitees Ulbrichts politische Entmachtung vollzogen.
Der damit gegebene Einschnitt in der Geschichte der SED war an der personellen Besetzung der Spitzengremien, wie sie auf dem VIII. Parteitag beschlossen wurde, kaum zu erkennen. Alle amtierenden Politbüro-Mitglieder und ZK-Sekretäre wurden wiedergewählt. Zusätzlich jedoch rückte W. Lamberz vom Kandidaten zum Vollmitglied auf; W. Krolikowski (1. Sekretär der BZL Rostock) wurde hinzugewählt; außerdem ist zum ersten Mal seit 1953 wieder ein Minister für Staatssicherheit, E. Mielke, in das PB aufgenommen worden. Diese Veränderungen verrieten bereits die Handschrift des neuen Ersten Sekretärs E. Honecker.
Der VIII. Parteitag bestätigte eine Reihe von Änderungen des seit 1963 gültigen und bereits auf dem VII. Parteitag 1967 geänderten Status der Partei: Die Wiederaufnahme aus der Partei Ausgeschlossener bedarf nur noch der Bestätigung der zuständigen Kreisleitung. Ordentliche Parteitage finden nur noch in 5jährlichem Turnus statt. Die Stadtbezirksleitungen der SED haben jetzt den Rang von Kreisleitungen (s. u.). Darüber hinaus wurden u. a. auch den Parteiorganisationen in Kultur- und Bildungseinrichtungen. Lehranstalten, medizinischen Institutionen usw. ein Kontrollrecht über die Betriebs- bzw. Institutsleitungen eingeräumt und neue Regelungen für die Erhebung der Mitgliedsbeiträge getroffen.
Im Mittelpunkt des Parteitages stand, neben dem von Honecker erstatteten Bericht des Zentralkomitees, der Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft 1971–1975 (Wirtschaft). Die in den Jahren nach 1971 vielfach zitierte „Hauptaufgabe“ und später häufig so genannte Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik ist, wenn auch in z. T. ungelenken Worten, in die „Entschließung“ des Parteitages aufgenommen worden: „Die Hauptaufgabe des Fünfjahrplanes besteht in der weiteren Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der sozialistischen Produktion, der Erhöhung der Effektivität, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität. Der Parteitag hebt hervor, daß damit das Ziel der Wirtschaftstätigkeit in seinem unauflöslichen Zusammenhang mit den Voraussetzungen bestimmt wird, die dafür geschaffen werden müssen.“ Der VIII. Parteitag brachte nicht die große Abrech[S. 941]nung mit der „Ära Ulbricht“. Die Taktik der SED-Führung ging damals, wie auch in den Folgejahren, vielmehr dahin, Ulbricht zunächst fast gänzlich totzuschweigen. Vorherrschend scheint sowohl in der SED-Führung wie bei der KPdSU das Ziel gewesen zu sein, möglichst keine Unruhe oder Unsicherheit in der SED oder der Bevölkerung der DDR aufkommen zu lassen - zumal der neue Erste Sekretär noch keineswegs die Autorität besaß, die Ulbricht sich in Jahrzehnten erworben hatte.
So verlief der VIII. Parteitag ohne Sensationen. Doch wurden hier bereits einige Akzente gesetzt, die im Laufe der Jahre seit 1971 die Ablösung von Ulbricht erkennen ließen.
In der ideologisch-gesellschaftspolitischen Interpretation der Entwicklung der DDR wurden — dies zeigte sich besonders nach der Tagung der Gesellschaftswissenschaftler am 14. 10. 1971 in Berlin (Ost) — Präzisierungen vorgenommen. K. Hagers Rede über „Die entwickelte sozialistische Gesellschaft“ knüpfte an Ulbrichts späte Gedanken zum „entwickelten gesellschaftlichen System des Sozialismus“ an. Hager ersetzte die Ulbrichtsche Formulierung durch die (sich seit dieser Zeit mehr und mehr durchsetzende und auch heute noch gültige) von der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“, nicht ohne festzustellen: „Die Begriffe ‚umfassender Aufbau des Sozialismus‘, ‚entwickeltes gesellschaftliches System des Sozialismus‘ und ‚entwickelte sozialistische Gesellschaft‘ bezeichnen im wesentlichen das gleiche, nämlich den reifen oder entwickelten Sozialismus“ (Einheit. 11/71, S. 1213). Damit ist ausgesagt, daß die seinerzeit von Ulbricht gegebene Einschätzung der gesellschaftspolitischen Situation der DDR ihre Gültigkeit nicht verloren hat: Nach dem „Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse“, der auf Anfang der 60er Jahre datiert wird (s. o.), befindet sich die DDR in einer neuen Phase der Entwicklung, die noch nicht eigentlich die der kommunistischen Gesellschaft ist. Auch an den wesentlichen Merkmalen des von Ulbricht definierten „entwickelten sozialistischen Systems des Sozialismus“ wird festgehalten: „hohes Niveau“ und „rasches Wachstumstempo der gesellschaftlichen Produktivkräfte“, „stabile, sich entwickelnde sozialistische Produktionsverhältnisse“, „starke sozialistische Staatsmacht“, „allseitige Entwicklung der sozialistischen Demokratie“, „hoher Bildungsstand der Werktätigen und … Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen“, „proportionale Entwicklung unserer Volkswirtschaft“ (Ulbricht auf dem VII. Parteitag, Protokoll, Bd. I. S. 98 f.).
Gleichzeitig jedoch wurden von Hager Kritikpunkte aufgeführt, die allerdings möglicherweise Ulbricht selbst weniger trafen als die „ideologiefreien“ Gesellschaftswissenschaftler und Praktiker, die sich unter seinen ideologischen Festlegungen und seiner Politik in den Jahren seit 1963 in der DDR ausgebreitet hatten. Hager will den Primat des Marxismus-Leninismus, den „klassenmäßigen Inhalt des Sozialismus“ wieder stärker etabliert wissen. (Die von Hager nach dem VIII. Parteitag eingeleitete ideologische Diskussion kann als vorläufig abgeschlossen gelten, nachdem im Programm der SED von 1976 die entwickelte sozialistische Gesellschaft eindeutig beschrieben und ideologisch eingeordnet worden ist, s. u.)
Im einzelnen sind folgende Punkte anzuführen, die in den frühen 70er Jahren den Unterschied der Politik Honeckers zu der Ulbrichts deutlich werden lassen:
1. Der „Grundsatz der Kollektivität“ gilt, jedenfalls formal, für die Entscheidungen der Partei auf allen Ebenen. Honecker bezeichnete ihn im Bericht des PB an den VIII. Parteitag als „das höchste Prinzip der Arbeit aller gewählten Leitungen“ und wollte damit u. a. zweifellos auch den autokratischen Führungsstil Ulbrichts kritisieren.
2. Für die DDR spezifische Entwicklungsbedingungen werden nicht mehr besonders betont, Parallelen zu den übrigen sozialistischen Staaten Osteuropas dagegen herausgestellt.
Die einschneidendsten Maßnahmen der SED-Führung in diesem Zusammenhang sind die Verfassungsänderungen vom 27. 9. 1974. Aufgrund der entsprechenden Beschlüsse der Volkskammer ist die DDR nicht mehr ein „sozialistischer Staat deutscher Nation“, sondern, nach dem Vorbild der Sowjetverfassung, ein „sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern“ (Nation und nationale Frage).
3. Die Politik der Unterordnung der DDR unter die führende UdSSR ist nach wie vor gültig und verstärkt zu verfolgen. Sie wird erneut mit der Feststellung begründet, daß die Sowjetunion bereits einen höheren Entwicklungsstand auf dem Wege zum Kommunismus erreicht habe und deshalb als Vorbild anzusehen sei.
4. Die mit dem Begriff der „sozialistischen Menschengemeinschaft“ intendierten Harmonievorstellungen werden, weil sie auf den Menschen ohne dessen Klassenbezug rekurrieren, als der Wirklichkeit widersprechend verworfen. Statt dessen wird betont, daß es in der DDR nach wie vor die Arbeiterklasse gebe, die im Verein mit den Genossenschaftsbauern anderen Klassen und Schichten (der Intelligenz, den Handwerkern usw.) in ihrer Entwicklung voraus sei. Das Spezifische der DDR-Gesellschaft (im Unterschied zu bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften) bestehe darin, daß die Arbeiterklasse mit den anderen Klassen in Harmonie und Solidarität lebe, ihnen „freundschaftlich verbunden“ sei.
Klassenkampftendenzen in diesem relativ moderierten Sinne sind auf dem 4. ZK-Plenum (16./17. 12. 1971) im Beschluß über die Aufgaben zur „Weiterentwicklung der sozialistischen Produktionsverhältnisse und zur Beseitigung von gewissen Erscheinun[S. 942]gen der Rekapitalisierung“ sichtbar geworden. In diesem Sinne sind bis zur 8. ZK-Tagung (6./7. 12. 1972) ca. 11.000 Betriebe mit staatlicher Beteiligung und private Betriebe spwie industriell produzierende PGH mit insgesamt 585.000 Beschäftigten in VEB umgewandelt worden.
5. Die grundsätzliche politische Bedeutung des Marxismus-Leninismus — als Wissenschaft und Weltanschauung — ist erneut unterstrichen worden. (Dabei muß die Partei auch ihren ideologischen Totalitätsanspruch neu artikulieren, ohne die Wissenschaftsentwicklung zu bremsen.) Durch eine Statutenänderung räumte der Parteitag deshalb den Grundorganisationen ein zusätzliches Kontrollrecht über die wissenschaftlichen Institutionen ein (s. o.). In den Jahren 1963–1970 waren die angewandten Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften stark gefördert worden, wobei ihre Integration in das Theoriegebäude des Marxismus-Leninismus nicht oder wenig überzeugend gelang und orthodoxe Axiome und Postulate z. T. in Frage gestellt wurden. Gegen Ende der 60er Jahre war dann im Parteiapparat zunehmend Kritik an dieser Politik unter Hinweis vor allem auf den mit dem Marxismus-Leninismus nicht zu vereinbarenden Gebrauch von aus der Systemtheorie stammenden Begriffen und Konzepten geäußert worden. Darin kam teilweise das Unbehagen untergeordneter Funktionäre über die wachsende Rolle der technischen und wissenschaftlichen Experten zum Ausdruck. Die Kritik war aber auch ein Anzeichen dafür, daß vor allem Wirtschaftsfachleute die aus der westlichen Diskussion stammenden systemtheoretischen Überlegungen als wenig geeignet ansahen, um die konkreten Schwierigkeiten zu bewältigen (Systemtheorie).
6. Wissenschaft gilt zwar weiterhin als „Produktivkraft“, wird jedoch in ihrer Bedeutung hinter die Hauptproduktivkräfte der sozialistischen Gesellschaftsordnung zurückgestuft. Damit wird auch die soziale und gesellschaftspolitische Stellung ihrer Träger, der „werktätigen Intelligenz“, relativiert.
Für diese gewandelte Auffassung spricht die Neufassung der Formel von der Wissenschaftlich-technischen Revolution. Nun wird die „organische Verbindung der Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution mit den Vorzügen des Sozialismus“ gefordert. Es soll dem „Verbürgerlichungsprozeß“ der Intelligenz, ihren Sonderansprüchen und allgemeinen „positivistischen“ bzw. „technokratischen“ Tendenzen entgegengetreten werden. Die neue Politik betrifft damit ip erster Linie die naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen. Die Einschätzung der Bedeutung der Gesellschaftswissenschaften. für die auf dem 12. ZK-Plenum (3./4. 7. 1974) sowie in dem „Zentralen Forschungsplan“ (s. Einheit, 9/75, S. 1042 f.) die Grundzüge ihrer Entwicklung in den Jahren 1976–1980 festgelegt wurden. hat sich demgegenüber nicht verändert.
Andererseits versucht die SED, die Angehörigen der Intelligenz, die aufgrund des Kurswechsels und der erneuten Betonung der führenden Rolle der Arbeiterklasse und des Marxismus-Leninismus um ihren Einfluß fürchten, zu beruhigen und ihre positive Rolle beim Aufbau der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ in der DDR hervorzuheben.
7. Unter Hinweis darauf, daß die Künste und die Kulturschaffenden einen wesentlichen Beitrag zur Erhöhung des „Lebensniveaus des Volkes“ leisten, wird eine weniger dogmatische Kulturpolitik jedenfalls propagiert. So hob K. Hager auf der 6. ZK- Tagung (6./7. 7. 1972) hervor: „Unsere Kulturpolitik zielt auf die Förderung einer lebendigen, reichen und vielgestaltigen Kunst … Unsere sozialistische Kunst… paart Erkenntnis und ethische Forderung mit Vergnügen, mit Genuß und Freude. Sie lehrt menschlicher zu leben, indem sie uns am Leben anderer Menschen, an ihrem Denken und Fühlen, ihren Kämpfen, Niederlagen und Siegen teilnehmen läßt … Ohne Künste und ästhetische Ansprüche ist das Leben ärmer. Denn der Mensch braucht auch die Ausbildung seiner Sinne, seiner ethischen und ästhetischen Anlagen, seiner Genußfähigkeit.“
8. Der Primat der Partei vor allem gegenüber dem Staat wird wieder stärker betont und, vor allem, tiefgreifender ideologisch begründet. Gleichzeitig findet eine Konzentrierung der Entscheidungsfindung auf das PB und das ZK-Sekretariat statt, während das Zentralkomitee gegenüber den 60er Jahren an Bedeutung verliert.
Unter Ulbricht waren Tendenzen zu beobachten, den Staat — insbesondere durch die starke Stellung des Staatsrates und seines Vorsitzenden — ständig aufzuwerten und ihm neben der Partei eine etwa gleichwertige Rolle einzuräumen. Solche Tendenzen sind gegenwärtig kaum noch zu erkennen. Im staatlichen Bereich liegt zudem das Schwergewicht auf dem Ministerrat, der als das wichtigste Exekutivorgan im wirtschaftlichen Bereich fungiert.
9. Die Planziele werden neu und realistischer festgesetzt, die Aufwendungen für strukturbestimmte Industriezweige reduziert. Anstelle der hohe Investitionen erfordernden Automatisierung und Rationalisierung wird nun die eine Nutzung vorhandener Ressourcen anzielende „sozialistische Intensivierung“ zum zentralen Begriff (Intensivierung und Rationalisierung).
10. Für die Außen- und Deutschlandpolitik wird gefordert, nach wie vor dem sowjetischen Kurs zu folgen (Außenpolitik; Deutschlandpolitik der SED).
Manche der hier aufgeführten Veränderungen sollten dann im Jahre 1976 im Programm und Statut der SED festgeschrieben werden (s. u.).
Die neue Linie ist der Parteibasis in mehreren Beratungen mit den Sekretären der BZL und KL verdeutlicht worden. Nach dem VIII. Parteitag wurden [S. 943]darüber hinaus neue Maßnahmen zur Auswahl, Ausbildung und Erziehung der Kader getroffen. Die Zusammenarbeit von Parteispitze und -apparat wurde überprüft und der Einfluß der Grundorganisationen in den Betrieben und Institutionen vermutlich gestärkt. Der Eintritt in die SED ist erschwert worden. Um die Zahl der Mitglieder nicht weiter steigen zu lassen, sollen nunmehr vorzugsweise Arbeiter, junge Menschen (Schüler und Studenten) und Angehörige der Intelligenz (soweit sie der Arbeiterklasse entstammen) aufgenommen werden.
Für die Agitations- und Propagandatätigkeit wurde die Agitationskonferenz des ZK (16./17. 11. 1972) entscheidend, die auf den PB-Beschluß „Die Aufgaben der Agitation und Propaganda bei der weiteren Verwirklichung der Beschlüsse des VIII. Parteitages“ (vom 7. 11. 1972; Neues Deutschland vom 11. 11. 1972) zurückging. Auch die Parteischulung erfuhr (durch PB-Beschluß vom 14. 9. 1971) eine inhaltliche Wandlung. Lag bis dahin im Parteilehrjahr das Schwergewicht auf der Behandlung der beim Aufbau des Sozialismus in der DDR auftretenden wirtschaftlichen Probleme, so rückt jetzt wieder das Pflichtstudium der Klassiker des Marxismus-Leninismus und der Beschlüsse der SED in den Vordergrund.
Die auf dem VIII. Parteitag beschlossene „Hauptaufgabe zur Verbesserung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes“ brachte die SED gegenüber der Bevölkerung in Zugzwang. Der Energieerzeugung, der Zuliefer- und Bauindustrie sowie vor allem der Konsumgüterindustrie (vgl. die 8. ZK-Tagung, 6./7. 12. 1972) mußte Vorrang gewährt werden. Ferner waren sozialpolitische Bedürfnisse zu befriedigen bzw. Versprechungen der Parteiführung zu erfüllen. Die Durchführung neuer sozialistischer Maßnahmen (Erhöhung der Renten, Förderung berufstätiger Mütter, Verbesserung der Wohnverhältnisse für Arbeiter und Angestellte) stand denn auch im Mittelpunkt der gemeinsamen Beratungen und Beschlüsse des PB, des Bundesvorstandes des FDGB und des Ministerrates (Neues Deutschland vom 28. 4. 1972). Bereits im November 1971 waren weitere Preiserhöhungen bis 1975 ausgeschlossen und zugleich ein verbessertes Warenangebot in unteren und mittleren Preisgruppen versprochen worden. Auf dem 10. ZK-Plenum (2. 10. 1973) legte die SED ein Wohnungsbauprogramm für die Jahre 1976–1990 vor.
Schließlich war die auch im Kulturbereich in der Vor-Helsinki-Phase der KSZE besonders proklamierte „Weltoffenheit“ einzulösen. So mußte Honecker schon auf dem 9. ZK-Plenum (28./29. 5. 1975) zugestehen, daß staatlicherseits künftig nichts mehr gegen den Empfang westlicher Rundfunk- und Fernsehsendungen unternommen werden würde.
Honeckers Politik einer begrenzten Rücksichtnahme auf die Wünsche der Bevölkerung hat die politische Stimmungslage in der DDR im Sinne einer konsumorientierten Zufriedenheit verbessert. Dies gilt für die Masse der DDR-Bevölkerung. Gleichzeitig sind diejenigen, die den von der Partei gesetzten Rahmen noch erweitern wollten und wollen, erheblichen Verfolgungen ausgesetzt. Dies gilt für viele Künstler und für die ungezählte Masse einzelner oder ganzer Gruppen, die sich — nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte durch Honecker — auf das Menschenrecht der Freizügigkeit berufen haben (Bürgerrechtler).
Durch den Tod Ulbrichts (1. 8. 1973) waren Nachfolgeregelungen an der Spitze auch des Staatsapparates notwendig geworden. Sie wurden durch die im Oktober 1976 bekanntgegebenen personellen Veränderungen (s. u.) überholt.
Der IX. Parteitag der SED fand vom 16. bis 22. Mai 1976 statt. Als erster Parteitag, der in dem neu erbauten „Palast der Republik“ in Berlin (Ost) abgehalten wurde, war er eine Veranstaltung der Repräsentation der Macht. Er war auf Kontinuität und Stabilität ausgerichtet und demonstrierte, daß Honecker, von nun an — wie Ulbricht in den Jahren 1950–1953 — „Generalsekretär“ des ZK der SED, seine Position weiter gefestigt hatte.
Im personalpolitischen Bereich gab es keine spektakulären Veränderungen. Zu dem auf der 1. Tagung nach dem IX. Parteitag gewählten PB gehörten 19 Mitglieder und 9 Kandidaten. Mit insgesamt 28 Spitzenfunktionären ist dies das bisher zahlenmäßig größte PB in der Geschichte der SED. Neu hinzugekommen war 1976 lediglich W. Walde, der 1. Sekretär der BZL Cottbus. Jedoch war eine ganze Reihe der wiedergewählten PB-Mitglieder und -Kandidaten erst in den Jahren seit 1971, also unter Honecker, in das höchste Gremium der Partei aufgenommen worden: W. Felfe, H. Hoffmann, W. Krolikowski, W. Lamberz, E. Mielke, K. Naumann, H. Tisch und die damaligen Kandidaten H. Dohlus, J. Herrmann, E. Krenz, I. Lange, G. Schürer. Mit anderen Worten: Honecker hatte durchaus begonnen, eine eigene Mannschaft in die höchsten Positionen der SED zu berufen.
Wie sehr seine Macht in der SED gewachsen war, stellte sich allerdings erst nach dem IX. Parteitag heraus. Auf der Sitzung der Volkskammer vom 29. 10. 1976 konnte sich Honecker zum Vorsitzenden des Staatsrates wählen lassen. Er vereinigt seitdem in seiner Person die gleichen Funktionen wie Ulbricht zu Beginn der 50er Jahre: Generalsekretär des ZK der SED, Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates und des Staatsrates der DDR. Zuvor, am 28. 10. 1976, war W. Stoph zum Vorsitzenden des Ministerrates ernannt und G. Mittag zum ZK-Sekretär für Wirtschaft berufen worden. Damit war eine Aufteilung der Macht an der Spitze der DDR vorgenommen, die, auch wegen der anstehen[S. 944]den wirtschaftlichen Probleme, in manchem an die Zeiten des NÖS erinnert.
Der IX. Parteitag der SED beschloß ein neues (das 2.) Programm und das (5.) Statut. In beiden wurden, mehr oder weniger, Tendenzen festgeschrieben, die sich schon vorher als dominierend für die Honeckersche Partei- und Gesellschaftspolitik erwiesen hatten. Der Blick im Programm der SED von 1976 (zum Status s. u., III. B.) ist auf die Gegenwart gerichtet. Mehr als die Hälfte des in 5 Abschnitte gegliederten Programms nimmt der Abschnitt II („Die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik“) ein. Ihm vorangestellt ist eine 10teilige, in Propagandistensprache verfaßte Definition der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“:
„Entwickelte sozialistische Gesellschaft — das heißt, alle materiellen, sozialökonomischen und politisch-ideologischen Voraussetzungen zu schaffen, damit der Sinn des Sozialismus, alles zu tun für das Wohl des Volkes, für die Interessen der Arbeiterklasse, der Genossenschaftsbauern, der Intelligenz und der anderen Werktätigen, auf ständig höherer Stufe verwirklicht wird …. eine leistungsfähige, materiell-technische Basis zu schaffen, die ein stabiles Wirtschaftswachstum, hohe Arbeitsproduktivität und Effektivität der gesellschaftlichen Arbeit ermöglicht … .
Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik in untrennbarer Einheit durchzuführen. Das Ringen um ein hohes Wachstum der Produktion und ihrer Effektivität dient der systematischen Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen … .
die Produktionsverhältnisse als Beziehungen kameradschaftlicher Zusammenarbeit und gegenseitiger Hilfe zwischen den Werktätigen und zwischen den Arbeitskollektiven weiterzuentwickeln und zu vervollkommnen, die Kollektivität in den gesellschaftlichen Beziehungen zu verstärken … .
die Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei als führende Kraft der Gesellschaft zu erhöhen, ihr Bündnis mit der Klasse der Genossenschaftsbauern, mit der Intelligenz und allen anderen Werktätigen ständig zu festigen … .
die sozialistische Staats- und Rechtsordnung allseitig zu festigen und die sozialistische Demokratie breit zu entfalten … .
die sozialistische Bewußtheit der breiten Massen weiter zu erhöhen, ihre marxistisch-leninistische Weltanschauung und kommunistische Moral aktiv herauszubilden, Egoismus, Individualismus und andere Erscheinungen der bürgerlichen Ideologie konsequent zu überwinden … .
den Schutz des Friedens und der sozialistischen Errungenschaften jederzeit zuverlässig zu gewährleisten und bei allen Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik die Bereitschaft zur Verteidigung des Sozialismus zu festigen. …
die ständige Festigung und Vertiefung des Bruderbundes mit der Sowjetunion und den anderen Ländern der sozialistischen Gemeinschaft … .
alle Bedingungen zu schaffen, damit sich die gesellschaftlichen Beziehungen und die körperlichen und geistigen Fähigkeiten der Menschen voll entfalten können, alle Möglichkeiten zu eröffnen, daß sie ihr Leben inhaltsreich und kulturvoll zu gestalten vermögen, daß das Denken und Handeln der Werktätigen von der sozialistischen Ideologie, der marxistisch-leninistischen Weltanschauung der Arbeiterklasse geprägt wird“ (s. Protokoll des IX. Parteitages der SED. Bd. 2, Berlin [Ost] 1976, S. 218–220).
Wie nicht anders zu erwarten, wurden in dem neuen Programm gesamtdeutsche Bezüge, wie sie noch im Programm von 1963 vorhanden waren (vgl. dort den Unterabschnitt: „Die Friedenspolitik der SED und die Lösung der nationalen Frage in Deutschland“), gestrichen. Statt dessen wurden ein Unterabschnitt „Die Entwicklung der sozialistischen Nation“ (mit der These von der „sozialistischen deutschen Nation“, welche die Bürger der DDR, die „in ihrer übergroßen Mehrheit deutscher Nationalität sind“, umfaßt) eingeführt und im außenpolitischen Teil unter der Überschrift „Kampf um friedliche Koexistenz“ die Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland erwähnt. Der in die Zukunft weisende letzte Abschnitt des Programms von 1976 enthält, im Gegensatz zum Programm von 1963, keinen Hinweis auf die Zukunft des „ganzen deutschen Volkes“.
Demgegenüber ist die Ausrichtung auf die Integration in den Ostblock unter Verwendung der Formel von der „Annäherung der sozialistischen Nationen“ (s. Vertrag zwischen der DDR und der UdSSR vom 7. 10. 1975; Außenpolitik) in dem neuen Programm deutlich zu erkennen: „Die Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten werden vom proletarischen Internationalismus, von der wirksamen Verbindung gemeinsamer und nationaler Interessen geprägt. Diese Beziehungen verkörpern einen qualitativ neuen Typus zwischenstaatlicher Beziehungen. Sie beruhen auf den sozialökonomischen, politischen und ideologischen Gemeinsamkeiten und auf den Gesetzmäßigkeiten des Aufblühens und der Annäherung sozialistischer Nationen.“ Darüber hinaus wird die Unterordnung der SED-Führung unter die der KPdSU programmatisch hervorgehoben. Als „Abteilung der internationalen kommunistischen Bewegung“ sieht sich die SED „brüderlich verbunden mit der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, der erprobtesten und erfahrensten kommunistischen Partei“.
Schließlich sind als spezifische Merkmale des neuen Programms zu erwähnen: die Rolle der Arbeiterklasse wird verstärkt betont; die Bedeutung von FDGB und FDJ wird deutlich herausgestellt; einzelne „Rechte“ und „Freiheiten“ der Bürger werden [S. 945]hervorgehoben; die „Verteidigung“ der DDR (früher: „Schutz des sozialistischen deutschen Vaterlandes“) hat erstmals Eingang in ein Programm der SED gefunden.
Im ganzen stellt das Programm offenbar den Versuch dar, über die SED-Mitglieder hinaus auch weite Teile der Bevölkerung der DDR mit einer vergleichsweise undogmatischen Sprache zu erreichen. Es ist zudem zu erkennen, wie sehr die SED gegenwärtig bestrebt ist, sich als „demokratische“ Kraft darzustellen, wie sehr ihr daran liegt, die DDR als Staat auszuweisen, in dem die Menschenrechte verwirklicht sind.
Die Vorbereitungen zum IX. Parteitag fanden in einem gesamtgesellschaftlichen Klima statt, das von den durch die Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte von Helsinki geweckten Wünschen und Hoffnungen der Bevölkerung (einschließlich vieler SED-Mitglieder) geprägt war. Die SED-Führung versuchte, sich diese Stimmungslage zunutze zu machen, indem sie in der Form einer Volksaussprache zum IX. Parteitag den Bürgern beweisen wollte, daß es in der DDR auch demokratisch zugeht. Als die Diskussionen, Leserbriefe usw. jedoch zu „offen“ und „frei“ wurden, mußte Honecker schnell abbremsen (vgl. seine Rede in Weißwasser vom 14. 2. 1976).
Dennoch hat der IX. Parteitag der SED, wie wahrscheinlich niemals ein Parteitag zuvor in der Geschichte der Partei, eine breite öffentliche Anteilnahme gefunden - und dies vor allem, weil sich die Bevölkerung (aufgrund der Versprechen der SED) von ihm weitreichende Verbesserungen im sozialpolitischen Bereich erhoffte. Als diese nicht angekündigt wurden, waren die Enttäuschungen in der Bevölkerung offenbar so groß, daß sich die SED genötigt sah, nur eine Woche nach dem Parteitag den „Gemeinsamen Beschluß des Zentralkomitees der SED, des Bundesvorstandes des FDGB und des Ministerrates der DDR über die weitere planmäßige Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen im Zeitraum 1976 bis 1980“ (Neues Deutschland vom 29./30. 5. 1976) zu veröffentlichen (Sozialpolitik).
Mit dem Konzept der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ hat sich die SED auf eine „relativ lange geschichtliche Periode“ eingestellt, die nicht frei ist von „Widersprüchen“ und „Konflikten“. Es gilt, „Disproportionen“ in der eigenen Gesellschaft zu beseitigen und der internationalen Situation der DDR Rechnung zu tragen. Soweit das Selbstverständnis, dessen Realitätsgehalt größer zu sein scheint als in den 50er und 60er Jahren. Konkret sind, aus der Perspektive des Jahres 1978 und aus westlicher Sicht, vor allem folgende Probleme in den 70er Jahren aufgebrochen, mit deren Lösung oder Handhabung die SED nach wie vor befaßt ist:
1. Das Versprechen, das „materielle Lebensniveau“ des Volkes zu heben, setzt wirtschaftliche Prioritäten, die angesichts eines sich modernisierenden Wirtschaftssystems mit knappen Ressourcen eine zusätzliche Belastung darstellen. Nicht ohne Grund standen deshalb wirtschaftliche Probleme auf so gut wie allen nach dem VIII. Parteitag abgehaltenen ZK-Plenen im Vordergrund (Wirtschaft).
2. Der wachsende Wohlstand soll durch gesteigerte Arbeitsproduktivität und „Privatinitiative“ (vgl. die 2. ZK-Tagung, 2./3. 9. 1976) erwirtschaftet und muß, oft mit Devisen, bezahlt werden. Dabei kontrastiert die Steigerung der Arbeitsproduktivität sicherlich dem selbstgesetzten Ziel der „vollen Entfaltung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten der Menschen“, und die Devisenknappheit zieht innenpolitische Instabilität nach sich. Darüber kann auch eine noch so pragmatische Rechtfertigung etwa der Intershops (vgl. Honeckers Rede in Dresden am 26. 9. 1977) nicht hinwegtäuschen.
3. Gleichzeitig ergeben sich aus den Lebensstandardgarantien Abhängigkeiten, die über die Außenwirtschaftspolitik die Außenpolitik berühren. Der Handel mit dem Westen oder andere devisenbringende Vereinbarungen (Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten; Innerdeutscher Handel) werden zu einer Notwendigkeit. Dabei wird jedoch das Verhältnis zum Osten potentiell gefährdet. So verwundert es nicht, wenn auf ZK-Tagungen wirtschaftliche Interessenkonflikte der DDR mit der UdSSR zur Sprache kommen (vgl. die 5. ZK-Tagung, 17./18. 3. 1977).
4. Ein weiterer Problemkomplex erwächst der SED aus der selbstgestellten Forderung, das „kulturelle Lebensniveau“ des Volkes zu heben. Diese Forderung, im gesamteuropäischen Klima der KSZE- Hoffnungen gestellt, brachte die kulturpolitische Szene in Bewegung. Die SED hat mit der Ausweisung W. Biermanns (16. 11. 1976) und dem PB-Beschluß „über die politisch-ideologische Führung des geistig-kulturellen Lebens“ (25. 1. 1977) eindeutig reagiert. Nimmt man jedoch die kulturpolitischen Proklamationen der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ ernst (s. o.), so ist die kulturpolitische Reaktion der SED seit Mitte der 70er Jahre als Rückschritt einzustufen.
5. Die versagte künstlerische Freiheit im Rahmen des Sozialismus in der DDR findet ihre Parallele in der versagten ideologischen und politischen Freiheit im Rahmen des Proletarischen ➝Internationalismus.
Diese Haltung der SED-Führung kommt u. a. in ihren verschiedenen Stellungnahmen gegenüber dem Eurokommunismus zum Ausdruck. Das Autonomiestreben der eurokommunistischen Parteien Westeuropas, besonders der kommunistischen Parteiführungen Italiens, Spaniens und Frankreichs, der Wille zum politischen Reformismus und Regionalismus, der in den Reden vor allem Santiago Carrillos [S. 946]und Enrico Berlinguers immer wieder aufscheint, wird von der SED ebenso entschieden zurückgewiesen wie von der KPdSU. Mißtrauisch werden auch die Beziehungen der eurokommunistischen Parteiführungen zur jugoslawischen Parteispitze einerseits, der der SPD andererseits verfolgt. In diesem Zusammenhang ist auf die von K. Hager 1976 geprägte Formel „eurokommunistisch-sozialdemokratischer Kurs“ zu verweisen (Reformismus; Revisionismus; Sozialdemokratismus).
Obwohl durch die neuesten weltpolitischen Ereignisse, vor allem durch den japanisch–chinesischen Vertrag und die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und der Volksrepublik China, Moskaus und damit auch Ost-Berlins — offenbar durchaus ambivalente — Einstellung gegenüber dem Eurokommunismus sich verändern könnte, überwiegt bisher zweifellos eine teils offen vorgetragene, teils verhaltene Kritik der SED am Eurokommunismus.
Wesentlich ist festzuhalten, daß bei der Beurteilung des Verhältnisses der SED zu den wichtigsten eurokommunistischen Parteiführungen stets nicht nur eine weltpolitische und gesamteuropäische, sondern immer auch eine innerdeutsche Dimension mit ins Spiel kommt. Auch deshalb dürfte der SED-Führung weiterhin an Kontakten zu den eurokommunistischen Parteiführungen gelegen sein.
6. Schließlich resultieren für die SED innenpolitische Probleme daraus, daß sie sich auf die Entspannungspolitik eingelassen und die KSZE-Vereinbarungen unterzeichnet hat. Sie hat nunmehr nicht nur auf die internationale Öffentlichkeit stärker Rücksicht zu nehmen und den zunehmenden Informationsfluß aus dem Westen, via Massenmedien und persönliche Kontakte (Touristik; Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten) als politischen Faktor anzuerkennen. Vielmehr muß sie auch mit ganz konkreten Formen des Protestes in der eigenen Gesellschaft fertig werden, etwa den Solidaritätserklärungen für W. Biermann und weiteren Formen der Kritik seitens der Künstler und Intellektuellen (R. Bahro); der sich häufenden Anzahl von Anträgen auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft; dem Widerstand vor allem der evangelischen Kirche gegen die Einführung des Wehrkundeunterrichts (Wehrerziehung); den öffentlichen Unmutsäußerungen (Schlägereien auf dem Alexanderplatz. Proteste in Wittenberge) sowie schließlich Einzelaktionen (z. B. die Weigerung des Ostberliners N. Hübner, in der NVA zu dienen; die Selbstverbrennung des Pfarrers Brüsewitz).
Die Partei kann sich gegen die vielfältigen Probleme in der eigenen Gesellschaft nicht abschotten. So nimmt es nicht wunder, daß im Westen immer wieder, vor allem im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des „Manifestes“ einer angeblich organisierten Opposition in der SED durch das westdeutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ (Nr. 1/1978), Spekulationen über Konflikte in der Partei und zwischen Partei- und Staatsapparat angestellt werden. Honecker — dies ist die überwiegend anerkannte Meinung — wandert mit seiner Politik auf einem schmalen Grat. Ob er auf die Dauer die Dynamik eines sich modernisierenden Wirtschaftssystems und einer dem Westen gegenüber partiell geöffneten Gesellschaft mit der Ausrichtung der SED an eher traditionellen organisatorischen und ideologischen Mustern beantworten kann, muß die Zukunft zeigen.
III. Die SED unter ausgewählten partei- und organisationssoziologischen Gesichtspunkten
A. Selbstverständnis
Die SED versteht sich als „marxistisch-leninistische Partei“. Das in diese Aussage tatsächlich eingehende Selbstverständnis ist diffus und kann — da weder in Ost noch in West eine politologische Theorie der marxistisch-leninistischen Partei erarbeitet worden ist — kaum zureichend analysiert werden. Gegenwärtig erscheinen lediglich eine Beschreibung und Problematisierung möglich.
Das Selbstverständnis der SED gründet auf der Anerkennung der Weltanschauung des Marxismus-Leninismus. Aus ihr sind alle wesentlichen Elemente der ideologischen wie organisatorischen Zielsetzungen der Partei abzuleiten. Gemäß der marxistisch-leninistischen Geschichtsphilosophie agiert die SED in einer nach-bürgerlichen Epoche und vertritt die herrschende(n) politisch-soziale(n) Gruppe(n) und Schicht(en) dieser geschichtlichen Phase. Sie ist in erster Linie Repräsentant der von Bourgeoisie und Adel unterdrückten Klassen, d. h. der Arbeiter und Bauern. Sie hat ferner „fortschrittliche“ Elemente anderer Klassen bzw. Schichten in ihre Reihen aufgenommen, ohne ihren Anspruch, „die höchste Form der Klassenorganisation der Arbeiterklasse“ zu sein, aufgegeben zu haben. Im Selbstverständnis der SED ist damit nach wie vor das Spannungsverhältnis: hier Arbeiterpartei, dort Volkspartei, ungelöst.
Alle marxistisch-leninistischen Parteien sind aus Minderheiten- bzw. Eliteorganisationen oder — entsprechend der Leninschen Formulierung — Kaderparteien hervorgegangen. Dieses Stadium einer marxistisch-leninistischen Partei hat die SED nur als KPD und hier wiederum überwiegend als der Moskau-orientierte Teil der deutschen Kommunistischen Partei unter den Bedingungen des Exils durchlaufen. Nach ihrer Gründung in der SBZ fand sich die SED sogleich in der Rolle einer Einheits- und damit einer Massenpartei, die zudem unter dem sowjetischen Besatzungsregime nicht selbständig handeln konnte. Die Prinzipien der Kader- wie der Massenpartei sind, ohne daß das eine zugunsten des anderen aufgegeben worden wäre, für die Par[S. 947]tei- und Gesellschaftspolitik der SED maßgebend geblieben.
Die SED ist heute eine Staatspartei: Sie versteht sich, in den Worten des „Kleinen Politischen Wörterbuchs“ (Berlin [Ost] 1973, S. 773), als „die von allen gesellschaftlichen Organisationen anerkannte führende Kraft bei der Verwirklichung des Sozialismus in der DDR“. Gleichzeitig sieht sie sich als kommunistische Partei, d. h. als „festen und untrennbaren Bestandteil der kommunistischen Weltbewegung“. Als kommunistische Partei hat sie einmal die führende Rolle der KPdSU anzuerkennen und Verbindungen zu den „Bruderparteien“, vor allem den anderen kommunistischen Parteien in Osteuropa, zu pflegen. Zum anderen hat sie — „in enger Kampfgemeinschaft mit der KPdSU“ — die Ziele der kommunistischen Weltbewegung zu verfolgen. Für die Staatspartei SED ist die Wirkung auf das Gebiet der DDR beschränkt, die Ansprüche der kommunistischen Partei als Klassenorganisation gehen darüber hinaus und erstrecken sich einerseits in den internationalen Raum, andererseits vor allem auf die Bundesrepublik Deutschland. Das für alle marxistisch-leninistischen Parteien bestehende Problem von Nationalität und Internationalität erweitert sich damit für die SED insofern, als „Staat“ und „Nation“ in ihrem Falle nicht deckungsgleich sind. Die genannten, im Selbstverständnis niemals eindeutig zugunsten eines Prinzips aufgelösten Widersprüche (Arbeiter- vs. Volkspartei; Kader- vs. Massenpartei; Staats- vs. Klassenpartei) ermöglichen der SED, ebenso wie anderen marxistisch-leninistischen Parteien, prinzipiell eine erhebliche ideologische und gesellschaftlich-politische Flexibilität. Diese Flexibilität wird allerdings stark eingeschränkt durch die im 20. Jahrhundert entwickelten rigiden Organisationsprinzipien der marxistisch-leninistischen Parteien.
Ein weiteres Problem des ideologisch-politischen Selbstverständnisses, die Frage des „Absterbens“ von Partei und Staat im Verlauf der historischen Entwicklung hin zum Kommunismus, scheint die SED dagegen vorerst gelöst zu haben. Im auf dem IX. Parteitag angenommenen Programm rechtfertigt sie ihre Existenz und Ausdehnung mit der zunehmenden Komplexität der zu bewältigenden Aufgaben: „Je weitreichender und komplizierter die Aufgaben der Leitung und Planung aller Seiten und Formen der gesellschaftlichen Prozesse werden, desto mehr erhöht sich die Rolle der politischen Führung der Gesellschaft durch die marxistisch-leninistische Partei.“
B. Organisationsprinzipien
Folgende marxistisch-leninistische Organisationsprinzipien sind — entsprechend dem (5.) Statut der SED — für die Partei verbindlich: der Demokratische Zentralismus, das Territorialprinzip und das Produktionsprinzip (vgl. dazu auch oben I, E) sowie ferner die Kollektivität der Leitung und die innerparteiliche Demokratie.
Zur Kollektivität der Leitung heißt es wörtlich (Art. 24): „Der Grundsatz der Kollektivität schließt die persönliche Verantwortung des einzelnen ein. Personenkult und die damit verbundene Verletzung der innerparteilichen Demokratie sind unvereinbar mit den Leninschen Normen des Parteilebens und können in der Partei nicht geduldet werden.“ Eine Publikation aus dem Jahre 1974 definiert: „Kollektivität der Leitung … heißt vor allem, sich eng mit der Arbeiterklasse und den Massen zu verbinden, konsequent die persönliche Verantwortung für das Ganze wahrzunehmen und die Aktivität der Parteimitglieder und ihre schöpferische Teilnahme an der Vorbereitung und Durchführung der Parteibeschlüsse zu sichern“ (Das Prinzip des demokratischen Zentralismus im Aufbau und in der Tätigkeit der kommunistischen Partei, Berlin [Ost] 1974, S. 27).
Die innerparteiliche Demokratie umschließt das Recht der „freien“ und „sachlichen“ Stellungnahme durch die Mitglieder zu allen Fragen (Art. 30), die Einrichtung der Kritik und Selbstkritik (Art. 31). die Parteidisziplin, Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit und das Verbot der Fraktionsbildung (Art. 32) sowie die „freie und sachliche Erörterung der Fragen der Parteipolitik“ (Art. 33). Das in diesen Regelungen bereits erkennbare marxistisch-leninistische Verständnis von Demokratie wird in der Bestimmung der Rolle des Parteimitglieds noch deutlicher. Im Vergleich zu den „Rechten“ des Mitglieds (Art. 3) werden die „Pflichten“ (Art. 2) sehr viel ausführlicher und inhaltlich konkreter kodifiziert. Da Mitgliedschaft in der SED als „eine große Ehre“ gilt, sind die Pflichten der Mitglieder umfassend, und die Möglichkeit, aufgrund eines freien Entschlusses aus der Partei auszutreten, ist im Grunde nicht gegeben. Selbst aufgrund des Statuts von 1976, das den „Austritt“ als Möglichkeit der Beendigung der Parteimitgliedschaft wieder eingeführt hat (Art. 6), bedarf es eines Beschlusses der Mitgliederversammlung der Grundorganisation und der Bestätigung durch die Kreisleitung, um einen solchen persönlichen Entschluß wirksam werden zu lassen.
Im Statut wird ausdrücklich festgestellt, daß Parteimitgliedschaft nicht nur Anerkennung der Beschlüsse und der Politik der Partei bedeutet, sondern daß sie ständigen und aktiven Einsatz für die Partei erfordert. Das Mitglied verpflichtet sich, die Einheit und Reinheit der Partei zu schützen (Art. 2 a), aktiv die Parteibeschlüsse zu verwirklichen (Art. 2 b), die Verbundenheit mit den Massen unaufhörlich zu festigen (Art. 2 c), ständig an der Hebung seines politischen Bewußtseins zu arbeiten (Art. 2d), in seiner politischen und beruflichen Tätigkeit und im persön[S. 948]lichen Leben Vorbild zu sein (Art. 2 e), das sozialistische Eigentum, die sozialistische Ordnung zu schützen und zu festigen sowie die Landesverteidigung zu stärken (Art. 2 f), die Partei- und Staatsdisziplin zu wahren (Art. 2 g), furchtlos Mängel in der Arbeit aufzudecken und sich für ihre Beseitigung einzusetzen (Art. 2 h), aufrichtig und ehrlich gegenüber der Partei zu sein (Art. 2 i), Partei- und Staatsgeheimnisse zu wahren (Art. 2 j), überall, in jeder Stellung, die Weisungen der Partei über die richtige Auswahl und Förderung der Parteiarbeiter (= Kader) nach ihrer politischen und fachlichen Eignung zu befolgen (Art. 2 k).
Charakteristisch für die SED wie für andere kommunistische Parteien ist darüber hinaus, daß ihr Statut strenge Bestimmungen für die Aufnahme von Mitgliedern sowie Parteistrafen bei Nicht-Erfüllung der Mitgliedspflichten enthält. Die Aufnahme neuer Mitglieder ist ein wesentliches Mittel der Politik der SED (s. auch unten III. D.). Die entsprechenden Bestimmungen in den Statuten sind mehrfach geändert und die von der Parteiführung ausgehenden Anweisungen den jeweiligen politischen Bedürfnissen angepaßt worden. Parteistrafen werden — gemäß dem (5.) Statut (Art. 8) — gegen dasjenige Mitglied verhängt, das „gegen die Einheit und Reinheit der Partei verstößt, ihre Beschlüsse nicht erfüllt, die innerparteiliche Demokratie nicht achtet, die Partei- und Staatsdisziplin verletzt oder seine Mitgliedschaft und ihm übertragene Funktionen mißbraucht, im öffentlichen und persönlichen Leben sich eines Parteimitgliedes nicht würdig zeigt“. Folgende Parteistrafen können, nach Abänderung des Statuts auf dem VII. Parteitag 1967, verhängt werden: die Rüge, die strenge Rüge, der Ausschluß aus der Partei. Jede Parteistrafe wird in der Kaderakte vermerkt und hat in der Regel auch heute noch Diskriminierungen des Mitgliedes (und unter Umständen seiner Angehörigen) im beruflichen und öffentlichen Leben zur Folge.
Vergleichbare Grundprinzipien gelten für alle Parteien der kommunistischen Weltbewegung. Das Fraktionsverbot, die immer wieder erhobene Forderung nach Einhaltung strikter Parteidisziplin und die entsprechenden Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten, die unter dem Prinzip des Demokratischen Zentralismus festgelegte Verbindlichkeit der Beschlüsse der höheren Parteiorgane: all dies sichert jeder Parteiführung ihre herausgehobene Machtposition. Besonders der Anspruch, für die Reinhaltung der marxistischen Lehre verantwortlich zu sein und sie gegen linke wie rechte Abweichungen (Revisionismus; Maoismus; Sozialdemokratismus) zu verteidigen, ermöglicht es der Parteiführung, die „freie und sachliche Erörterung der Fragen der Parteipolitik“ und die „freie“ und „sachliche“ Stellungnahme zu allen anderen Fragen zu unterbinden und innerparteiliche Kritiker gegebenenfalls als Anhänger „feindlicher“ Ideologien abzustempeln und auszuschalten. Da die Parteiführung neben der ideologischen Verkündungs- die politische Richtlinien- und die exekutive Durchsetzungskompetenz besitzt, erscheint ihre Macht absolut. Wie absolut diese tatsächlich ist, ist eine in der westlichen Kommunismusforschung noch nicht eindeutig beantwortete Frage. Die Grundprinzipien der SED-Organisation sind vorläufig — trotz des häufigen Gebrauchs des Wortes „Demokratie“ — als die eines auf einer Massenbasis operierenden autoritären Systems kommunistischer Prägung zu kennzeichnen.
C. Parteiaufbau (vgl. Schaubild)
An der Basis der Parteihierarchie stehen die Grundorganisationen der SED (vgl. auch Abteilungsparteiorganisationen; Wohnbezirk). Sie werden, wenn 3 Mitglieder vorhanden sind, in den Betrieben der Industrie, des Bauwesens, des Transport- und Nachrichtenwesens, der Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, des Handels, in staatlichen und wissenschaftlichen Einrichtungen und Institutionen, in städtischen und ländlichen Wohngebieten sowie in den bewaffneten Organen gebildet (Statut, Art. 56).
Das Statut von 1976 legt ferner fest, daß jedes Parteimitglied der Grundorganisation des Betriebes, in dem es tätig ist, angehören, an der Arbeit dieser Grundorganisation teilnehmen und dort seine Beiträge bezahlen muß (Art. 58). Die Parteimitglieder, die nicht berufstätig sind oder in deren Betrieb keine Grundorganisation bzw. Kandidatengruppe besteht, werden in einer „anderen“ Grundorganisation erfaßt. Damit hat das Prinzip der Organisation auf Betriebsebene bzw. am Arbeitsplatz eindeutigen Vorrang vor dem der Organisation im Wohngebiet. Die Grundorganisationen der Partei können sehr unterschiedliche Mitgliederzahlen haben. Zur Zeit des IX. Parteitages (1976) bestanden ca. 74.500 Grundorganisationen und Abteilungsparteiorganisationen mit insgesamt ca. 2.050.000 Mitgliedern.
An der Spitze der Grundorganisation steht die von der Mitgliederversammlung gewählte Leitung der Grundorganisation mit dem (1.) Sekretär, der in allen größeren Betrieben und Institutionen ein hauptamtlicher Funktionär ist. Die Grundorganisationen werden in Kreisparteiorganisationen und diese (mit der eventuellen Zwischenstufe der Stadtparteiorganisation) in Bezirksparteiorganisationen zusammengefaßt. Mehrere Grundorganisationen können darüber hinaus Ortsorganisationen bilden. Die NVA, die DVP und Einrichtungen des Verkehrswesens (z. B. die Deutsche Reichsbahn) haben eigene Parteiorganisationen (s. Statut, Art. 68), an deren Spitze Partei(haupt-)verwaltungen stehen, die praktisch den Rang einer ZK-Abteilung besitzen.
Auf der Kreis- und Bezirksebene bilden die von den [S. 950]Delegiertenkonferenzen gewählten Kreis- bzw. Bezirksleitungen (KL, BZL) Sekretariate mit einem 1. Sekretär der KL bzw. BZL. Diese Sekretäre sind hauptamtliche Funktionäre, die ihre Ämter überwiegend über einen Zeitraum, der länger ist als die im Statut vorgeschriebenen 2½ Jahre zwischen den Delegiertenkonferenzen, ausüben.
Entsprechend dem Statut ist das höchste Organ der Partei der Parteitag. Er tritt seit 1971 alle 5 Jahre (vorher alle 4 Jahre) zusammen und wählt das Zentralkomitee (ZK). Aus letzterem gehen durch Wahl auf der jeweils konstituierenden Sitzung die zentralen Führungsgremien der Partei, das Politbüro (PB) und das Sekretariat, mit dem Generalsekretär des ZK an der Spitze hervor. Personalpolitische Änderungen sind auch zwischen den Parteitagen, auf den ZK-Plenen bzw. -Tagungen oder den Parteikonferenzen, möglich. Parteikonferenzen (die letzte fand 1956 statt) können die Zusammensetzung des ZK und ZK-Tagungen die des PB, des Sekretariats und der ZPKK verändern.
Nach dem IX. Parteitag (1976) hat das Zentralkomitee 145 Mitglieder und 57 Kandidaten, das Politbüro besteht aus 19 Mitgliedern und 9 Kandidaten, das Sekretariat des Zentralkomitees der SED aus 12 Sekretären (einschließlich des Generalsekretärs).
Weitere Organe der Partei sind die vom Parteitag gewählte Zentrale Revisionskommission (ZRK) sowie die vom ZK gewählte Zentrale Parteikommission (ZPKK). Der ZRK und ZPKK entsprechende Einrichtungen finden sich sowohl auf der Bezirks- wie auf der Kreisebene (Revisionskommissionen; Kontrollkommissionen). Dem ZK unterstehen unmittelbar 5 wissenschaftliche Institute.
D. Mitgliederbewegung und sozialstrukturelle Daten
Offizielle Angaben zur Mitgliederbewegung und Sozialstruktur der SED werden in wechselnder Ausführlichkeit auf den jeweiligen Parteitagen und -konferenzen (vgl. die entsprechenden Protokolle) veröffentlicht. Aus diesen spärlichen Quellen sind die folgenden Zahlen zusammengestellt.
Im März 1977 zählte die SED 2.074.799 Mitglieder und Kandidaten (Angaben auf dem 5. ZK-Plenum, 17/18. 3. 1977). Der Mitgliederstand hat sich wie folgt entwickelt (bis Januar 1949 nur Mitglieder, ab Juli 1950 Mitglieder und Kandidaten):
Zum Zeitpunkt der Gründung der Einheitspartei kamen 53 v. H. der Mitglieder aus der SPD und 47 v. H. aus der KPD. Um das zahlenmäßige Übergewicht der Sozialdemokraten zu neutralisieren, wurde anfangs in allen Schichten der Bevölkerung um Mitglieder geworben. Das (1.) Statut von 1947 kannte — im Gegensatz zu den folgenden — keine sozialen Voraussetzungen für den Eintritt in die SED. Daher sind zunächst so gut wie alle Bewerber aufgenommen worden, so daß die Partei im Juni 1948 ca. 2 Mill. Mitglieder zählte. Diese Aufnahmepraxis änderte sich schnell. Nach 1948 wurden die Neuaufnahmen auf Arbeiter beschränkt oder für andere soziale Gruppen erschwert. Trotzdem ist die Mitgliederzahl der SED — bis auf die Jahre 1948–1951 — ständig gestiegen.
Auf der 1. Parteikonferenz (1949) wurde der Kandidatenstatus (Kandidat) eingeführt und im 2., 3., 4. und 5. Statut beibehalten. Seit dieser Zeit muß damit jeder Bewerber eine Kandidatenzeit durchlaufen, bevor er Mitglied der Partei werden kann. Das Eintrittsalter war 1950 (2. Statut) auf 16 Jahre festgelegt, 1954 (3. Statut) auf 18 Jahre heraufgesetzt worden.
Ihrer sozialen Herkunft nach sollen im Jahre 1976 74,9 v. H. aus der Arbeiterklasse kommen, 56,1 v. H. seien bei ihrem Eintritt in die Partei Arbeiter gewesen. Gesicherte Daten über den sozialen Hintergrund der Mitglieder der Kandidaten gibt es allerdings nicht.
Die Sozialstruktur der Partei veränderte sich wie folgt (Angaben in v. H. der jeweiligen Gesamtmitgliederzahl):
Zwischen dem VIII. und IX. Parteitag wurden 334.162 Kandidaten in die Partei aufgenommen. Dabei ist es offensichtlich das Bestreben der SED gewesen, möglichst jüngere Angehörige der Arbeiterklasse, vor allem aus der Schicht der qualifizierten Facharbeiter, zu gewinnen. Honecker stellte in seinem Bericht an den IX. Parteitag fest: „Seit dem VIII. Parteitag wurden 334.162 Kandidaten, davon [S. 951]69,0 Prozent Arbeiter, 3,3 Prozent Genossenschaftsbauern, 4,7 Prozent Schichtingenieure, Bereichsleiter, Technologen usw., in die Partei aufgenommen; das heißt, daß 77 Prozent der in die Partei aufgenommenen Kandidaten in der Sphäre der materiellen Produktion tätig sind.“
Alle Angaben zur Sozialstruktur sind allerdings mit großer Vorsicht zu behandeln, da nicht bekannt ist, welche Kriterien von den Statistikern der Partei für die Zuordnung zu bestimmten Gruppen verwandt werden und ob die verwandten Kriterien über die Jahre die gleichen geblieben sind.
Die Altersstruktur zeigt folgende Entwicklung:
Ca. 55 v. H. der Mitglieder der SED waren 1966 älter als 40 Jahre, d. h. vor 1926 geboren. Die restlichen SED-Mitglieder, also fast die Hälfte, waren 40 Jahre alt und jünger, d. h. hatten bei Kriegsende bestenfalls ihr 19. Lebensjahr erreicht. Aus den spärlichen Angaben, die für die Jahre 1971 und 1974 vorliegen, ist zu ersehen, daß die Gruppen der bis 40jährigen bzw. über 40jährigen kaum prozentuale Veränderungen erfahren haben.
Über die altersmäßige Zusammensetzung erfahren wir 1976, daß 12,2 v. H. aller Mitglieder und Kandidaten jünger sind als 25 Jahre; 20,1 v. H. jünger als 30 Jahre und 43,4 v. H. jünger als 40 Jahre. Soweit ein Vergleich mit früheren Jahren möglich ist, scheint der Anteil der Mitglieder unter 25 Jahren stark angestiegen zu sein, während die Gruppe der 26- bis 30jährigen zurückgegangen und die der 31- bis 40jährigen relativ konstant geblieben ist. Der hohe Anteil von Jugendlichen unter 25 Jahren im Jahre 1976 ist sicherlich z. T. auf die sog. „Initiative“ der FDJ zurückzuführen, in deren Rahmen „zu Ehren des IX. Parteitages“ über 100.000 FDJler als Kandidaten in die SED aufgenommen worden sind. Unter generationssoziologischem Aspekt hat sich die SED seit den 50er Jahren verändert. Mehr und mehr starb die Gruppe der Altfunktionäre, d. h. der Mitglieder, die vor 1933 einer der Arbeiterparteien angehört hatten, aus. Im Jahre 1966 betrug ihre Zahl noch ca. 120.000 Personen; 1971 war sie auf 95.000 gesunken; neuere Angaben fehlen. Damit wird die SED nunmehr von einer Generation beherrscht, die ihre politischen Erfahrungen im wesentlichen nach 1945 und vermutlich überwiegend in der SED gemacht hat.
Der Anteil der Frauen an der Parteimitgliedschaft betrug 1976 etwas über 30. v. H. (31,3 v. H.). Die Gruppe der Frauen (Anteil an der Gesamtbevölkerung der DDR im gleichen Jahr: 52,8 v. H.) ist damit in der SED nicht angemessen repräsentiert. Dies gilt in noch stärkerem Maße für die Führungsgremien: Dem Politbüro nach dem 8. Plenum vom Mai 1978 (27 Mitglieder und Kandidaten) gehören lediglich 2 Frauen als Kandidaten an; zum ZK-Sekretariat (11 Sekretäre) zählt 1 Frau, und unter den 16 1. Bezirkssekretären befindet sich überhaupt keine Frau.
Im Jahre 1976 hatten 27,4 v. H. aller Mitglieder und Kandidaten der SED, aber alle Sekretäre der BZL und KL sowie 93,7 v. H. der Parteisekretäre in Kombinaten und Großbetrieben einen Hoch- bzw. Fachschulabschluß, wobei offenbar der Besuch von Parteischulen mit eingerechnet ist.
E. Die SED als Zentrum der politischen Willensbildung
Die SED versteht sich als „führende Kraft der sozialistischen Gesellschaft, aller Organisationen der Arbeiterklasse und der Werktätigen, der staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen“ (5. Statut, Präambel). Und die Verfassung der DDR von 1968 in der veränderten Form vom 7. 10. 1974 legt fest (Art. 1 Abs. 1 Satz 2): Die DDR „ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“.
Die SED legitimiert ihre führende Rolle mit Hilfe des Marxismus-Leninismus. Die entsprechenden Argumentationslinien können wie folgt zusammengefaßt werden:
1. Politische Parteien sind gesetzmäßige Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens. Sie sind Ausdruck der Interessen von Klassen oder der Interessen bestimmter Gruppen einer Klasse.
2. Politische Parteien stellen die Vereinigung der aktivsten Vertreter einer Klasse zur Durchsetzung bestimmter Klassenziele dar. Im Vergleich zur Klasse sind Parteien als eine höhere Stufe des Bewußtseins anzusehen. Sie sind stets zur Führung der Klassen berufen.
3. Der Partei der Arbeiterklasse (Proletariat) kommt gegenüber anderen Parteien eine besondere Bedeutung zu, da — aufgrund der marxistisch-leninistischen Lehre von der historischen Mission der Arbeiterklasse —- allein diese „als Schöpfer des Sozialismus die Interessen der ganzen Gesellschaft vertritt und die Zukunft der Menschheit verkörpert“ (Kleines Politisches Wörterbuch, Berlin [Ost] 1973, S. 775).
4. Die SED ist Repräsentant der Arbeiterklasse in der DDR und damit auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus zur Führung der Gesellschaft berufen.
5. Sie übt ihre Führungsrolle (oder Herrschaft) in dem Stadium der historisch-politischen Entwicklung [S. 952]aus, das im Marxismus-Leninismus als „Diktatur des Proletariats“ gekennzeichnet ist. Die Epoche der „Diktatur des Proletariats“ wurde in der DDR erreicht, nachdem die „antifaschistisch-demokratische Umwälzung durchgeführt“ und „die sozialistische Revolution zum Siege geführt“ worden war.
6. Der „sozialistische Staat der Arbeiter und Bauern als eine Form der Diktatur des Proletariats“ ist das „Hauptinstrument“ der SED zur Gestaltung der gegenwärtigen gesellschaftlich-politischen Situation, d. h. der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ (s. o. II.), und zur Herbeiführung der Epoche des Kommunismus.
Dem Selbstverständnis der SED und dem Verfassungssatz von der führenden Rolle der Partei entspricht es, daß die politische Willensbildung in der DDR weitgehend auf die Führungsgremien der SED beschränkt bleibt. Ihre Führungstätigkeit sieht die SED als „auf der Grundlage einer wissenschaftlich fundierten Strategie und Taktik“ basierend an. Wissenschaftlichkeit der politischen Führung in diesem Sinne meint in erster Linie die Ausrichtung der politischen Entscheidung an den jeweils geltenden wissenschaftlichen Gesetzen des Marxismus-Leninismus.
Die SED hat im Laufe der Jahre eine Reihe wissenschaftlicher Parteiinstitutionen geschaffen (z. B. die Akademie für Gesellschaftswissenschaften und das Zentralinstitut für Sozialistische Wirtschaftsführung), die die wissenschaftliche Führungstätigkeit garantieren sollen.
Das entscheidende Gremium im politischen Willensbildungsprozeß in der DDR ist das Politbüro der SED, das lt. 5. Statut vom ZK „zur politischen Leitung der Arbeit des Zentralkomitees zwischen den Plenartagungen“ gewählt wird. Es beschäftigt sich „mit allen Grundsatzfragen der Politik der Partei, der Staatsführung, der Volkswirtschaft und der Kultur“ (Kleines Politisches Wörterbuch, a. a. O., S. 653). Hier werden, in anderen Worten, die eigentlich politischen, d. h. vor allem auch die außenpolitischen, die militär- und sicherheitspolitischen und die gesellschaftspolitischen Entscheidungen gefällt.
PB und ZK werden in ihrer Arbeit unterstützt vom Sekretariat des ZK, das lt. 5. Statut „zur Leitung der laufenden Arbeit, hauptsächlich zur Durchführung und Kontrolle der Parteibeschlüsse und zur Auswahl der Kader“ ebenfalls vom ZK gewählt wird. Das Sekretariat bildet die organisatorische Spitze des umfangreichen zentralen Apparates der SED (Zentralkomitee der SED), der in seiner ressortmäßigen Gliederung einem Regierungsapparat vergleichbar ist. Die Mitglieder des Sekretariats, d. s. die ZK-Sekretäre, sind in der Regel gleichzeitig Mitglieder der PB.
Die jeweils zuständigen Sektoren und Abteilungen des zentralen SED-Apparates bereiten in Zusammenarbeit mit den wissenschaftlichen Institutionen des ZK Beschlußvorlagen für die Sitzungen des PB (lmal wöchentlich), die Plenartagungen des ZK (mindestens 2mal jährlich) und die Parteitage (alle 5 Jahre) vor. Beratend können dabei alle staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen in der DDR herangezogen werden. (Die Frage, wie im einzelnen politische Entscheidungen im DDR-System zustande kommen, ist bisher wissenschaftlich nicht erforscht [bzw. erforschbar]. Vor allem ist auch unklar, welche Macht konkret dem Generalsekretär des ZK zukommt und wie die KPdSU-Führung ihren Einfluß auf die Politik in der DDR geltend macht.)
Die Transformation des politischen Willens von der SED in die Gesellschaft ist durch die verschiedensten Einrichtungen des politischen Systems der DDR gesichert:
1. durch die allgemein verfassungsmäßig und speziell in der Form von Gesetzen, Verordnungen und Satzungen (z. B. Ministerratsgesetz, Satzung der SED) festgelegte Verbindlichkeit der Beschlüsse von PB, ZK und Parteitagen für alle Organisationen, einschließlich aller Parteien und Massenorganisationen;
2. durch die Entsendung von Mitgliedern der SED-Entscheidungsgremien („Vertreter der Partei“) in die „höchsten leitenden Organe des Staatsapparates und der Wirtschaft“, wie es im Statut der Partei (Art. 39) heißt; so sind z. B. die Vorsitzenden des Staatsrates, des Ministerrates, der Staatlichen Plankommission sowie — seit 1973 — der Minister für Verteidigung Vollmitglieder des Politbüros;
3. durch die Tatsache, daß in allen gesellschaftlichen Bereichen die Spitzenpositionen der Kontrolle der SED unterliegen (Nomenklatursystem);
4. durch die Strukturierung des SED-Apparates entsprechend dem Staatsapparat und die tatsächliche horizontale, d. h. über die Ressorts, gegebene Kontrolle und Anleitung des Staats- und Wirtschaftsapparates durch den SED-Apparat auf allen Ebenen;
5. durch die in allen gesellschaftlichen Institutionen, einschließlich der gewählten Organe des Staates und der Massenorganisationen, bestehenden Parteiorganisationen (Grundorganisationen, BPO, Parteigruppen) und Kontrollorgane (z. B. ABI);
6. schließlich durch die Einrichtungen der Agitation und Propaganda, die der Partei (und keiner anderen gesellschaftlichen Kraft) zur Verfügung stehen.
Peter Christian Ludz
Fundstelle: DDR Handbuch. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1979: S. 927–952