DDR von A-Z, Band 1985

Grundlagenvertrag (1985)

 

 

Siehe auch die Jahre 1975 1979


 

Im politischen Sprachgebrauch der Bundesrepublik Deutschland auch als Grundvertrag bezeichnet, ist der verkürzte Name des am 8. 11. 1972 in Bonn paraphierten, am 21. 12. 1972 in Berlin (Ost) unterzeichneten und am 21. 6. 1973 in Kraft getretenen „Vertrages über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“.

 

1. Vorgeschichte. Den Anstoß zu den Verhandlungen über den G. gab Bundeskanzler Brandt in seiner Regierungserklärung am 28. 10. 1969. Darin bot er „dem Ministerrat der DDR erneut Verhandlungen beiderseits ohne Diskriminierung auf der Ebene der Regierungen an, die zu vertraglich vereinbarter Zusammenarbeit führen“ sollten, wobei die Bundesregierung sich von der Annahme leiten ließ, daß die beiden in Deutschland existierenden Staaten „füreinander nicht Ausland“ seien und Beziehungen „nur von besonderer Art“ aufnehmen könnten.

 

Am 17. 12. 1969 übermittelte der Vorsitzende des Staatsrates der DDR, Ulbricht, Bundespräsident Heinemann einen Vertragsentwurf, in dem u.a. die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und die Anerkennung einer „selbständigen politischen Einheit Westberlin“ vorgeschlagen wurden.

 

Nachdem beide Seiten — beim ersten Treffen der beiden Regierungschefs seit den Staatsgründungen — am 19. 3. 1970 in Erfurt ihre grundsätzlichen Positionen beschrieben hatten, legte der damalige Bundeskanzler Brandt am 21. 5. 1970 bei der zweiten Begegnung in Gestalt der „20 Kasseler Punkte“ einen Umriß des anzustrebenden G. vor. Der Vertrag sollte nach Brandts Worten die Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland regeln, die Verbindung zwischen der Bevölkerung der beiden Staaten verbessern und dazu beitragen, bestehende Benachteiligungen zu beseitigen.

 

Nach einer von der DDR geforderten „Denkpause“ kamen beide Seiten am 29. 10. 1970 — 11 Wochen nach der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR über einen Gewaltverzicht — überein, einen Meinungsaustausch über die wechselseitigen Beziehungen zu führen. Am 27. 11. 1970 trafen die von den Staatssekretären Egon Bahr (Bundesrepublik Deutschland) und Michael Kohl (DDR) geleiteten Delegationen zum ersten Mal zusammen. Ihr Meinungsaustausch führte im September 1971 zu formellen Verhandlungen über einen das Viermächte-Abkommen über Berlin ergänzenden Transitvertrag und über einen Verkehrsvertrag zwischen beiden Staaten. Nach dem Inkrafttreten des Viermächte-Abkommens über Berlin begannen am 15. 6. 1972 Gespräche über einen G., die Anfang November zu einem von beiden gebilligten Ergebnis führten.

 

2. Inhalt des G. Das Vertragswerk besteht aus dem in Präambel und 10 Artikel gegliederten G., einem Zusatzprotokoll zu Art. 3 (Gründung und Zielsetzung einer gemeinsamen Grenzkommission) und zu Art. 7 (Inhalt einzelner Folgeverträge) sowie mehreren Briefwechseln, Protokollvermerken, Erklärungen und Erläuterungen.

 

In der Präambel des G. bekunden beide Seiten ihre Bereitschaft zur Friedenssicherung und Entspannung (Art. 5 präzisiert diese Verpflichtung durch den Hinweis auf gemeinsame „Bemühungen um eine Verminderung der Streitkräfte und Rüstungen in Europa“ eingedenk des Ziels einer „allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter wirksamer internationaler Kontrolle“). Die Präambel des G. bekräftigt die „Unverletzlichkeit der Grenzen“ und die „Achtung der territorialen Integrität und der Souveränität“ sowie das — in Art. 3 noch einmal erläuterte — Prinzip des Gewaltverzichts. Sie erwähnt weiter „unterschiedliche Auffassungen … zu grundsätzlichen Fragen, darunter zur nationalen Frage“, und betont schließlich den Wunsch, „zum Wohle der Menschen in den beiden deutschen Staaten die Voraussetzungen für die Zusammenarbeit“ zwischen den Staaten zu schaffen.

 

In Art. 1 ist von „normalen gutnachbarlichen Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung“ die Rede. Art. 2 nimmt Bezug auf die UN-Charta und bekräftigt ihre Ziele und Prinzipien (insbesondere das der souveränen Gleichheit aller Staaten, der Achtung der Unabhängigkeit, Selbständigkeit und territorialen Integrität, des Selbstbestimmungsrechts, der Wahrung der Menschenrechte und Nichtdiskriminierung).

 

Die in Art. 4 getroffene Feststellung, daß „keiner der beiden Staaten den anderen international vertreten oder in seinem Namen handeln kann“ (Verzicht auf den Alleinvertretungsanspruch und die Anwendung der Hallstein-Doktrin), wird im Art. 6 durch den Grundsatz ergänzt, daß „die Hoheitsgewalt jedes der beiden Staaten sich auf sein Staatsgebiet beschränkt“ und daß beide Seiten „die Unabhängigkeit und Selbständigkeit jedes der beiden Staaten in seinen inneren und äußeren Angelegenheiten“ respektieren. Art. 7 kündigt weitere Folgeverträge, Art. 8 den Austausch von Ständigen Vertretungen an, die „am Sitz der jeweiligen Regierung“ zu errichten sind. Art. 9 stellt fest, daß der G. früher abgeschlossene oder die beiden deutschen Staaten betreffende zwei- und mehrseitige internationale Verträge und Vereinbarungen unberührt läßt. Art. 10 schreibt eine Ratifikation des G. vor.

 

3. Ergänzende Dokumente zum G. Die den G. ergänzenden Dokumente regeln wichtige Einzelfragen.

 

[S. 580]a) Deutsche Einheit: In einem der Regierung der DDR am 21. 12. 1972 zugeleiteten Brief stellte die Bundesregierung fest, daß der G. „nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt“.

 

b) Vier-Mächte-Verantwortung: Beide Seiten haben in einem Briefwechsel vom 21. 12. 1972 betont, daß „die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte“ von dem Vertrag nicht berührt werden.

 

c) Berlin (West): In Übereinstimmung mit dem Viermächte-Abkommen über Berlin vom 3. 9. 1971 „kann“ die Ausdehnung der Folgeverträge auf Berlin (West) „im jeweiligen Fall vereinbart“ werden: „Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland … wird … die Interessen von Berlin (West) vertreten.“

 

d) UN-Mitgliedschaft: Beide Seiten teilten in einem Briefwechsel vom 8. 11. 1972 mit, daß sie sich um die Mitgliedschaft in der Organisation der Vereinten Nationen bemühen und sich gegenseitig über den Zeitpunkt der Antragstellung informieren würden.

 

e) Staatsangehörigkeitsfragen wurden durch den G. nicht geregelt. Die Regierung der DDR sprach die Erwartung aus, daß der G. die Regelung dieses Problems „erleichtern“ werde.

 

f) Menschliche Erleichterungen: Die Regierung der DDR erklärte in einem Briefwechsel vom 21. 12. 1972, sie sei zur Förderung der Familienzusammenführung, zu Verbesserungen im grenzüberschreitenden Reise- und Besuchsverkehr (grenznaher Verkehr, Grenze, Innerdeutsche) und zu Verbesserungen des Nichtkommerziellen ➝Warenverkehrs bereit. Sie erklärte zu Protokoll, daß der Verwaltungsverkehr zwischen Organen und Behörden beider Staaten nicht geändert, sondern beibehalten und „im Rahmen der Möglichkeiten“ beschleunigt werden sollte.

 

g) Presse: Schließlich regelte ein Briefwechsel vom 8. 11. 1972 Arbeitsmöglichkeiten für Journalisten der Bundesrepublik Deutschland in der DDR, eine Vereinbarung, die auf Berlin (West) ausgedehnt wurde.

 

Ergänzend zum G. vereinbarten beide Seiten ständige Konsultationen über Fragen von beiderseitigem Interesse.

 

Auf der Grundlage des G. gelang es, mit der DDR eine Reihe von Folgeverträgen zu schließen, die — nicht ohne Rückschläge — zu rechtlichen Regelungen in einzelnen Bereichen der Innerdeutschen Beziehungen führten. Abgrenzung; Deutschlandpolitik der SED; Friedliche Koexistenz.


 

Fundstelle: DDR Handbuch. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985: S. 579–580


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.