DDR von A-Z, Band 1985

Freizeit (1985)

 

 

Siehe auch:


 

Der Begriff F. erfährt in der DDR eine besondere ideologische Einordnung. F. gilt als „jener Zeitraum der Lebensgestaltung im Sozialismus, der nicht [S. 474]durch die gesetzlich festgelegte Zeit für Arbeit, Ausbildung, Studium, Lehre usw. sowie die damit unmittelbar verknüpften Zeitaufwendungen gebunden ist und der von den Werktätigen nach eigenem Ermessen gemeinschaftlich oder individuell zur Befriedigung verschiedener Bedürfnisse und Interessen, zur Gestaltung sozialer Beziehungen, zur Erfüllung gesellschaftlicher Erfordernisse usw. genutzt wird“ (Kleines Politisches Wörterbuch, 4., überarb. Aufl., Berlin [Ost] 1983, S. 272). Der Begriff der F. wird aus ihrer gesellschaftlichen Funktion abgeleitet. Nach dem Verständnis der marxistisch-leninistischen F.-Forschung besteht die Funktion der F. in der Reproduktion der Arbeitskraft (Erholung und Entspannung), der Reproduktion und erweiterten Reproduktion persönlicher Fähigkeiten (Bildung, kulturelle Betätigung), der Geselligkeit (Unterhaltung, Kommunikation) und der Teilnahme an der Leitung bzw. Regelung öffentlicher Angelegenheiten (gesellschaftspolitische Tätigkeiten).

 

Während im westlichen Verständnis F. und Arbeitszeit als weitgehend getrennte menschliche Lebensbereiche begriffen werden, sollen F. und Arbeit im Sozialismus keine Gegensätze mehr bilden (Marxismus-Leninismus). Die Tätigkeiten während der F. und innerhalb der Arbeitszeit sollen ihrem Inhalt und ihrer Funktion nach schließlich zu verschiedenen, sich ergänzenden Formen menschlicher Lebenstätigkeit werden. Die von einigen Theoretikern vertretene Auffassung, bereits jetzt sei die Arbeit „erstes Lebensbedürfnis“ geworden, wird allerdings von der Mehrheit der F.-Forscher in der DDR aus theoretischen und empirischen Gründen nicht geteilt. Die Analyse der Beziehung zwischen F. und Arbeit wird derzeit als eine der wichtigsten Aufgaben der marxistisch-leninistischen F.-Forschung bezeichnet.

 

Die F.-Gestaltung soll Ausdruck der sozialistischen ➝Lebensweise sein und daher möglichst kollektiv in den staatlich organisierten Arbeits- und Interessengemeinschaften, Zirkeln, Sport- und Touristikgruppen sowie Sparten des Kulturbundes der DDR (KB) verbracht werden (Kulturarbeit des FDGB; Kulturstätten; Laienkunst; Sport; Tourismus).

 

Obwohl die kollektiven Formen des F.-Angebots aus kulturpolitischen Gründen gezielt ausgebaut wurden, spielen im tatsächlichen F.-Verhalten individuelle Formen der F.-Betätigung die entscheidende Rolle. Nach Angaben von DDR-Soziologen werden etwa 70 v.H. der F. in der Wohnung verbracht. Gestiegener Lebensstandard, verbesserte Wohnverhältnisse und die Entwicklung von Unterhaltungselektronik und Massenmedien haben den Trend zur individuellen F.-Gestaltung beschleunigt.

 

Bei einer Untersuchung, die 1977 in den Bezirken Erfurt, Frankfurt, Halle, Karl-Marx-Stadt, Schwerin und Suhl mit 18–65jährigen durchgeführt wurde, wurden folgende F.-Interessen ermittelt (Mehrfachnennungen waren möglich):

 

 

Der F.-Umfang der berufstätigen Bevölkerung ist durch die Länge der täglichen bzw. wöchentlichen Arbeitszeit (Arbeitsrecht, VII.) bestimmt. Die sich aus den verschiedenen gesetzlichen Bestimmungen ergebende, durchschnittliche Wochenarbeitszeit liegt derzeit bei 42 Std.; Sonderregelungen zur Minderung der Normalarbeitszeit von 43¾ Std. gelten für bestimmte Gruppen wie Schichtarbeiter und Mütter mit mehreren Kindern. Die Festschreibung der 5-Tage-Arbeitswoche, die Verlängerung des Erholungsurlaubs (Arbeitsrecht, VIII.) und die Verkürzung der Arbeitszeit für die o. g. Gruppen haben zu einer Erweiterung der arbeitsfreien Zeit geführt; eine weitere Reduzierung der Arbeitszeit wird allerdings derzeit aus volkswirtschaftlichen, teilweise auch aus ideologischen Gründen abgelehnt. Vermehrte F. soll durch eine Umwandlung von Teilen der arbeitsfreien Zeit in F. erreicht werden (Reduzierung der Hausarbeit, Verkürzung der Wege- und Wartezeiten bei Inanspruchnahme von Handels- und Dienstleistungen usw.).

 

Wie aus Zeitbudget-Untersuchungen hervorgeht, liegt der Umfang der F. zwischen 24 und 35 Stunden pro Woche, wobei Angehörige der Intelligenz über die meiste F., Bauern dagegen über die geringste freie Zeit verfügen. Obwohl in der DDR das Prinzip der Gleichberechtigung formal verwirklicht wurde, sind verheiratete, berufstätige Frauen hinsichtlich ihrer F. gegenüber Männern stark benachteiligt. Eine Zeitbudget-Erhebung bei berufstätigen Erwachsenen zwischen 18 und 65 Jahren ergab, daß Frauen pro Woche im Durchschnitt über 10,5 Stunden weniger F. zur Verfügung steht als Männern.

 

Die F.-Gestaltung von Jugendlichen gehört in der DDR zum Aufgabenbereich der sozialistischen Jugendpolitik mit dem Ziel, die Jugendlichen zur verantwortungsbewußten und sinnvollen F.-Gestaltung zu erziehen. F.-Erziehung gilt als integraler Bestandteil der klassenmäßigen Erziehung, deren Auftrag darin besteht, „sozialistische Persönlichkeiten“ (Persönlichkeitstheorie, Sozialistische) heranzubilden. Vor allem über die Freie Deutsche Jugend (FDJ) erfolgt die Einflußnahme des Staates auf die Jugendlichen. Mit einer Vielzahl von teilweise attraktiven F.-Angeboten versucht die FDJ, junge Menschen für eine gemeinschaftlich verbrachte F. zu interessieren. Neben der FDJ sind [S. 475]auch die Schulen in zunehmendem Maß bestrebt, die F. der Schüler zu gestalten, und zwar hauptsächlich in Form von Sportunterricht und Arbeitsgemeinschaften am Nachmittag (Einheitliches sozialistisches Bildungssystem, XIII., XIV.; Feriengestaltung).

 

Eine vom Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig durchgeführte Untersuchung ermittelte folgende Struktur der F.-Aktivitäten Jugendlicher:

 

 

Auffällig ist die dominante Stellung des Fernsehens unter den F.-Tätigkeiten. Das Zusammensein mit Freunden, Kollegen usw. spielt in der Freizeit offenbar auch eine große Rolle; viele F.-Aktivitäten werden gemeinsam mit Gleichaltrigen unternommen. Die Jugendforscher berichten darüber hinaus über geschlechtsspezifische Differenzen des F.-Verhaltens. Während männliche Jugendliche mehr Sport treiben, Fahrrad, Moped und Motorrad fahren, gehen weibliche Jugendliche häufiger spazieren, singen, malen und handarbeiten mehr und sind häufiger mit Freunden und Bekannten zusammen. Eine besondere Rolle spielen nicht vom Staat oder der FDJ organisierte, spontan entstandene F.-Gruppen, in denen Gleichaltrige ihre F. verbringen. Untersuchungen haben ergeben, daß fast die Hälfte aller Jugendlichen einer nicht-organisierten F.-Gruppe angehört, ein Teil der Jugendlichen sogar mehreren Gruppen gleichzeitig. 16–18jährige sind besonders häufig in nicht-organisierten Gruppen zu finden, Jungen häufiger als Mädchen, Schüler, Lehrlinge und Studenten häufiger als berufstätige Jugendliche. Einfluß auf die F.-Aktivitäten haben darüber hinaus auch die Kirchen (Junge Gemeinde). Die Bedeutung der selbstgestalteten F.-Aktivitäten hat bei den Jugendlichen zugenommen, und neuere F.-Untersuchungen tragen dem Rechnung, indem sie die nicht-organisierten F.-Gruppen der Jugendlichen als „Ergänzung“ des offiziellen F.-Angebots bezeichnen. Die F.-Wünsche und -Vorstellungen Jugendlicher werden von der offiziellen Jugend- und Kulturpolitik offenbar nicht gedeckt.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985: S. 473–475


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.