
Ästhetik (1985)
I. Grundlegendes
A. Aufgaben und Hauptthemen
Ä., von Hegel als die „Philosophie der schönen Kunst“ bestimmt, erhält im Rahmen des Marxismus-Leninismus der DDR eine eigene Ausprägung. Die Wissenschaftler, die sich hauptsächlich mit ästhetischen Fragen beschäftigen, rücken mehr und mehr von der Kunst als Hauptgegenstand der Ä. ab und konzentrieren sich auf die „ästhetische Aktivität“ und das „ästhetische Bedürfnis“ der Menschen, auf „ästhetische Beziehungen“ als Teil der gesellschaftlichen Beziehungen. „Die ästhetische Wissenschaft“, so heißt es im Kulturpolitischen Wörterbuch (2. Aufl., Berlin [Ost] 1978, S. 59), hat die „Chance, sich von einer Theorie, die im wesentlichen bei der Deutung und Erklärung ästhetischer Phänomene verharrt, zu einer produktiven, die ästhetische Kultur der Gesellschaft aktiv mitgestaltenden Wissenschaft zu entwickeln“. Diese ästhetische Kultur soll durch die Massenkommunikationsmittel dynamisiert und gefördert werden.
Dabei steht die bereits von Marx formulierte, im Kern utopische Vorstellung im Hintergrund, daß die Kunst untrennbar mit der Entwicklung der menschlichen Fähigkeit verbunden ist, der „gegenständlichen Arbeit“ einen „universellen Charakter“ zu verleihen und sie damit von den unmittelbaren materiellen Bedürfnissen abzuheben. Arbeit, Leben — als „praktische Erzeugung einer gegenständlichen Welt“ (Marx) — sind der Kunst eng verwandt. Kunst ist menschliche Lebenstätigkeit.
So kann in der marxistisch-leninistischen Ä. das Schöne im Leben zur Hauptquelle des Schönen in der Kunst werden und umgekehrt. Problembereich ist damit nicht nur das Ästhetische in der Kunst, sondern auch das Ästhetische im Leben, im Alltag. Schön ist etwas, was ein positives ästhetisches Urteil bei anderen Menschen, mit denen der Künstler zusammen lebt und arbeitet, hervorruft. Schönheit ist dabei nicht bloß subjektive Empfindung. Ihre Wahrnehmung ist stets eine Widerspiegelung bestimmter objektiver Eigenschaften der Wirklichkeit, des objektiv Schönen. Zwar hat es, nach marxistisch-leninistischer Auffassung, in der Geschichte verschiedene Schönheitsbegriffe gegeben. Diese beleuchteten jedoch nur jeweils verschiedene Seiten des An-Sich-Schönen, das damit eine ahistorische Kategorie darstelle. Das Schöne in diesem Sinne impliziert immer einen Wahrheitswert, der sich seinerseits aus der marxistisch-leninistischen Weltanschauung bestimmt.
Kunst im Sinne der marxistisch-leninistischen Ä. ist sinnliche Widerspiegelung der Realität. Die adäquate Methode ist die des Realismus. Das künstlerische Material muß deshalb so bearbeitet werden, daß die objektiven und sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen in ihm wiedererkannt werden können. Dabei wird unterschieden zwischen dem bürgerlichen, kritischen Realismus, der die Realität der bürgerlichen Gesellschaft kritisiert, ohne allerdings ihre Ursachen und das in ihr ruhende Neue zu entdecken, dem dekadenten Naturalismus, der sich in der genauen Wiedergabe der Oberfläche der Phänomene erschöpft, und dem sozialistischen Realismus, der zum historisch-fortschrittlichen Wesen der Erscheinungen vorstößt.
Das Aufzeigen dieses Wesens in seinen sinnlich-konkreten Erscheinungsformen wird mit dem Begriff des Typischen analysiert. Indem sie Typisches, das in einem Auswählen und Umstrukturieren der [S. 93]vorgefundenen Realität besteht, darstellt, erfüllt die Kunst ihre erkenntnisvermittelnde Funktion. Gleichzeitig ist durch die Erfahrung des Typischen ein normatives Element in die Kunst integriert: Typisch kann nur etwas sein, was das Wesen der (sozialistischen) Gesellschaft „richtig“ widerspiegelt.
Die künstlerische Qualität eines Werkes erschöpft sich im Verständnis des Marxismus-Leninismus jedoch nicht in der „richtigen“ Wiedergabe des Typischen. Gleichzeitig muß das Problem des Verhältnisses von Form und Inhalt gelöst sein. Dabei ist der Inhalt das Primäre. Ein bestimmter Inhalt zieht eine bestimmte Form nach sich, allerdings nicht immer. Auch ein historisch richtiger Inhalt kann in eine historisch inadäquate Form gefaßt sein. Vollkommen ist nur das Kunstwerk, in dem historisch richtiger Inhalt und Form harmonisch übereinstimmen. Wo der Inhalt ein historisches Verfallsprodukt ist (wie z.B. in der reaktionären bürgerlichen Literatur und Kunst von Joyce bis Beckett, von den Futuristen bis zu den Gegenstandslosen), mag zwar eine Form-Inhalt-Harmonie bestehen, aber sie wird als ästhetisch wertlos angesehen, da der Inhalt historisch überholt sei.
B. Philosophische Aspekte
1. Der marxistisch-leninistischen Ä. liegt eine bestimmte Anthropologie zugrunde. Der Mensch als ein Wesen, das sich Wirklichkeit ästhetisch aneignet, erspürt und erkennt bestimmte Wertvorstellungen, die für die produktive Steigerung seines individuellen Lebens wie die gesellschaftlichen Prozesse entscheidend sind. Mit einer solchen These werden anthropologische, im Rahmen der Ä. relevante Vorstellungen, wie sie bei Aufklärungsphilosophen (Diderot) zu finden sind, jedoch auch die von Hegel und Lukács abgelehnt. Folglich wendet sich die marxistisch-leninistische Ä. in der DDR auch gegen die vor allem Hegel und Lukács zugeschriebene Behauptung, daß die Ä. mit der „Theorie der Kunst“ identisch sei. In einer solchen Identifizierung, so wird argumentiert, würde das ästhetische Verhältnis nicht als „sinnliche Praxis des menschlichen Subjekts“, sondern lediglich als Bewußtseinsphänomen begriffen.
2. Auch die Kunstwissenschaftler in der DDR fragen: Gibt es objektive Kriterien für den ästhetischen Wert? Im einzelnen gehen sie von folgenden erkenntnistheoretischen Voraussetzungen aus: Die objektive Welt ist vom Subjekt unabhängig. Sie wird im subjektiven Bewußtsein über die sinnliche Wahrnehmung in einem individuell unterschiedlichen Aneignungs- und Verarbeitungsprozeß widergespiegelt. Für das Bewußtsein gelten daher dieselben Gesetze der Dialektik wie in der objektiven Realität. Die gesellschaftliche Umwelt entwickelt sich jedoch in historischen Gesetzmäßigkeiten. Die einzelnen Subjekte sind in dieser historisch-gesellschaftlichen Umwelt Teile und vermitteln sie entsprechend ihrem Stand innerhalb der historischen Entwicklung der Gesellschaft durch ihre jeweilige gesellschaftliche Tätigkeit. Die Kunst als eine „spezifische Art und Weise der Widerspiegelung der Wirklichkeit“ ist davon nicht unabhängig; sie ist nicht neutral. Im Gegenteil: Kunst ist stets „parteilich“ (Parteilichkeit).
Das ästhetische Bewußtsein spiegelt das Sein nicht einfach wider, sondern lenkt die Tätigkeit des Menschen und wird zu einer subjektiven Voraussetzung für die praktische Veränderung der Welt. Damit ist zweierlei gesagt: die Kunst ist jeweils auch die Widerspiegelung einer bestimmten politischen Position; die Kunst hat als Form des Bewußtseins eine handlungsanleitende und damit erzieherische Funktion. Kunst verändert den Menschen und die Gesellschaft.
3. In der Geschichte ist Kunst stets Ausdruck der Ideologie der sie tragenden Klasse und des Standortes, den diese Klasse im Geschichtsverlauf einnimmt. Solange z.B. die Bourgeoisie noch fortschrittlich gewesen ist und gegen die Feudalaristokratie um demokratische Rechte gekämpft hat, erlebten die bürgerliche Kunst, Malerei, Literatur und Musik eine hohe Blüte. Mit dem Aufkommen der Arbeiterklasse jedoch wurde die Bourgeoisie historisch überholt, ihre Kunst verfiel. In ihrer Esoterik, Inhaltsleere und Unverständlichkeit (Formalismus) offenbart die bürgerliche Kunst ihre Verachtung der Massen und damit des Menschen. Da die Bourgeoisie ihren Sinn, ihre vorwärtsweisende Aufgabe in der Geschichte eingebüßt hat, gibt es keinen Sinn mehr, den der bürgerliche Künstler widerzuspiegeln hätte.
Demgegenüber, so wird behauptet, erreicht die Kunst in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft eine neue Stufe. Auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus sei ein sinnerfülltes Leben gegeben. Es existiert sowohl ein Sinn, den die Kunst widerzuspiegeln vermag, wie sie ihrerseits sinnbildend wirken kann und muß. Letzteres wird in jüngster Zeit besonders in den Vordergrund gestellt. Man spricht in diesem Zusammenhang von der „humanistischen“ Funktion und Position der Ä.
C. Wissenschaftsorganisatorische Aspekte
Die Ä. ist Lehr- und Forschungsfach an den Universitäten und Hochschulen der DDR. Sie gehört zu den Gesellschaftswissenschaften. Koordinierend und leitend wirkt der Wissenschaftliche Rat für marxistisch-leninistische Kultur- und Kunstwissenschaften mit Sitz bei der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED (AfG). Vorsitzender dieses Rates ist Prof. Dr. Hans Koch, Mitglied des ZK der SED, der gleichzeitig das Institut für Kultur- und Kunstwissenschaften an der [S. 94]genannten Akademie leitet. Seit 1982 gibt es ein Institut für Ä. und Kunstwissenschaften an der Akademie der Wissenschaften der DDR (AdW) (Direktor: Prof. Dr. Peter Feist).
Entsprechend ihrer Aufgabenstellung (s. o.) wird Ä. interdisziplinär betrieben. Geschichtswissenschaft, Kunstwissenschaft, Soziologie, Psychologie u.a. werden von der Ä., so heißt es im Kulturpolitischen Wörterbuch, „zur Lösung ihrer Probleme herangezogen“. Der Kranz der Wissenschaften erweitert sich zusätzlich, wenn z.B. Probleme der Wohngebiets- oder Arbeitsplatzgestaltung (s. u., Ästhetik, III.) zu behandeln sind.
II. Historische Entwicklung
Die Entwicklung der Ä. in der DDR ist im Rahmen der Entwicklung der Kulturpolitik zu sehen; sie läßt sich in verschiedene Etappen unterteilen. Bis etwa 1956 (A) können 3 Richtungen unterschieden werden: die dogmatische mit einem besonders engen Realismusbegriff, die verschiedenen Tendenzen im Umkreis von Georg Lukács und Auffassungen im Umkreis von Bertolt Brecht. Charakteristisch für die Zeit bis etwa 1962 (B) waren vor allem die Versuche, den Einfluß von Lukács zurückzudrängen und einen neuen Realismusbegriff zu finden. Bis etwa 1976 (C) werden diese Diskussionen fortgeführt. Gleichzeitig ist eine starke Konzentration auf das Problem der gesellschaftspolitischen Wirkung der Ä. im allgemeinen und des Kunstwerkes im besonderen zu beobachten.
1. Die dogmatische Richtung in der Ä. der DDR (vertreten u.a. durch W. Girnus und A. Kurella), die Grundlage der offiziellen Kulturpolitik war, ging von einem engen Realismusbegriff aus. Dieser war sowohl für die Malerei als auch für die Literatur, die Architektur und Musik verbindlich. Als das Neue des sozialistischen Realismus galt der neue Inhalt. Die neuen Beziehungen der Menschen, denen Schönheit, Kraft usw. zukommen soll, müssen im Kunstwerk unmittelbar und gegenständlich zum Ausdruck gebracht werden. Daher rührt der stark monumentale, emblematische Charakter der bildenden Kunst und der typisierende, „schönfärbende“ der Literatur, daher z.B. die Betonung des positiven Helden, der Mut, Klugheit, Fleiß, Hingabe an die Sache des Sozialismus in sich vereinigt.
2. Die andere Richtung hatte ihren Hauptvertreter in Georg Lukács, der in Ungarn lebte, seine Hauptwerke jedoch in deutscher Sprache in der DDR veröffentlichte. Weitere herausragende Repräsentanten waren Ernst Bloch, Wolfgang Harich und Hans Mayer. Diese marxistisch-leninistische Ä. ging von einem freieren Verhältnis von Basis und Überbau aus und damit letztlich auch von einer anderen Anthropologie, einem anderen Erkenntnis- und Geschichtsbegriff. Die einzelnen Individuen, die in der Geschichte stehen, seien ideologisch zwar an ihre Klasse gebunden, ihre geistigen Arbeiten jedoch würden eine neue Realität schaffen, die ihre eigenen Gesetze habe, mittels derer sich ein schöpferischer Geist aus seiner Klassengebundenheit auch lösen könne. Damit wurde sowohl die Rolle des autonomen schöpferischen Subjekts als auch die des Geistigen gegenüber der Basis stärker betont.
3. Eine dritte Richtung, die — relativ unabhängig, im wesentlichen auf die Literatur und das Theater beschränkt — zu jener Zeit bestand, gründete sich auf die Anschauungen Bertolt Brechts. Auch sie kannte eine starke Betonung der Rolle des Subjekts. Das Schauspiel sollte keine Autorität sein, der sich das Publikum kritiklos unterordnet, sondern Gegenstand kritischen Überlegens. Um dies zu erleichtern, wurde der Ablauf der Spielhandlung „verfremdet“. Weder Schauspieler noch Zuschauer sollten sich mit den dargestellten Personen identifizieren. Brechts Theorie der Verfremdung ist bis heute Bestandteil der Ä. in Ost und West.
Nach dem XX. Parteitag der KPdSU (1956) veränderte sich auch die kultur- und kunstpolitische Szene in der DDR. In der ästhetischen Theorie setzte sich eine neue Konzeption des sozialistischen Realismus durch. Hatte die dogmatische Richtung im Anschluß an A. A. Shdanow die Kunstgeschichte noch als Kampf zwischen Realismus und Antirealismus betrachtet und sie dem Kampf zwischen Idealismus und Materialismus in der Philosophiegeschichte gleichgesetzt, so wurde der Realismusbegriff nun historisiert. Als seine Entstehungszeit ist meist das Aufkommen des Bürgertums angegeben worden. Gleichzeitig wurde eine größere Autonomie des Inhalts postuliert. Der Akzent verschob sich von der „getreuen Wiedergabe der Realität“ auf die „wahrheitsgetreue Wiedergabe“. Darin war impliziert, daß ein richtiger Inhalt sich eine eigene Form suchen müsse. Allerdings wurde zugleich die formale Einheit des Kunstwerks gefordert. Die Details sollten sich nicht verselbständigen — weder in der fotografischen Wiedergabe der Realität noch im formalistischen Sinn. In dieser Realismusdiskussion war eine Kritik an der Theorie des Realismus, wie sie Lukács vertrat, enthalten. Nicht der „große (bürgerliche) Realismus“ von Balzac bis Tolstoi sollte den ästhetischen Maßstab bilden, sondern die gesellschaftliche Wirklichkeit in der DDR.
Eine wichtige Neuerung in der ästhetischen Theorie war zu jener Zeit die begrifflich exaktere Unterscheidung von Kunst und Wissenschaft. In Anlehnung an die Konzeption des sowjetischen Ästhetikers A. I. Burow wurde postuliert, daß Kunst und Wissenschaft verschiedene Gegenstände hätten. Der eigentliche Gegenstand der Kunst sei das menschliche Wesen, der Mensch als gesellschaftliches Wesen in seiner individuellen wie in seiner gesellschaftlich-historischen Totalität, die von den Gesellschaftswissenschaften nicht erfaßt werde.
[S. 95]Ferner wurde der analoge Charakter von materieller und geistig-künstlerischer Arbeit stärker betont. Der Künstler und seine gesellschaftliche Arbeit rückten in den Vordergrund. Kunst wurde als „Praxis“ konzipiert. Sie sei mehr als bloß Erkenntnis, und dieses Mehr gewährleiste erst wahrhaften Realismus. Auch hier ist eine Frontstellung gegen Lukács und seine Konzeption des Künstlers als „Partisan“ deutlich zu erkennen.
Die beiden Hauptthemen der marxistisch-leninistischen Ä. der späten 50er Jahre, die Frage nach dem sozialistischen Realismus und das Problem der Stellung des Künstlers in der sozialistischen Gesellschaft, werden — unabhängig von Georg Lukács — weiterverfolgt. Den entscheidenden Schwerpunkt der ästhetischen Diskussion in den 60er und frühen 70er Jahren bildet jedoch die „Volksverbundenheit“ der Kunst. Volksverbundenheit bedeutet einerseits, daß die Kunst erzieherischen Charakter besitzt bzw. besitzen soll, dessen Vorbedingungen Verständlichkeit, Vermittlung von Erkenntnis und einem bestimmten Lebensgefühl sowie Parteilichkeit sind; andererseits, daß die Kunst sich den Prinzipien des sozialistischen Realismus unterzuordnen bzw. diese weiterzuentwickeln habe. In diesem Zusammenhang wird von Vertretern der marxistisch-leninistischen Ä. der wichtigste Gegenstand sowohl der ästhetischen Aktivität des Menschen wie des Künstlers, der diese Aktivität darzustellen habe — wie schließlich der Wissenschaft von der Ä.: der Mensch, konkreter gefaßt. Die Aufmerksamkeit wendet sich seiner Psyche, seinen Normen und Wertvorstellungen, seinen Lebensäußerungen und Lebensverhältnissen zu.
Diese Konzeption enthält u.a. auch die Aufhebung der Trennung von hoher Kunst und Volkskunst, die auf der ersten Bitterfelder Konferenz (24. 4. 1959) durch die Initiierung der Bewegung „schreibender Arbeiter“ unterstrichen, jedoch auf der zweiten Bitterfelder Konferenz (24./25. 4. 1964) durch eine stärkere Betonung der Arbeitsteilung zwischen Berufs- und Laienkünstler partiell wieder zurückgenommen worden war.
III. Gegenwärtige Diskussion
Die gegenwärtige Diskussion ist von dem Bemühen, Ä. zu den Vorstellungen von der Sozialistischen ➝Lebensweise und Kultur in Beziehung zu setzen, stark durchdrungen. So hat Ende der 70er Jahre eine lebhaft geführte Auseinandersetzung um die Konzeption des Ästhetischen begonnen.
Für eine Gruppe marxistisch-leninistischer Kunstwissenschaftler, die von den Autoren des Werkes „Ästhetik heute“ angeführt wird, erweitert sich das Ästhetische. Es schließt nunmehr die „schöne Kunst“ und die „volksverbundene Kunst“ ebenso ein wie außerkünstlerisch Ästhetisches. Hier wird das Ästhetische so konzipiert, daß es in allen Lebenstätigkeiten nachweisbar ist („Ä. des Alltags“). Die Wertattribute der Kunst, so behauptet man, sind in den Alltag gelangt und werden dort ihr Gewicht ständig erhöhen. Ästhetisches findet sich in der Stadt-, der Umwelt-, der Produkt-, der Arbeitsplatz- und Freizeitgestaltung, ja selbst in der Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Folglich hat sich auch die Ä. als Disziplin weiter zu öffnen und mit anderen Disziplinen (etwa der Architektur, Medizin, Soziologie und Psychologie im Falle der Wohngebietsgestaltung) zusammenzuarbeiten.
Ideologisch-philosophisch fundiert wird diese Variante der Ä. durch eine spezifische Ausdeutung des Konzepts der „ästhetischen Aneignung der Wirklichkeit“. Im Sozialismus sei — aufgrund der Tatsache, daß es unter den Bedingungen einer ausbeutungsfreien Gesellschaft „Arbeit in Freiheit“ (Marx) gebe — die ästhetische Aneignung allen Menschen, nicht nur dem Künstler und einer privilegierten Schicht möglich. Ferner begründet man die neue Auffassung mit dem Hinweis auf die im Zuge der Wissenschaftlich-technischen Revolution (WTR) veränderten ästhetischen Produktions-, Kommunikations- und Rezeptionsbedingungen.
Im Detail verlagern sich in dieser Ä., die sich auch „industrielle Ä.“ im Gegensatz zur „vorindustriellen Ä.“ nennt, einige Gewichte: Statt der ästhetischen Produktion wird die Rezeption betont; statt unter Wert- wird Kunst nunmehr überwiegend unter Funktionsgesichtspunkten gesehen.
Eine Gegengruppe von marxistisch-leninistischen Kunstwissenschaftlern, die in sich keineswegs homogen ist, bringt enger gefaßte, eher traditionelle Konzepte des Ästhetischen in die Debatte ein. Gleichzeitig benutzten Autoren wie Wolfgang Heise, Erhard John, Günther K. Lehmann, Erwin Pracht und Rita Schober die relative Offenheit der Diskussion, um auf lange vernachlässigte Themen aufmerksam zu machen. So wird angeregt, einmal wieder solche grundlegenden Kategorien wie das Schöne und Häßliche, das Erhabene und Niedrige, das Tragische und Komische zu behandeln oder sich mit Einzelheiten der „ästhetisch-künstlerischen Aneignung“ ebenso zu befassen wie mit der „praktisch-ästhetischen Aneignung“. Die Untersuchung der Kreativität im Hinblick auf ihre sozialen Determinanten und die vertiefte Behandlung von Fragen ästhetischer Wertung und Wahrheit werden ebenfalls als Desiderata genannt.
Zwei weitere Erscheinungen prägen die gegenwärtige Lage der Ä. in der DDR: Zum einen hat sich die Auseinandersetzung mit ästhetischen Theorien außerhalb des Marxismus-Leninismus der DDR intensiviert. Das gilt für die Positionen, die der späte Lukács in seinem 1981 auch in der DDR erschienenen Werk „Die Eigenart des Ästhetischen“ entwickelt. Es trifft aber auch für hermeneutische (Dilthey, Jauß) und phänomenologische (Husserl, Ingarden) [S. 96]Auffassungen zu. Zum anderen ist Bewegung in die ästhetische Diskussion dadurch gekommen, daß die Literatur- und Kunstsoziologie (Soziologie und Empirische Sozialforschung) in den letzten Jahren einen Aufschwung erfahren und eine Reihe von empirischen Untersuchungen zu Themen, die in den Bereich der Ä. gehören, vorgelegt hat.
Peter C. Ludz (†) / Ursula Ludz
Literaturangaben
- Ästhetik heute. Autorenkollektiv u. Ltg. v. Erwin Pracht. Berlin (Ost): Dietz 1980.
- Besenbruch, Walter: Zum Problem des Typischen in der Kunst. Versuch über den Zusammenhang der Grundkategorien der Ästhetik. Weimar: H. Böhlaus Nachf. 1956.
- Demetz, Peter: Marx, Engels und die Dichter. Ein Kapitel deutscher Literaturgeschichte. Frankfurt a. M./Berlin: Europäische Verlagsanstalt 1969.
- Einführung in den sozialistischen Realismus. Autorenkollektiv u. Ltg. v. Erwin Pracht. Berlin (Ost): Dietz 1975.
- Feist, Peter H.: Künstler, Kunstwerk und Gesellschaft. Studien zur Kunstgeschichte und zur Methodologie der Kunstwissenschaften. Dresden: Verl. der Kunst 1978.
- Fischer, Ernst: Kunst und Koexistenz. Beitrag zu einer modernen marxistischen Ästhetik. Reinbek bei Hamburg; Rowohlt 1966. (rororo aktuell. 53.)
- Heise, Wolfgang: Realistik und Utopie. Aufsätze zur deutschen Literatur zwischen Lessing und Heine. Berlin (Ost): Akademie-Verl. 1982.
- John, Erhard: Probleme der marxistisch-leninistischen Ästhetik. 2 Bde. Halle/Saale: Niemeyer Bd. 1: 1968 (2., neubearb. Aufl. 1976), Bd. 2: 1978.
- Koch, Hans: Marxismus und Ästhetik. Zur ästhetischen Theorie von Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir Iljitsch Lenin. Berlin (Ost): Dietz 1961.
- Krenzlin, Norbert: Das Werk ‚rein für sich‘. Zur Geschichte des Verhältnisses von Phänomenologie, Ästhetik und Literaturwissenschaft. Berlin (Ost): Akademie-Verl. 1979.
- Lehmann. Günther K.: Phantasie und künstlerische Arbeit. Betrachtungen zur poetischen Phantasie. Berlin (Ost)/Weimar: Aufbau 1966.
- Lukács, Georg: Ästhetik, Teil I: Die Eigenart des Ästhetischen, 2 Halbbde. Neuwied/Berlin (West): Luchterhand 1963. (Georg-Lukács-Werke. 11, 12.) (DDR-Ausgabe: Berlin [Ost]/Weimar: Aufbau 1981.)
- Marx, Karl, u. Friedrich Engels: Über Kunst und Literatur. Eine Sammlung aus ihren Schriften. Hrsgg. v. Michail Lifschitz. Berlin (Ost): Henschel 1950.
- Redeker, Horst: Abbildung und Wertung. Grundprobleme einer Literaturästhetik. Leipzig: Bibliograph. Institut 1980.
- Schlenstedt, Dieter: Wirkungsästhetische Analysen. Poetologie und Prosa in der neueren DDR-Literatur. Berlin (Ost): Akademie-Verl. 1979.
- Thurn, Hans Peter: Kritik der marxistischen Kunsttheorie. Stuttgart: Enke 1976. (Kunst und Gesellschaft. 7.)
Fundstelle: DDR Handbuch. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985: S. 92–96
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