Interesse/Interessenübereinstimmung (1985)
Siehe auch:
- Interessen: 1979
Der Marxismus-Leninismus unterscheidet zwischen einem psychologischen und einem philosophischen bzw. soziologischen I.-Begriff.
1. I. im psychologischen Sinn. In der marxistisch-leninistischen Psychologie werden I. als „spezifische erkenntnismäßige Einstellungen zu den Gegenständen und Erscheinungen der Wirklichkeit“ definiert. Die I. veranlassen den einzelnen, sich „bewußt mit den Sachverhalten auseinanderzusetzen, auf die sie gerichtet sind … Sie sind deshalb von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der Persönlichkeit.“ (Wörterbuch der Psychologie, 3., neubearb. Aufl., Leipzig 1981, S. 293) Die Differenziertheit und Mannigfaltigkeit von I. gelten als Kennzeichen für den Grad der Entwicklung einer Persönlichkeit (Persönlichkeitstheorie, sozialistische). Inhalte und Gerichtetheit von I. werden nicht nur als psychisch, sondern wesentlich als gesellschaftlich bedingt begriffen: „Die I.-Richtungen entstehen in Abhängigkeit von verschiedenen gesellschaftlichen, ideologischen, pädagogischen, sozialen Bedingungen und den Bedingungen von Alters- und Geschlechtsgruppen sowie psychischen Bedingungen.“ Erziehung, Agitation und Propaganda, Schulung usw. haben u.a. zur Aufgabe, aktiv auf die Herausbildung der parteilich gewünschten I. Einfluß zu nehmen.
2. Philosophischer bzw. soziologischer I.-Begriff. Dem Begriff der gesellschaftlichen I. (ges. I.) kommt innerhalb des Marxismus-Leninismus besondere Bedeutung zu. Die ges. I. werden definiert als „Gesamtheit der durch die materiellen gesellschaftlichen Existenzbedingungen, besonders die Produktionsverhältnisse, bestimmten und geprägten Erfordernisse und Bestrebungen der Menschen (Klasse/Klassen, Klassenkampf, Gruppen, Individuen) einer ökonomischen Gesellschaftsformation, welche die Richtung ihrer gesamten gesellschaftlichen Tätigkeit und ihre Zielsetzungen bestimmen, indem sie zu Triebkräften und Motiven ihres Handelns werden“ (M. Buhr u.a. Kosing, Kleines Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie, 2., überarb. u. erw. Aufl., Berlin [Ost], 1974, S. 116). Entsprechend der marxistisch-leninistischen Geschichtsphilosophie gelten die ges. I. einerseits als „objektiv“ bestimmt, d.h. sie gehen „mit Notwendigkeit aus den jeweiligen materiellen Lebensbedingungen“ hervor und sind letztlich auf die Überwindung oder — im Falle des Sozialismus/[S. 666]Kommunismus — auf die Weiterentwicklung der jeweils gegebenen Gesellschaftsformation gerichtet. Andererseits haben I. aber auch eine „subjektive“ Seite, d.h. die I. müssen den einzelnen „als Bedürfnisse, Absichten, Wünsche, Zielvorstellungen bewußt werden“. Aus dieser widerspruchsvollen „Einheit von Objektivem und Subjektivem“ (Widerspruch) erklärt der Marxismus-Leninismus, daß Klassen, Schichten, Gruppen usw. ein „unzureichendes“ oder gar „falsches“ Bewußtsein von ihrer „objektiven Lage“ und damit ihren „objektiven I.“ haben können. Für die bürgerliche Gesellschaft — so behauptet der Marxismus-Leninismus — gelte z.B., daß die Bourgeoisie alles unternehme (insbes. durch ideologische Beeinflussung), um die Arbeiterklasse daran zu hindern, ein revolutionäres, auf Überwindung dieser Gesellschaftsformation gerichtetes „Klasseninteresse“ zu entwickeln. Aus dieser These rechtfertigen die marxistisch-leninistischen Parteien ihren Führungs- und Erziehungsanspruch gegenüber der Arbeiterklasse. Es sei Aufgabe der Partei, „der Arbeiterklasse ein richtiges, wissenschaftlich begründetes Bewußtsein von ihren grundlegenden I. zu vermitteln und sie zu befähigen, diese I. erfolgreich durchzusetzen“ (Kleines Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie, a.a.O.).
3. I.-Antagonismus und I.-Übereinstimmung. Alle dem Sozialismus/Kommunismus voraufgegangenen Gesellschaftsformationen (Gesellschaftsordnung; Periodisierung) seien von antagonistischen, d.h. unversöhnlichen Interessengegensätzen zwischen „Herrschenden“ und „Beherrschten“, zwischen „Ausbeutern“ und „Ausgebeuteten“ bestimmt gewesen. Derartige I.-Gegensätze können innerhalb der gegebenen Gesellschaftsformation nicht gelöst werden, sondern müssen „objektiv“ zu revolutionären Umwälzungen führen.
Für die neue politisch-soziale Ordnung des Sozialismus/Kommunismus nimmt der Marxismus-Leninismus in Anspruch, daß durch die Beseitigung des Privateigentums an Produktionsmitteln (Eigentum) die antagonistischen I.-Gegensätze verschwunden sind. Da alle sozialen Klassen und Schichten eine im wesentlichen gleiche Stellung zu den Produktionsmitteln hätten, gebe es über alle I.-Unterschiede hinweg allen gemeinsame I., eine grundsätzliche I.-Übereinstimmung (IÜ.) oder sogar eine I.-Identität. Dabei wird die tatsächliche Machtverteilung mit ihren durchaus ungleichen Konsequenzen für die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, die Machtkonzentration an der Spitze des politischen Systems jedoch nicht thematisiert. — Galt die grundsätzliche IÜ. bis in die 60er Jahre hinein in der DDR „als objektiv gegeben“, so daß nur „Uneinsichtige“ oder gar „Feinde“ demgegenüber Sonder.-I. formulieren konnten, wird die Situation nunmehr um einiges realistischer beurteilt: „Dabei ist die Übereinstimmung zwischen den gesellschaftlichen, kollektiven und persönlichen Interessen keine statische Erscheinung, sondern ein ständig zu vollziehender konfliktreicher Prozeß…“ (Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, 2., überarb. Aufl., Berlin [Ost] 1977, S. 672). Mit dieser Aussage wird zugleich das Fortbestehen besonderer I. anerkannt: „In ihnen finden sowohl die noch existierenden objektiv bedingten sozialen Unterschiede zwischen den Klassen, Schichten und sozialen Gruppen als auch die unterschiedlichen konkreten Existenzbedingungen der Betriebe, Kollektive, Organisationen, Vereinigungen und Institutionen ihren Ausdruck. Solche I. ergeben sich z.B. aus dem unterschiedlichen Reifegrad der beiden Formen des sozialistischen Eigentums, aus Unterschieden, die mit der aus dem Kapitalismus überkommenen Arbeitsteilung und Organisation der Arbeit zusammenhängen (Industrie — Landwirtschaft, Stadt — Land, körperliche — geistige Arbeit), aus dem unterschiedlichen Entwicklungsstand der Produktivkräfte in den verschiedenen Bereichen der Volkswirtschaft u.ä. Bedingungen. Wie die allgemeinen, so stehen auch die besonderen I. der Klassen, Schichten, sozialen Gruppen, Institutionen usw. nicht neben oder außerhalb der persönlichen I. der diesen Gruppierungen zugehörenden Individuen. Modifiziert durch die jeweils individuell-besonderen Lebensumstände und -bedingungen der Individuen, erscheinen sie vielmehr in deren persönlichen I. und machen deren wesentlichen sozialen Inhalt aus“ (Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, a.a.O., S. 316).
Daraus folgt für den Marxismus-Leninismus jedoch nicht, daß unter den gewandelten Eigentumsverhältnissen sich nunmehr das gesamtgesellschaftliche I. in einem Willensbildungsprozeß von unten nach oben herausbildet: „Aber auch nach der Beseitigung der Ausbeuterklassen, im Prozeß der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, vertritt und verwirklicht der sozialistische Staat kein Konglomerat von Einzel- und Gruppeninteressen und auch keinen sich aus den unterschiedlichen Interessen der werktätigen Klassen oder verschiedener sozialen Gruppen der Werktätigen ergebenden Mittelwert“ (Wolfgang Weichelt, Zur Realisierung der gesamtgesellschaftlichen Interessen durch die politische Organisation des Sozialismus, in: Staat und Recht, H. 4/1981, S. 290 ff.). Die Festlegung dessen, was jeweils gesamtgesellschaftliches I. sein soll, bleibt vielmehr unverändert Vorrecht der Partei bzw. der Parteiführung (Demokratischer Zentralismus), da nur ihr die Fähigkeit zugesprochen wird, über die wissenschaftlichen Einsichten zu verfügen, deren es nach marxistisch-leninistischer Ansicht bedarf, um die „Erfordernisse der gesetzmäßigen Entwicklung der Gesellschaft“ zu erkennen und in politische Strategien umzusetzen (Linie; Sozialistische Einheitspartei Deutschlands [SED]). Die von der Parteiführung festgelegten Ziele bestimmen damit aber zugleich, welche besonderen I. in welchem Maße berücksichtigt, welche Möglichkeiten der I.-Artikulation zulässig sind usw. Demokratie, Sozialistische; Massenorganisationen; Mitbestimmungs-, Mitgestaltungs-, Mitwirkungsrechte.
Fundstelle: DDR Handbuch. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985: S. 665–666
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